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E-Book

Madame Lotti

Im Slum von Abidjan zählt nur die Liebe

AutorGabriella Baumann-von Arx
VerlagWörterseh Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783037635247
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Das Buch 'Lotti, La Blanche - Eine Schweizerin in den Elendsvierteln von Abidjan', das im Werd-Verlag erschienen ist, wurde im Nu zu einem Bestseller. Und weil sich die Leserschaft in zahlreichen Briefen und Mails immer wieder danach erkundigte, wie es Lotti ergehe, begab sich Gabriella Baumann-von Arx ein weiteres Mal an die Elfenbeinküste, um vor Ort noch mehr über die Schweizerin zu erfahren, die sich in Westafrika der Ärmsten der Armen annimmt. Aus vielen, langen Geprächen entstand das zweite Buch über Lotti Latrous, das unter dem Titel 'Madame Lotti - Im Slum von Abidjan zählt nur die Liebe' bereits über 30'000 Mal verkauft wurde. 'Madame Lotti' unterscheidet sich vom ersten Buch 'Lotti, La Blanche' vor allem dadurch, dass es sehr viel intensiver die Fragen um Sterben und Tod thematisiert. Außerdem lässt die Autorin diesmal auch Lotti Latrous' Mann zu Wort kommen, den sie in Kairo besuchte.

Gabriella Baumann-von Arx, *1961, ging es in ihren journalistischen Texten immer um Menschen und deren Geschichten. Bald war ihr die Länge eines Zeitungsartikels zu kurz für all die Facetten, die sie in ihre Biografien einarbeiten wollte, und so begann sie, Bücher zu schreiben. Bücher über außergewöhnliche Menschen, deren Geschichten beweisen, dass im Leben vieles möglich ist, wenn man den Glauben an sich und den an die Machbarkeit der Dinge nicht verliert. Die Autorin lebt in der Nähe von Zürich und in Vals.

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Leseprobe

Freitag, 5. März 2004

Kurz nach zwei Uhr nachmittags erreicht mich über den Wolken eine Durchsage, die mich zutiefst beunruhigt: «Meine Damen und Herren, es tut mir Leid, aber wir werden nach Paris zurückkehren. Das Wetter in Abidjan ist so schlecht, dass ein Weiterflug keinen Sinn hat. Um unser Landegewicht zu erreichen, müssen wir Kerosin ablassen. Wenn Sie zum Fenster hinausschauen, sehen Sie dieses als weissen Strahl aus dem Flügel schiessen. Wir bitten Sie um Verständnis. Danke.»

Wie bitte? Zurückkehren? Nach einer halben Stunde Flug? Wegen schlechten Wetters in Abidjan, das noch mehr als fünf Stunden entfernt ist? Nie im Leben! Ich weiss sofort, der Kapitän sagt nicht die Wahrheit, bin überzeugt, die Boeing 777-200 wird vom Himmel stürzen. Und dies in Kürze. Die nackte Angst schleicht sich von meinem Rücken her in meinen Bauch. Verknotet sich im Magen. Wird Kälte. Kälte, die langsam, aber stetig Richtung Herz und von dort über die Halswirbel zum Kopf kriecht, wo sie über mein Gehirn zur Schädeldecke hochschleicht und sich unter den Haarwurzeln festkrallt. Beine und Füsse sind gefühllos.

Draussen vor dem Fenster schiesst ein Strahl Kerosin in einer messerscharfen weissen Linie in den blauen Himmel, zerschneidet diesen in ein Unten und Oben. Vorher und Nachher. Dunkel und Hell. Himmel und Hölle. Leben und Sterben. Jetzt? Wenn mir ein letzter Wunsch in Erfüllung gehen könnte, dann dieser: dass meine Liebsten mich nicht für meinen Tod verantwortlich machen. Hinterbliebene stellen oft ähnliche Fragen: Warum musste sie auch dort hinfliegen? Warum musste er auch so viel rauchen? Warum konnte er nicht aufs Motorradfahren verzichten? Fragen, die – oft unausgesprochen – in einen einzigen Satz münden: «Das musste ja so kommen!» Muss es nicht! Es kommt einfach, wenn es kommt. Man kann auch im Zug verunglücken. Auch ein Nichtraucher stirbt an Krebs. Auch Autofahrer und Fussgänger verunfallen. Der Tod gehört zum Leben. Und – die Stunde des Gehens ist schon in der Stunde des Kommens definiert. Wenn es Zeit ist, ist es Zeit.

