Vorwort: Ein großes Puzzlespiel
Die täglichen Berichte aus Politik und Wirtschaft wirken oft wie zusammenhangslose Schnipsel, die in ihrer Bedeutung nur schwer einzuschätzen sind. Zum einen fehlen uns oft der tiefere Hintergrund und die Details zu dieser oder jener Meldung, vor allem aber fehlen uns die Anschlussstücke zu diesen Puzzleteilen. Wenn wir die Schachtel eines Puzzlespiels öffnen und ein einzelnes Stück herausnehmen, sehen wir zwar seine Umrisse und ein irgendwie aufgedrucktes Muster, können aber nichts damit anfangen, egal wie intensiv wir dieses eine Teil studieren. Erst wenn wir weitere Teile in dem großen Haufen finden, die sich mit dem ersten Stück zusammenfügen lassen, ergibt sich etwas mehr Sinn. Je mehr zusammenhängende Teile wir im Laufe der Zeit finden und in der richtigen Anordnung zusammenfügen können, desto eher erkennen wir das gesamte Bild.
Die Welt aus Politik und Wirtschaft müssen wir uns als ein solches Puzzlespiel mit nahezu unendlich vielen Teilen vorstellen. Zumindest sind es so viele Teile, dass niemand im Laufe seines Lebens in der Lage sein wird, sie alle zusammenzutragen, um das eine, einzig korrekte und umfassende Bild zu erkennen. Dennoch hängt unser Verständnis maßgeblich davon ab, dass wir zumindest die wichtigsten und für uns aktuellsten Elemente erkennen, verstehen und in einen Zusammenhang bringen, mit dem wir etwas anfangen können.
Daher ist dieses Buch der Versuch, dem geneigten Leser meine Erfahrungen und Sichtweisen auf die Zusammenhänge und Hintergründe dessen näherzubringen, was aktuell und in naher Zukunft in jenen Bereichen von Politik und Wirtschaft geschieht, die direkten Einfluss auf unser derzeitiges und künftiges Leben haben.
Erst im Zusammenhang der einzelnen Puzzleteile ergibt sich ein Gesamtbild unserer Umgebung. Und nur wer dieses Gesamtbild erkennt, ist in der Lage, die Dinge korrekt zu beurteilen. Nur wer die gegenwärtige Situation und die zukünftige Entwicklung richtig einschätzt, vermag sich darauf einzustellen und den für sich richtigen Weg einzuschlagen.
Die meisten Sachbücher beschäftigen sich auf vielen Seiten sehr intensiv mit einem einzigen Puzzlestück und beschreiben dieses von allen Seiten und in allen Details. In der Folge hat man dann sehr gute Kenntnis von diesem einen Stück, aber es hilft nicht weiter, wenn man nicht auch die anderen Puzzlestücke kennt. Entsprechend müsste man eine Unzahl an Büchern lesen, Gespräche führen und Nachforschungen anstellen, um jedes einzelne Teil detailliert zu kennen und dann mit seinen Nachbarelementen zusammenzufügen – eine Lebensaufgabe. Genau dies war ein wesentlicher Teil meiner Tätigkeit in den mehr als 25 Jahren, die ich inzwischen in dieser Welt aus Kapital und Politik verbringen durfte. Nur wer einen Zusammenhang umfangreich und im Detail kennt, ist in der Lage, diesen auch auf die wichtigsten Elemente hin zusammenzufassen.
So könnte ich Ihnen zahlreiche Puzzlestücke von allen Seiten umfangreich beschreiben. Dann hätten Sie am Ende des Buches eine Handvoll Teile kennengelernt – und noch immer würde Ihnen der Blick auf das komplette Bild verschlossen bleiben. Ich muss mich also entscheiden, ob ich wenige Teile intensiv oder möglichst viele Teile knapp, aber dennoch mit den wichtigsten Informationen beschreiben will. Ich habe mich für Letzteres entschieden: Ihnen lieber einen wesentlichen Teil des Gesamtbildes vorzustellen, wie es sich für mich aus den mir vorliegenden Informationen ergibt. Albert Einstein sagte einmal sinngemäß: »Wenn man etwas nicht einfach erklären kann, hat man es nicht verstanden.«
Manches neue Puzzleteil mag irritierend wirken, wenn es nicht sofort zu unseren bisher als sicher geglaubten Zusammenhängen passt. Doch wenn man bereit ist, die eigenen bisherigen Sichtweisen stets aufs Neue zu überprüfen und infrage zu stellen und bereits zusammengesetzte Elemente zu trennen, wenn es neue Erkenntnisse gibt, die mehr Sinn ergeben, dann hat man die Chance, am Gesamtbild weiterzubauen. Wer dagegen einst falsch zusammengesetzte Teile nie mehr infrage stellt, wird jedes neue Element ablehnen, nur weil es nicht in das bisherige Weltbild passt.
Als zu Zeiten der Renaissance ein gewisser Nikolaus Kopernikus mit seinen Forschungen das neue Bild des Universums entwarf, in dem sich die Erde um die Sonne bewegte, statt umgekehrt, traf ihn Hohn und Verachtung. Was war passiert? Er hatte das bestehende Weltbild der durchaus intelligenten Menschen seiner Zeit, das Weltbild der Obrigkeit und damit zugleich einen wesentlichen Machtfaktor zur Diskussion gestellt. Die einen konnten ihm gar nicht recht geben, da ihre Macht davon abhing, dass alles beim Alten blieb; die anderen wollten ihm nicht folgen, weil sie nicht bereit waren, ihre bisherige Sichtweise infrage zu stellen und sie mit aufkommenden neuen Ideen und Sichtweisen immer wieder abzugleichen. Sie verteidigten ihre Sicht auf die Dinge um jeden Preis.
