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Macht Glaube frei?

Eine Konfrontation des eigenen Gottesbildes mit der komplexen Psychologie C.G.Jungs

AutorAndreas Rieck
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl94 Seiten
ISBN9783640765997
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Theologie - Praktische Theologie, Note: 1,0, Eberhard-Karls-Universität Tübingen (Fakultät für Katholische Theologie), Veranstaltung: Praktische Theologie, Sprache: Deutsch, Abstract: 'Was bringt`s?' - so lautet die Frage, an der sich gegenwärtig der Wert einer Sache oder Handlung messen lassen muss. 'Effizienz' ist das große Stichwort, das alle Lebensbereiche durchdringt und an der sich letztendlich auch der Wert des Einzelnen misst. Wir alle haben diese Maxime mehr oder weniger internalisiert und ergeben uns der Illusion, eines Tages vollkommen den Ansprüchen zu genügen! Und Gott? Welche Rolle spielt Gott in diesem Kampf? Befreit er uns aus dem Konflikt zwischen Anspruch und Wirklichkeit? Haben unsere Schwächen und unser Scheitern wenigstens in unserer Beziehung zu ihm Berechtigung? Bei vielen - so scheint es - ist dem nicht so. Im Gegenteil: Viele Christen tragen ein Gottesbild in sich, das sie in ihrer Lebensfreude zusätzlich einschränkt. Sie befinden sich in der ausweglosen Situation, es nicht nur ihrem Umfeld, sondern auch ihrem Gott recht machen zu müssen und dabei zu erfahren, dass sie an ihren Idealen immer wieder scheitern. Die Bibel lesen sie als eine Ansammlung von Anforderungen, Geboten und Verboten. Insgeheim kann es sein, dass sie erkennen, dass dieser Weg nicht in die Weite und in das von Jesus verheißene 'Leben in Fülle' führt. Die - oft unbewusste - Angst vor der Strafe Gottes und vor dem Misslingen ihres Lebens hält sie jedoch davor ab, den Kurs zu ändern und gegen die Stimme des inneren Anklägers zu handeln. Die Konsequenz ist, dass sie von diesem Gott loskommen wollen, es aber nicht schaffen, weil die Furcht vor seiner 'gerechten' Strafe zu groß ist. Dadurch verstärken sich die Schuldgefühle, die einhergehen mit dem Bewusstsein, diesen Gott nicht zu 'lieben' und deshalb zusätzlich versagt zu haben. Die Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie - ausgehend von C.G. Jung und seiner Lehre der Individuation - ein 'Leben in Fülle' zu erreichen ist. Den Weg der ganzheitlichen Selbstwerdung mit möglichen Hindernissen auf demselben werden in vorliegender Arbeit untersucht und dargelegt. Das Anliegen dieser Arbeit ist dabei ein grundlegend theologisches: es geht um die Frage nach gelingendem Leben - einem 'Leben in Fülle'. Im ersten, psychoanalytischen Teil, wird C. G. Jungs Theorie der Individuation beleuchtet. Im zweiten Teil erfolgt eine Konkretisierung der vorangegangenen Ausführungen. Aus Sicht der Entwicklungs- und Pastoralpsychologie wird die Frage der Entstehung (dämonsicher) Gottesbilder und deren unbewusster Auswirkung auf die Selbstwerdung beleuchtet.

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Leseprobe

Teil II. Der Einfluss dämonischer Gottesbilder auf die Individuation


 

1. C. G. Jungs Kritik an der christlichen Kultur


 

„Die christliche Kultur hat sich in erschreckendem Maße als hohl erwiesen: sie ist äußerliche Politur; der innere Mensch ist davon unberührt geblieben. Der Zustand der Seele entspricht nicht dem äußerlich Geglaubten. […] Ja, es steht äußerlich alles da in Bild und Wort, in Kirche und Bibel. Aber es steht nicht innen. Im Innern regieren archaische Götter, wie nur je; das heißt, die innere Entsprechung des äußeren Gottesbildes ist aus Mangel an seelischer Kultur unentwickelt und darum im Heidentum steckengeblieben. […] Ein Christus ist ihnen nur außen begegnet, aber nie aus der eigenen Seele entgegengetreten; darum herrscht dort noch finsteres Heidentum, welches zum Teil mit nicht mehr zu leugnender Deutlichkeit, zum Teil in allzu fadenscheiniger Verhüllung die sogenannte christliche Kulturwelt überschwemmt.“[155]

 