So zumindest hat es Lotti immer gesagt, als ich sie im Juni 2003 persönlich kennen lernte. Ich landete an einem Freitag, dem dreizehnten, zum ersten Mal in Abidjan, der Wirtschaftsmetropole der Elfenbeinküste, in Westafrika. Noch ahnte ich nicht, wie diese Reise mein Leben beeinflussen würde.

Kurz bevor ich damals den Flug nach Hause antrat, löste ein grosser afrikanischer Junge, gut gekleidet, mit weiten kurzen Hosen, einem blütenweissen Polo-Shirt und einer Baseballmütze, in der Abflughalle des Flughafens von Abidjan die ganze Verzweiflung aus, die sich in den Tagen davor aufgestaut hatte. Das heisst, eigentlich war nicht er es, sondern seine Sportschuhe, die mir die Tränen in die Augen trieben. Nikes, hoch und weiss und nigelnagelneu. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass die Füsse des kleinen Emanuel, falls er überlebte, was damals mehr als fraglich war, nie in nigelnagelneuen Schuhen stecken würden.

Vier Tage später erschütterte mich, in der Innenstadt von Zürich, ein mit Blaulicht und eingeschaltetem Martinshorn vorbeirasendes Krankenauto. Oder vielmehr die Tatsache, dass die Welt bei uns – um ein Menschenleben zu retten – für ein paar Sekunden stillsteht. Autos halten bei Grün, fahren zur Seite, machen Platz. Strassenbahnen bleiben, wo sie sind. Fussgänger halten inne.

Afrika hat mich gelehrt, dass es auf dieser Welt Menschen gibt, die nie auf ein Krankenauto hoffen können, das sie – mit Blaulicht und Sirenengeheul – in ein hochmodernes Krankenhaus bringt. In Schwarzafrika, so wird der Teil des afrikanischen Kontinents genannt, der sich südlich der Sahara befindet, kann man noch so schwer verletzt oder sterbenskrank in einem Strassengraben oder vor einem Nachtclub liegen, kann man ein noch so kleines Kind sein, Hilfe zu bekommen, ist ganz einfach unerschwinglich.

Meine Erlebnisse in Adjouffou beeinflussen mein Leben insofern, als ich versuche, den Moment zu leben. Nicht das Morgen, nicht das Gestern. Auch nicht das Heute. Es ist das Jetzt. Ich hatte gelernt, dass Zufriedenheit wieder und wieder aus der Fähigkeit geboren wird, den Augenblick zu erfassen. Die Blume am Wegrand zu sehen, den Vogel im Baum, das lachende Kind. Die Zartheit einer Berührung wahrzunehmen, die wunderbare Frische eines tiefen Schlucks aus einer Bergquelle, die wärmende Sonne auf nackter Haut. Das Prasseln des Regens zu hören, die Musik eines im Wind wogenden Weizenfeldes, die absolute Stille, die uns manchmal, für Sekundenbruchteile, umgeben kann.

Mit Lotti hatte ich – als sie zur Lancierung des ersten Buches in die Schweiz kam – wunderbare solche Momente. Augenblicke, die uns zu Freundinnen machten. Als ich ihr beim Abschied sagte, ich würde bestimmt wieder kommen, irgendwann, meinte sie: «Irgendwann? Was ist mit dem Moment? Komm bald!»

Und so fliege ich heute – bereits zum dritten Mal – von Paris nach Abidjan. In Gedanken spaziere ich vom Ambulatorium «Centre Espoir Un», in welchem in ausrangierten Schiffscontainern Woche für Woche Hunderte von Menschen gegen Malaria, Tuberkulose, chronischen Durchfall und all die vielen anderen Krankheiten Afrikas behandelt werden, zum Sterbespital hinunter. Zum «Centre Espoir d’Eux», zum zweiten Zentrum der Hoffnung, bei dessen Namen Lotti sich ein Wortspiel erlaubte. Das französische «deux» für zwei bedeutet, wenn man es «d’Eux» schreibt, «für sie». Für sie, die Aidskranken.