Etwas Ähnliches passiert auch heute noch in allen Bereichen des Lebens: Ein neuer Mitarbeiter bringt neue Ideen in den verkrusteten Arbeitsablauf eines Betriebes, und die häufigste Reaktion ist: »So ein Blödsinn, das haben wir doch schon immer so gemacht.« Neue Erkenntnisse beweisen, dass sicher geglaubte politische Zusammenhänge der Vergangenheit in einem völlig anderen Licht gesehen werden müssen, und die häufigste Reaktion ist eine Ablehnung dieser »Verschwörungstheorien«. Dabei geht es gar nicht um die Prüfung und Abwägung von Argumenten, sondern um den verbissenen Versuch, das eigene bislang als sicher angenommene Weltbild nicht infrage stellen zu müssen.
In meinem letzten Buch, Showdown. Der Kampf um Europa und unser Geld (erschienen 2013), habe ich mich intensiv mit den Erdgasvorkommen des östlichen Mittelmeerraums beschäftigt. Das Buch polarisierte in von mir ungeahnter Weise. Einerseits wurde es ein SPIEGEL-Bestseller, und ich bekam großen Zuspruch von vielen Lesern, andererseits erbitterte Gegenwehr – meist von Journalisten bekannter Häuser, die ihr Weltbild gefährdet sahen und daher für sich ausschlossen, dass meine Sicht korrekt sein könnte. Ich hatte alle Behauptungen mit nachprüfbaren Primärquellen unterlegt. Ich hatte mit den Chefgeologen des Griechischen Geologischen Institutes gesprochen, mit der ehemaligen griechischen Außenministerin, die mir erklärte, dass nach ihren Kenntnissen Griechenland auf ähnlich großen Gasvorkommen sitze wie Libyen. Ich hatte die geologischen Gutachten und sogar die Werteinschätzungen in dreistelliger Milliardenhöhe durch die Deutsche Bank, London und die Royal Bank of Scotland herangezogen. Dennoch sagte ein Journalist eines namhaften Magazins zu mir: »Ihre Quellen interessieren mich nicht, ich halte das für Blödsinn.« Der Moderator eines gleichfalls bekannten Fernsehformates kommentierte meine oben angeführten Quellen mit dem inzwischen legendären Satz: »Die können Ihnen alle ja viel erzählen, sind Sie denn selbst hinuntergetaucht und haben das überprüft!?« Das sind die Momente, an denen man sich in die schwierigen Zeiten der Aufklärung zurückversetzt fühlt.
Inzwischen ist die Tatsache, dass es im östlichen Mittelmeerraum riesige Gasfelder gibt, Allgemeinwissen:
Handelsblatt 2013: »Schatzinsel Zypern«1 – Spiegel 2018: »Gas im Mittelmeer«2 – Reuters 2018: «Total, Edison get Greek go-ahead for oil and gas exploration«.3
Vor wenigen Tagen – im Frühjahr 2018 – erhielt ich folgende Zuschrift eines Lesers, die ich mit seinem Einverständnis hier wiedergeben darf: »Herr Müller. Ich musste die letzten Tage oft an Sie denken! Ich arbeite bei Siemens, Gasturbinen. Wissen Sie, womit unsere ca. 15 Gasturbinen in den israelischen Kraftwerken laufen? Mit dem Gas aus dem Gasfeld hier im Mittelmeer, für welches Sie als ›Verschwörungstheoretiker‹ verspottet wurden! Unser Projektleiter erzählte gestern beim Essen auch davon, wie gut die Gasqualität ist und wie super unsere Turbinen hier laufen! Die Verschwörungstheorie von gestern ist die Nachricht von morgen. Liebe Grüße aus Haifa, Israel.«
Im Mai 2018 gab der Vorsitzende der Griechischen Gesellschaft zur Verwaltung Fossiler Brennstoffe, Jannis Basias bekannt, dass unter der Meeresoberfläche südlich von Kreta so viel Erdgas lagere, dass Griechenland bis zu 600 Milliarden Dollar innerhalb von 25 Jahren erwirtschaften könne.4
Dennoch habe ich großes Verständnis für die kritischen Kommentare von damals wie heute. Neue Erkenntnisse und Sichtweisen, die der eigenen bisherigen Überzeugung widersprechen, sind für die meisten Menschen schwer zu glauben und verursachen ihnen großes Unbehagen. Dann gehen sie nachvollziehbarerweise den für sie angenehmeren Weg, die neuen Aspekte abzulehnen, um ihr bisheriges Bild nicht korrigieren zu müssen. Sie empfinden das in der Regel als Fehlereingeständnis. Etwas, das einem unangenehm ist. Es ist, als würde man im Beruf einen Fehler machen und sich die Situation dann irgendwie so zurechtargumentieren, dass man ja doch irgendwie richtig gehandelt habe.
Dabei ist das gar nicht nötig. Es ist doch alles vollkommen normal. Das eigene Weltbild – auch meines – kann gar nicht hundertprozentig korrekt sein. Es wäre ein Zufall wie ein Lottogewinn, wenn die eigene Weltsicht der absoluten Wahrheit entspräche. Es gibt einfach zu viele Elemente, zu viele Zusammenhänge. Ich habe diese Einsicht für mich schon vor langer Zeit gewonnen und stelle meine Sichtweise immer wieder selbst infrage. Ich freue mich natürlich, wenn...