„Ich rede […] nicht vom innersten und besten Verstande des Christentums, sondern von der Oberflächlichkeit und dem fatalen Mißverstehen, das allen vor Augen liegt. Die Forderung der ‚imitatio’ Christi, nämlich dem Vorbild nachzufolgen und diesem ähnlich zu werden, sollte die Entwicklung und Erhöhung des eigenen Menschen bezwecken, wird aber […] zu einem außenstehenden Kultobjekt gemacht, welches gerade durch die Verehrung daran verhindert wird, in die Tiefe der Seele einzugreifen und letztere zu jener dem Vorbild entsprechenden Ganzheit umzuschaffen.“[156]

 

Der Vorwurf Jungs gegen das gelebte und verkündete Christentum ist sicherlich in seiner Pauschalisierung polemisch und ließe sich durch zahlreiche Gegenbeispiele gelebten und gelungenen Glaubens entschärfen. Und dennoch scheint mir Jung einen Nerv des realen Christentums zu treffen. Ebenso, wenn er die Meinung vertritt, dass die Seele im westlichen Christentum tendenziell dadurch eine Abwertung erfährt, dass Gott als der Äußere, dem Menschen Gegenüberstehende gesehen wird und nicht als der in und an der Seele jedes Menschen Handelnde: „Es muss noch verstanden werden, daß das ‚mysterium magnum’ nicht nur an sich vorhanden, sondern auch in der menschlichen Seele begründet ist.“[157] Demzufolge liegt das Ziel der religiösen Erziehung für Jung darin, das große Geheimnis der Existenz Gottes als Erfahrung in, mit und durch die eigene Seele zu deuten. Diese Aufwertung des Seelischen in der Gottesbeziehung gegenüber einem verobjektivierenden Verständnis, welches die eigenen Erfahrungen abwertet, ist im Dienste der Selbstwerdung hin zur Ganzheit zu sehen. Es gilt, einen Zusammenhang zwischen den heiligen Figuren und christlichen Dogmen und der eigenen Seele herzustellen und zu entdecken, inwiefern die entsprechenden Bilder im eigenen Unbewussten schlummern.[158]

 

Im Folgenden soll es nun um eine Konkretion des bisher Untersuchten gehen. Es soll aus religionspsychologischer Sicht die psychische Entstehung und Wirkung von Gottesbildern untersucht werden. Durch Verletzungen der Seele in frühester Kindheit enthalten diese immer auch destruktive und dämonische Anteile, die im Unbewussten wirken und das psychische Wachstum des Menschen in entscheidendem Maße beeinträchtigen können. Die Botschaft des Christentums ist die des liebenden, barmherzigen, Mensch gewordenen und letztlich rettenden Gottes, der seine Treue auch in Zeiten der Dunkelheit und der Not zusagt („Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht.“, Hebr 13,5). Daher gilt es, die dämonischen Anteile im Gottesbild zu entlarven und zu bereinigen, um dem Ziel der Selbstwerdung näher zu kommen.

 

Als Verfechter des Christentums könnte man nun einwenden, dass es im Christentum nicht um Selbstwerdung gehe, sondern darum, Gott und den Nächsten zu lieben und sich selbst dabei geringer zu achten. Doch lässt sich das Gebot der Gottesliebe, das Jesus aufgreift („Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“, Dtn 6,5 und Mk 12,30) nur im Horizont der eigenen Erfahrungen mit diesem Gott und in der Begegnung Gottes in der eigenen Seele verstehen. Demzufolge gilt es, sich den Regungen der Seele zuzuwenden, um Gottes Wirken wahrzunehmen. Ansonsten ist und bleibt der christliche Glaube äußerlich und hohl. Des Weiteren hat jede kollektive Struktur, die sich in Ungerechtigkeit, Unterdrückung oder Krieg bzw. in Frieden und Gerechtigkeit äußert, ihren Ursprung in der Psyche und Gottesbeziehung des Einzelnen.

 

2. Die Entstehung von Gottesbildern


 

„Vom jeweiligen Gottesbild hängt ab, wie einer sein Leben, seine Probleme, seine Leiderfahrungen und seine Erfolge deutet.“[159]

 

2.1 Die pränatale Phase

 