Viele dieser Patienten können dort von Lotti und ihren Mitarbeitern, die Unermessliches leisten, aufgepäppelt werden und wieder nach Hause gehen. Es ist allerdings bloss eine Frage der Zeit, bis sie abermals vor dem Tor stehen. Völlig entkräftet, weil ihnen zu Hause das proteinreiche Essen fehlt, das sie bei Lotti bekommen.

Das Ambulatorium eröffnete Lotti Latrous am 1.Februar 1999 mit Unterstützung ihres Mannes Aziz, der ihr beim Aufbau eine unendlich grosse Hilfe war und der damals für Nestlé Abidjan die Direktorenstelle innehatte. Knappe vier Jahre später, am 2.September 2002, eröffnete Lotti Latrous das Sterbespital. Bald wird sie ihr drittes Projekt der Hoffnung, «Centre Espoir Trois», verwirklichen, das Mütter- und Kinderheim.

Eine Erfolgsstory sondergleichen, wenn man bedenkt, mit wie wenig Mitteln Lotti all dies aus dem Boden stampfte. Aber jede Geschichte hat zwei Seiten.

Niemand hatte bei der Eröffnung des Ambulatoriums im Februar 1999 geahnt, dass Aziz von seiner Firma exakt in diesem Monat Bescheid bekommen würde, dass man ihn in Kairo brauchte. Und niemand konnte auch nur ansatzweise ermessen, was dies für die Familie Latrous mit ihren drei Kindern bedeuten würde. Lotti, die in Abidjan anfänglich alles andere als glücklich gewesen war und immer davon geträumt, oft darum gebeten hatte, Nestlé möge Aziz zurück nach Kairo holen, wo er vor Abidjan gearbeitet hatte, Lotti erkannte schnell, dass es zu einer Zerreissprobe kommen würde. Dass sie sich schliesslich – nach langem, zähem Kampf mit sich selbst – dazu entschloss, nicht der Familie zu folgen, sondern im Slum von Adjouffou zu bleiben, war in erster Linie das Verdienst ihres Mannes. Er, Aziz Latrous, liebt seine Frau so sehr, dass er sie ziehen liess. Er war es, der die Kinder davon überzeugte, dass ihre Mutter nicht die Familie verlassen, sondern einer Berufung nachgehen wollte. Er war es, der die Familie zusammenhielt. Das erzählte mir Lotti. Als ich sie damals fragte: «Lotti, hättest du etwas dagegen, wenn ich Aziz in Kairo besuche, ihn näher kennen lernen und mir seine Seite der gemeinsamen Geschichte anhören würde?», war die Antwort: «Das entscheidet er allein – frag ihn.»

Ich lehne mich in meinem Sitz zurück und denke an das, was kommt: eine gute Woche Adjouffou, eine Woche mit Emanuel, dem Kleinen, dessen Mutter bei Lotti gestorben ist. Eine Woche mit Adelaide, der Breimutter, die Witwe ist und die mit dem Geld, das sie bei Lotti verdient, ihre sieben Kinder durchbringt. Eine Woche mit Monsieur Konaté, der weder schreiben noch lesen kann und Nacht für Nacht einen Job macht, der weit grössere Bewunderung verdient als der eines Hochschulabsolventen. Alle werde ich wieder sehen. Die Pfleger, die Putzmannschaft, die Kinder und Felix, den blinden Nigerianer.

Der heranrollende Aperitif-Trolley holt mich zurück. Zum Dosenbier gibts kleine Salzbretzeln und ein breites Grinsen vom Stewart. Schöne, heile Welt. In Afrika ist sie dies nicht. In Schwarzafrika leben zwei Drittel aller weltweit an Aids Infizierten, das sind gegen dreissig Millionen Menschen. Eine Zahl, die umso erschreckender ist, wenn man weiss, dass südlich der Sahara nur gerade knapp über zehn Prozent der Weltbevölkerung leben. Nach Schätzungen der Uno sterben in dieser Region täglich sechstausend Menschen an Aids.

«Meine Damen und Herren, es tut mir Leid...», die Durchsage des Kapitäns lässt mich rausschauen, der Kerosinstrahl schiesst aus dem Flügel. Unglaublich, was für Mengen dort Platz haben! Eine halbe Stunde...

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