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Lusitania

Kulturgeschichte einer Katastrophe

AutorWilli Jasper
VerlagBeBra Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783839301227
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Am 7. Mai 1915 torpedierte ein deutsches U-boot den Passagierdampfer 'Lusitania', der von New York nach Liverpool unterwegs war. Binnen weniger Minuten versank das Schiff in den eisigen Fluten des Atlantiks und riss fast 1.200 Menschen in den Tod, darunter viele Kinder und Frauen. Mit dieser kaltblütig herbeigeführten Schiffskatastrophe bestätigten die Deutschen ihren Ruf als 'Barbaren' und provozierten die USA zum Eintritt in den Ersten Weltkrieg. Gestützt auf anschauliche Zeitzeugenberichte und umfangreiches Archivmaterial legt Willi Jasper erstmals eine spannend geschriebene Kulturgeschichte dieses welterschütternden Ereignisses und seiner Folgen vor.

Willi Jasper, geboren 1945 in Lavelsloh (Niedersachsen), war bis 2010 Professor für Germanistik und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literatur- und Kulturgeschichte (u.a. bei S. Fischer, Hanser und Propyläen), darunter Biografien über Ludwig Börne und Heinrich Mann. Jasper lebt und arbeitet als Publizist und Kulturwissenschaftler in Berlin.

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Leseprobe

Einleitung


Der Anblick des schroff in den Atlantik hineinragenden Felsens Old Head of Kinsale an der Südwestküste Irlands ist faszinierend. Die archaische Landschaft mit ihren Ruinen und dem weithin sichtbaren Leuchtturm als Wahrzeichen weckt Erinnerungen an die keltische Geschichte und ihre maritimen Mythen. Man glaubt aus dem Meeresrauschen und den Sphärenklängen des Windes uralte Gesänge herauszuhören. Selbst der mondäne amerikanische Golfclub, der hier seit einigen Jahren residiert, hat diese geheimnisvolle Atmosphäre nicht zerstören können. Seit über 2 000 Jahren ist der Old Head of Kinsale vor allem eine Aussichtsplattform für Küstenwachen und Landmarke für Seefahrer. Die Spitze der felsigen Halbinsel war vermutlich schon in vorchristlicher Zeit Standort eines Leuchtfeuers. Im 17. Jahrhundert übernahm ein einfaches Cottage mit offenem Kohlenfeuer auf dem Dach die Signalfunktion – und seit 1853 der elektrisch betriebene Leuchtturm mit seiner Feuerhöhe von 72 Metern. Doch nicht immer war dieser romantische Ort ein friedlicher und sicherer Wegweiser – er erinnert auch an furchtbare Schiffskatastrophen.

So fielen im September 1588 Tausende von spanischen Seesoldaten der Schlacht um England zum Opfer. Vor den Küsten Irlands und Schottlands verlor die spanische Armada fast die Hälfte ihrer Schiffe. Seeleute und Soldaten ertranken unter Deck oder kenterten mit ihren Landungsbooten. Andere sprangen über Bord und tauchten nie wieder auf. Im tobenden Meer klammerten sich Verzweifelte an Fässer und Balken. Aufgewirbeltes Treibgut zerschlug ihnen die Glieder und manchem Kapitän, Offizier oder katholischem Würdenträger wurde das Gewicht der am Leib getragenen Goldketten und Geldbeutel zum Verhängnis. Es waren weniger die englischen Kanonen, vielmehr ein gewaltiger Sturm mit turmhohen Wellen, der die schwerfälligen spanischen Dreimaster versenkte und Wracktrümmer und Leichen von der Bantry Bay bis zum Old Head of Kinsale spülte. Am Ufer hatten sich Einheimische und Soldaten der englischen Königin, die auch über Irland herrschte, versammelt. Einige tanzten vor Freude über den Untergang der Spanier, andere verfluchten die protestantische Macht.

In besonderem Maße aber sind die modernen Tragödien der beiden britischen Riesendampfer »Titanic« und »Lusitania« im historischen Bewusstsein der Menschen dieser Küstenregion verwurzelt. Für beide Schiffe sollte der Leuchtturm zu einem trügerischen Fanal werden – der Aufbruchshoffnung ebenso wie der Ankunftsfreude. Nicht nur Friedhöfe, Museen und Denkmäler erinnern an diese Schiffslegenden, sondern auch Touristenshops, Pubs, Restaurants und Hotels. Das Zentrum des Erinnerungskultes bildet die Hafenstadt Cobh (früher Queenstown) mit ihrem Museum zur Geschichte der irischen Diaspora (»Cobh Heritage Centre«), einem organisierten »Titanic-Trail«, dem monumentalen Ehrenmal für die Opfer der »Lusitania«-Katastrophe sowie mit den markierten Grabstätten auf dem »Clonmel Cemetery«.

Cobh war die letzte Station der »Titanic« vor ihrer schicksalhaften Atlantiküberquerung und wurde auch zum Friedhof für die Opfer der »Lusitania«. Von hier aus hat in den beiden letzten Jahrhunderten fast die Hälfte der insgesamt sechs Millionen irischen Emigranten ihre Heimat verlassen. Auch die »Titanic« hatte als Passagiere der dritten Klasse eine größere Gruppe von Auswanderern aufgenommen. Als das Schiff dann am 11. April 1912 den Leuchtturm von Old Head of Kinsale passierte, winkte man zum Abschied, ohne zu ahnen, dass nie wieder Land in Sicht kommen würde. Die »Titanic« sollte ihren Zielhafen New York nicht erreichen. Nach der Kollision mit einem Eisberg in der Nacht vom 14. zum 15. April versank das für »unsinkbar« erklärte Technik-Wunder nicht nur im fast 4 000 Meter tiefen, eiskalten Wasser vor Neufundland, sondern auch im kollektiven Unterbewusstsein der Zeitgenossen. Von den 2 207 Menschen, die an Bord waren, überlebten nur 712.

