Kapitel 1
Reisevorbereitungen – Die Gefühle müssen mit!
Wir beginnen unsere Reise durch die männliche Psyche im »Männer-Medium« Internet. Dort las ich kürzlich auf einer dieser lustig-unterhaltsamen Männer-Frauen-Seiten sinngemäß die folgende Antwort auf die Klassiker-Frage, warum Männer nicht über Gefühle sprechen: »Männer sprechen in emotional intensiven Momenten durchaus über Gefühle, wenn etwa der Motor streikt oder das Bier alle ist. Aber wenn solche Momente nicht gegeben sind, fühlen sie einfach nichts – und sind deswegen irritiert, wenn sie über dieses Nichts sprechen sollen!« Aha!
Am anderen Ende der Ernsthaftigkeitsskala steht die Wissenschaft, in diesem Falle die klinische Psychologie. Sie hat für die Unfähigkeit, eigene Gefühle wahrnehmen zu können, einen eigenen Begriff kreiert: Alexithymie. Solche Begrifflichkeiten bergen immer die Gefahr, dass ein gesellschaftliches Phänomen beziehungsweise gesellschaftliche Ursachen für persönliche Probleme kurzerhand individualisiert werden: Nicht die Gesellschaft hat dann das Problem (verursacht), nein, das Individuum, in diesem Fall der einzelne Mann, hat das Defizit, die Krankheit. Nach dem Motto »Herrje, endlich weiß ich, warum meine Ehe nicht funktioniert: Mein Mann leidet unter Alexithymie!« – »Oh ja, meiner auch, gibt es vielleicht Medikamente dagegen?« Dieser Dialog stammt wohlgemerkt nicht von der lustigen Internet-Seite, sondern aus dem Chat einer Online-Beratungsstelle!
Die Schwierigkeit, eigene Gefühle wahrzunehmen, ist für viele Männer ein ernstzunehmendes Problem, welches aber keineswegs individuell zu pathologisieren ist. Vielmehr kann der mangelnde Zugang zu eigenen Gefühlen als Grundproblem der männlichen Identität generell betrachtet werden.
Bevor nun das Augenmerk auf die Entstehungsgeschichte und die Konsequenzen dieser Kern-Problematik gelenkt wird, muss zunächst einmal Einigkeit darüber herrschen, dass der mangelnde Zugang zu eigenen Gefühlen überhaupt ein Problem darstellt. Viele Männer (und vielleicht auch einige Frauen) stehen nämlich auf dem Standpunkt, dass dies durchaus nicht so sei, dass es im Gegenteil eher eine Qualität sei, »nicht ständig rumzuheulen«, wie es ein Mann in dem angesprochenen Beratungs-Chat formulierte.
Ohne Gefühlswahrnehmung keine Bedürfnisbefriedigung
Es erscheint relativ naheliegend und plausibel, dass das Lebensglück eines Menschen unmittelbar davon abhängt, ob seine grundlegenden Bedürfnisse befriedigt werden. Der bekannte Psychotherapieforscher Klaus Grawe hat diesen Zusammenhang systematisch und konsequent in den Fokus gerückt.2 Grawe unterscheidet dabei – neben den physiologischen Grundbedürfnissen des Körpers nach Nahrung, Wasser, Schlaf und Wärme – vier psychologische Grundbedürfnisse:
1. das Bedürfnis nach Bindung,
2. das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle,
3. das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung und
4. das Bedürfnis nach Lustgewinn.
Diese vier psychologischen Grundbedürfnisse können in Millionen von verschiedenen Gewändern auftauchen. So kann zum Beispiel das Bedürfnis nach Bindung durch eine Heirat, beim persönlichen Gespräch mit dem Vater, beim Spielen mit der kleinen Tochter oder beim Internet-Chat befriedigt werden. Ein- und dieselbe Handlung wiederum kann ihrerseits mehrere Grundbedürfnisse erfüllen: Das gemeinsame Herumbasteln an einem Auto mit einem Freund dürfte die Bedürfnisse nach Bindung, Selbstwerterhöhung und Lustgewinn gleichzeitig ansprechen. Jeder Mensch hat eine Fülle von verschiedenen Bedürfnissen, deren spezifische Kombination jeweils einzigartig ist: uralte und gerade neu entstandene Bedürfnisse, Alltagswünsche und Lebensprojekte, erfüllbare Sehnsüchte und unerfüllbare Träume. Nicht nur sein psychisches, sondern auch sein körperliches Wohlergehen hängt ganz entscheidend davon ab, inwieweit er diese vielfältigen Bedürfnisse befriedigen kann.