Religionspsychologische Forschungen ergeben, dass Gottesbilder schon in den ersten Jahren des Lebens entstehen. Die pränatale Psychologie weist sogar darauf hin, dass bereits im Mutterleib wesentliche Erfahrungen gemacht werden und Grundeinstellungen entstehen. Sie geht davon aus, dass pränatal eine komplexe und intensive Interaktion zwischen Mutter und Kind stattfindet, und zwar nicht nur physiologisch, sondern auch psychisch. Das Ungeborene nimmt Teil an der Gefühlswelt seiner Mutter über die Veränderungen der Reizmuster. Somit können frühe Prägungen im Bereich der Vorlieben und Abneigungen schon im Mutterleib entstehen. Gerhard Rottmann hat 141 Frauen während der Schwangerschaft und bei der Geburt beobachtet. Er kam zu dem Schluss, dass die Einstellung der Mutter zu ihrem Kind den denkbar größten Einfluss auf seine Entwicklung hat. Mütter, die ihre ungeborenen Kinder bewusst oder unbewusst bejahten, hatten die leichtesten Schwangerschaften, die komplikationslosesten Entbindungen und die physisch und emotional gesündesten Kinder.[160] Deshalb ist eine positive oder negative Einstellung der Mutter gegenüber ihrer Schwangerschaft bedeutsam für die Entwicklung des Kindes und auch – wie sich noch zeigen wird – seines Gottesbildes.[161]

 

Gerhard Amendt nennt als Beispiel einer psychosomatischen Störung nach einer unerwünschten Schwangerschaft das „crying-child-syndrom“ (das Schreiende-Kind-Syndrom). Das Kind hat Phasen des Schreiens und Phasen der Apathie und in keiner dieser Phasen ist es durch die Stimme der Mutter zu beruhigen. Von ihrer inneren Haltung her kann die Mutter dem Kind die Geborgenheit und das Gefühl, in der Welt willkommen zu sein, nicht geben. Die ambivalenten Gefühlsreaktionen der Mutter, die sich bspw. in Überfürsorge und Behütung zeigen und dann in Strenge und Bestrafung, irritieren das Kind in seinem Selbst- und Fremdvertrauen.[162]

 

Da die menschliche Erfahrung konstitutiv für die Entwicklung ist, sind Mutter und Vater sowie das sozio-kulturelle Umfeld bei der Vermittlung des Gottesbildes von großer Bedeutung.[163] Wenn allen Gottesvorstellungen die Dimension des Omnipotenten und Allumgreifenden zugrunde liegen, dann macht das Kind schon in der pränatalen Phase die Erfahrung der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ in der Beziehung zur Mutter. Sie ist es, die über das Leben und den Tod des Kindes bestimmt, die es innerlich annehmen oder ablehnen kann. „Wenn Religiosität im Bezogensein des Menschen auf das Umgreifende, im Ergriffensein vom Unbedingten besteht, dann kann die Mutter tatsächlich als der ‚erste Gott des Kindes’ oder weniger missverständlich als erstes ‚Gottessymbol’ verstanden werden.“[164]

 

Parallel dazu kann auch der Einfluss des Vaters gesehen werden, denn auch er kann schon eine pränatale Beziehung zu seinem Kind eingehen. Direkt durch seine Stimme, indirekt durch das Verhältnis, das die werdende Mutter zu ihm hat. „So wird eine schlechte, konfliktreiche Beziehung als eine der wichtigsten Ursachen für psychische und physische Schädigungen im Mutterleib gesehen.“[165]

 

2.2 Die frühkindliche Zeit

 

2.2.1 Die Phase des Urvertrauens oder: „Ich bin, was man mir gibt.“

 

In der Phase, die Erik Erikson der Bildung des Urvertrauens zugeordnet hat (etwa 1. Lebensjahr), erlebt sich das Kind noch in undifferenzierter symbiotischer Einheit mit der Mutter. In ihrer Nähe macht das Kind die Kernerfahrung von Sicherheit, Zuversicht und vom Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens.[166] Diese Phase wird auch orale Phase genannt, weil das Kind in den ersten Monaten zunächst lernt, sich durch Saugen an der Brust der Mutter zu ernähren. Falls das Stillen bis in das Beiß-Stadium fortgesetzt wird, muss das Kind lernen, zu saugen ohne zu beißen, da die Mutter dem Kind sonst die Brust aus Schmerz oder Ärger entzieht. Ein Ereignis, dass sich, laut Erik Erikson, im Unbewussten einnisten kann: „Unsere klinische Arbeit läßt darauf schließen, daß sich hier in der Frühgeschichte der Persönlichkeit ein grundsätzliches Verlustgefühl einschleichen kann, das den allgemeinen Eindruck hinterläßt, als sei irgendwann einmal die Einheit mit der mütterlichen Matrix zerstört worden.“[167] Erikson geht davon aus, dass dieses Stadium im Seelenleben ein Gefühl der Trennung...

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