Anders als frühere Schiffskatastrophen, die kaum zur Mythenbildung taugten, wurde die »Titanic«-Tragödie zur modernen Menschheitsfabel. Auch Deutschland, Englands Hauptkonkurrent auf der Transatlantik-Route, zeigte sich betroffen. »Das größte Schiffsunglück der Welt trifft die ganze Menschheit«, schrieb das Hamburger Fremdenblatt – hoffte aber dennoch, dass die Menschheit sich »in ihrem prometheischen Drange durch keine Schicksalsschläge« vom »Glauben an den Fortschritt« und die »Bezwingung der Naturkräfte« zurückhalten lassen würde.

Drei Jahre später ereignete sich nur elf Seemeilen vor dem Old Head of Kinsale eine ähnlich bewegende Katastrophe. Sie traf den Passagierdampfer »Lusitania«, der sich auf der Fahrt von New York nach Liverpool befand. Auch er fuhr unter britischer Flagge und war – was Größe, Technik und Ausstattung betraf – mit der »Titanic« vergleichbar. Doch Vorgeschichte und Umstände des Untergangs der »Lusitania« waren andere und die Konsequenzen folgenreicher. 1915 befand sich die Welt im zweiten Kriegsjahr. Es ging längst nicht mehr nur um einen friedlichen technischen Wettbewerb zur »Bezwingung der Naturkräfte«, sondern um eine mörderische Konkurrenz sowohl in der Waffenproduktion als auch in der Effizienzsteigerung bei der Massenvernichtung von Menschen. Für die Durchbrechung der englischen Seeblockade waren die deutschen U-Boote zur wichtigsten und unheimlichsten Waffe des Reichsmarinechefs Alfred von Tirpitz geworden. Mit der Praktizierung des unbeschränkten U-Boot-Krieges wurden auch zivile Schiffe bedroht.

So kam es gegen Mittag des 7. Mai 1915 vor der irischen Küste zu jener schicksalsschweren Begegnung zwischen der »U-20« und der »Lusitania«. Ohne Vorwarnung gab der deutsche U-Boot-Kapitän den Feuerbefehl. Der Torpedo traf das Passagierschiff steuerbords, knapp hinter der Brücke, zwischen dem ersten und zweiten Schornstein. Wenig später ereignete sich eine zweite Explosion im Innern des Schiffs, der Ozeanriese geriet sofort in eine Schräglage und sank binnen 18 Minuten. Zum Vergleich: Die »Titanic« brauchte fast drei Stunden für ihren Untergang. Zum geordneten Herunterlassen der Rettungsboote blieb auf der sinkenden »Lusitania« kaum Zeit, eine unvorstellbare Panik brach aus. Während im chaotischen Gedränge einige Rettungsboote umstürzten und Menschen unter sich begruben, sprangen andere Passagiere ohne Schwimmwesten ins kalte Wasser. Der überlebende amerikanische Geschäftsmann Michael G. Byrne berichtete: »Ich wartete, bis das Wasser in gleicher Höhe mit dem Hauptdeck war, und sprang dann über Bord. Im Wasser war der Anblick von Frauen mit Kindern und Babys in ihren Armen fürchterlich. Die Luft war von Schreien erfüllt, und Mütter flehten Personen in den Booten an, ihre Babys zu übernehmen.« 1 198 Menschen, darunter 270 Frauen und Kleinkinder, versanken mit dem Schiff. Unter den Toten waren auch 128 amerikanische Staatsbürger.

Während die Menschen zu Tode stürzten, ertranken und die See sich langsam mit Leichen und Leichenteilen füllte, betrachtete der deutsche U-Boot-Kapitän die Szene durch sein Periskop. Als er genug gesehen hatte, ließ er abtauchen. Ein derartiges Geschehen, die kaltblütige Torpedierung eines großen Passagierdampfers ohne Vorwarnung, hatte es in diesem Krieg noch nicht gegeben. Dass der versenkte britische Dampfer den antiken Namen einer hispanischen Provinz trug, der an die Seeschlacht von 1588 erinnerte, ist in diesem Zusammenhang nicht ohne makabre historische Symbolik.

In Deutschland, wo man sich über den Untergang der »Titanic« noch schockiert gezeigt hatte, brach jetzt überwiegend Jubel aus. Kronprinz Wilhelm telegrafierte aus seinem Hauptquartier an den kaiserlichen Vater: »Hier große Freude über die Torpedierung der Lusitania … Je rücksichtsloser der U-Boot-Krieg geführt wird, desto schneller wird der Krieg beendet sein.« Auch viele deutsche Zeitungen brachten triumphierende Kommentare, so zum Beispiel die Westfälische Tageszeitung: »Endlich ist unseren U-Booten ein großer Fang gelungen … Wir Deutschen freuen uns von ganzem Herzen über den gelungenen Schlag und sehen dem allgemeinen Wutgeheul und Entrüstungsschrei kühl lächelnd entgegen … Keine Sentimentalität; Kampf bis aufs Messer mit dem gemeinen Krämervolk …!« Selbst Thomas Mann schloss sich dem schaurigen Jubel über den Untergang der »Lusitania« an.

Denkmal in Cobh zu Erinnerung an die Opfer der »Lusitania«-Katastrophe.

Demgegenüber wurde die Nachricht von der Versenkung der »Lusitania« von der Presse in Großbritannien, den USA und in anderen Krieg führenden oder neutralen Ländern mit Fassungslosigkeit aufgenommen. In den unterschiedlichsten politischen Lagern herrschte nicht nur maßlose Empörung über das ungeheure menschliche...

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