Was aber hat all das nun speziell mit Männern zu tun? Unter unbefriedigten Bedürfnissen leiden schließlich Frauen genauso wie Männer: zu wenig wahrhaftige Bindungen, ein Manko an Kontrolle über das eigene Leben, ein fragiles Selbstwertgefühl oder mangelnde Lebenslust. (Genau genommen haben Frauen vielleicht ein gewisses Plus in puncto Bindungen, aber angesichts weiterhin bestehender gesellschaftlicher Benachteiligungen eher ein Minus hinsichtlich Kontrolle.) Dass dieser Aspekt hier dennoch angeführt wird, liegt daran, dass Männern oftmals die zentrale Grundvoraussetzung für die Befriedigung eigener Wünsche und Bedürfnisse fehlt: die bewusste Wahrnehmung von Gefühlen. Gefühle nämlich liefern Hinweise auf die eigenen Bedürfnisse. Eine konkrete Angst deutet darauf hin, dass ein spezielles Grundbedürfnis bedroht ist. Wut zeigt an, dass eines der Bedürfnisse schwer verletzt worden ist. Trauer weist auf den Verlust oder den dauerhaften Mangel einer Bedürfnisbefriedigung hin. Wo es keine adäquate und differenzierte Gefühlswahrnehmung gibt, kann es keine Wahrnehmung der jeweiligen eigenen Bedürfnisse geben – und damit keine Bedürfnisbefriedigung. Die These, die sich durch dieses Buch ziehen wird, lautet daher:
Männern fällt die bewusste Wahrnehmung eigener Gefühle und damit auch eigener Bedürfnisse häufig schwer. Eine positive Art des Gefühlsausdrucks und -umgangs, der Befriedigung von Bedürfnissen sowie der Erfüllung von Sehnsüchten ist so kaum möglich.
Ohne Gefühlswahrnehmung keine Handlungsplanung
Darüber hinaus sind Gefühle Handlungsrichtlinien. Sie zeigen uns an, wo es langgeht, was wir tun, wie wir uns verhalten sollten – etwa in Bezug auf die grundlegende Befriedigung unserer Bedürfnisse und Lebenswünsche. Oder aber wenn es darum geht, eine der aktuellen Situation angemessene Reaktion zu finden. In einer gefährlichen Lage Angst oder bei einer massiven Einengung Ärger empfinden und bewusst wahrnehmen zu können, ist (überlebens-)wichtig, um diese Situationen positiv zu bewältigen.
Diese Ausführungen scheinen im Widerspruch zu der Alltagsweisheit zu stehen, dass es gerade in kritischen Situationen gilt, einen »kühlen Kopf zu bewahren«, nicht »von den Emotionen überschwemmt zu werden«. So bewundern wir etwa Leonardo DiCaprio, wie er im Film »Titanic« trotz der lebensbedrohlichen Umstände immer das genau Richtige und Kluge tut und so das Leben seiner Geliebten rettet – wobei er selbst leider draufgeht, aber das ist wieder ein anderes Männerthema … Aus psychologischer Sicht ist dieser Alltagsweisheit teilweise auch zuzustimmen. In der Tat ist es nicht hilfreich, von einem Gefühl so vollkommen eingenommen zu werden, dass über einen längeren Zeitraum gar kein anderes Gefühl wahrnehmbar und kein rationaler Gedanke mehr fassbar ist. Eine solche psychische Fixierung ist allerdings keineswegs der Regelfall. Wir alle kennen zwar solche Zustände über einen kürzeren Zeitraum: der Moment der Verliebtheit, in dem man seinen Zug verpasst, oder der kurze Augenblick der Gelähmtheit, wenn eine Gefahr auftaucht. Ein Andauern über einen längeren Zeitraum ist aber die Ausnahme und deutet auf eine schwerwiegende psychische Problematik hin. Insofern müsste die Alltagsweisheit wie folgt erweitert werden:
Es erschwert das Leben, von Gefühlen »überschwemmt« zu werden. Es erschwert das Leben aber ebenso, diese Gefühle gar nicht oder kaum wahrzunehmen, weil dann die Handlungsrichtlinie fehlt.
Dieser Sachverhalt kann ebenfalls am Beispiel des heldenhaften Leonardo DiCaprio beim Sinken der »Titanic« verdeutlicht werden. Zunächst einmal muss er Angst empfinden, um die Gefahr richtig einschätzen zu können – anders als die vielen anderen Passagiere, die diese angemessene Angst durch einen naiven Fortschrittsglauben verdrängen: »Dieses hochmoderne Schiff kann gar nicht sinken!« Er muss Liebe und Fürsorge spüren können, um nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das der Geliebten retten zu wollen. Er muss Ärger empfinden können, um sich in jenen Situationen, in denen die Passagiere der 3. Klasse an ihrer Befreiung aus den Unterdecks gehindert werden sollen, energisch zur Wehr zu setzen. Wäre ihm der Zugang zu nur einem dieser Gefühle versperrt gewesen, wäre er entweder resigniert im Bauch des Schiffes ertrunken oder cognacschwenkend an Deck.
Ohne Gefühlswahrnehmung keine psychische Gesundheit
Die bewusste Wahrnehmung eigener Gefühle ermöglicht aber nicht nur eine bedürfnisbefriedigende und situationsadäquate Handlungsplanung. Vielmehr gilt darüber hinaus:
Ein guter Kontakt zu den eigenen inneren Impulsen verbessert per se die psychische Gesundheit.
Da bisher stets von Gefühlen und Bedürfnissen, nicht aber von »Impulsen« die Rede war, ist zunächst eine kurze Begriffsdefinition notwendig:
Mit »Impulsen« ist die Gesamtheit aller »Botschaften« gemeint, die aus unserer Innenwelt (wahlweise auch: unserem Herzen, unserer Seele, unserem Selbst) kommen, also Gefühle, Bedürfnisse, Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume, Körperempfindungen, Wünsche etc. |
Es ist für das eigene psychische Wohlergehen also positiv, beispielsweise eine bislang verborgene eigene Sehnsucht zu entdecken, selbst wenn eine unmittelbare Befriedigung des Bedürfnisses gar nicht möglich ist. Diese Aussage widerspricht nun...