(KHM 94) und „Das kluge Bauernmädchen“ (türkisches Märchen)
Die grimmsche Fassung des Märchens „Die kluge Bauerntochter“ (KHM 94)[115] und die deutsche Übersetzung des türkischen Märchens „Das kluge Bauernmädchen“[116] weisen beide dieselbe Protagonistin auf, wie beide Titel schon vermuten lassen. Es handelt sich um ein armes Bauernmädchen, das wegen seiner Klugheit bei einem Mann aus einer höheren Gesellschaftsschicht Interesse weckt. Im türkischen Märchen ist dieser Mann ein Richter, bei den Grimms ist er ein König. Um das kluge Mädchen zu prüfen, stellt der Mann dem Mädchen unmögliche Bedingungen. Das kluge Mädchen kann diese Bedingungen erfüllen, somit findet der Richter bzw. der König ihre Klugheit bestätigt und nimmt sie zur Gemahlin. Als die Gemahlin jedoch einst gegen eine Anweisung verstößt bzw. eine einfältige Entscheidung des Königs entblößt, will sich dieser von ihr trennen. Er erlaubt ihr aber, das Liebste mitzunehmen. Da dem klugen Mädchen ihr Mann das Wertvollste ist, nimmt sie diesen, während er schläft, mit in das Haus ihres Vaters. Durch die Klugheit seiner Gemahlin ein weiteres Mal beeindruckt, kommt es schließlich zur Versöhnung zwischen den Beiden.
Der Märchenstoff „Die kluge Bauerntochter“ ist nach Antti und Thompson ein Novellenmärchen (AT 875) [117]. Die deutsche sowie die türkische Märchenvariante beinhaltet eine novellentypische „unerhörte Begebenheit“. Ein armes Bauernmädchen hat eine Aufgabe zu erfüllen, die als unmöglich zu erfüllend erscheint, jedoch aufgrund von Klugheit bewältigt werden kann[118].
Zur Verbreitungsgeschichte des oben erläuterten Märchenstoffes (AT 875) lassen sich Unmengen an verschiedenen Fassungen herausstellen. Domöter allein verglich 600 Versionen und fand heraus, dass bereits im 12. Jahrhundert die bekannte Kurzform (Handlungen ABC[119]) des Märchens vorgelegen haben muss[120]. Goebel sowie auch Röth nehmen an, dass das Märchen zunächst mit der Heirat von Bauerntochter und König bzw. Richter geendet hat. Der zweite Teil des Märchens, in dem die Intelligenz des Mädchens ein weiteres Mal deutlich zur Geltung kommt, ist erst später hinzugefügt worden und wirkt auf den Kerninhalt bekräftigend und weiterführend[121]. Die Ermittlung einer Urform im Sinne der geographisch-historischen Methode scheint jedoch nicht möglich, auch wenn vieles darauf hinweist, dass die ersten Ansätze dieser Erzählung auf den Raum des Orients zurückzuführen sind. Die Brüder Grimm nahmen für das Märchen „Die kluge Bauerntochter“ einen indischen Ursprung an[122], was die Indische Theorie bestärken würde. Auch Benfey hatte zuvor den Weg dieses Märchens von dem Ausgangsland Indien im hohen Alterrum skizziert[123]. Dafür spricht, dass die Rätsel und Proben der Klugheit sehr häufig ein wesentliches Element in orientalischen Märchen sind[124]. Älteste Motive des Märchens finden sich so z.B. in Indien, im Mahabharata, in der apokryphen jüdischen Literatur, in den Jakatas und in den Erzählungen von Buddhas Wiedergeburten, da auch dort von dem Vermeiden des Gehens neben oder auf dem Weg und von einem kalbenden Stier die Rede ist. Des Weiteren hat sich auch Plutarch damit auseinandergesetzt, mit welchen Eigenschaften Superlative, wie das „Älteste“ oder das „Stärkste“ beschrieben werden können[125]. Jan de Vries setzte sich erstmals wissenschaftlich und systematisch mit der Verbreitung und Wanderung dieses Märchens in seiner Untersuchung „Die Märchen von klugen Rätsellösern“ auseinander[126]. Im 12. Jahrhundert soll es von dem Orient über die Balkanländer nach Zentraleuropa gelangt sein[127]. Diese Verbreitung wurde durch einen wirtschaftlichen (Handelsmonopol in Italien) und seit Ende des 19. Jahrhunderts auch durch einen persönlichen Austausch befördert[128]. Dafür, dass dieser Märchenstoff zeitlich eher in der Türkei zu finden war als in Deutschland, spricht, dass sich erhebliche Parallelen zur türkischen Salomosage von Hammer bzgl. der Rätselfragen herausstellen lassen[129]. Folglich gilt die Sage als eine elementare Zwischenstufe zwischen der orientalischen und europäischen Erzählform, wobei der Prozess der Modifizierung nicht ganz eindeutig zu bestimmen ist[130]. Erst im 13. Jahrhundert wurde dann der Märchenstoff im deutschen Sprachraum gefunden und die Brüder Grimm erfahren erstmals von diesen im Jahre 1813 durch Dorothea Viehmann[131]. Goebel formuliert seine Annahme dieser Monogeneseprozesse nach folgenden kurzen Worten
„ein asiatisches, noch durchaus fluktuierendes, unbestimmbares Klugheitsmärchen gerät an der Schwelle Europas in die Einflußphäre der jüdischen Salamosage, attrahiert aus der näheren und entfernteren Umgebung entsprechende Motive und geht nach einem allmählichen Umbildungs- und Erstarrungsprozeß über das europäische Schrifttum in die Volksüberlieferung über“[132] .
Anders herum verbreiteten sich später auch in der Türkei europäische Kunstmärchen sowie die Volksmärchen der Brüder Grimm, die dort beliebt wurden[133].
Nicht unwahrscheinlich erscheint ebenfalls die Theorie der Polygenese, denn im Märchen von der klugen Bauerntochter bzw. dem klugen Bauernmädchen sind einfache und natürliche Themen und Motive enthalten. Denkbar wäre daher ebenso die unabhängige Entstehung der Märchen voneinander an unterschiedlichen Orten. Im Märchen werden allgegenwärtige Gesellschaftsstrukturen abgebildet (arme und reiche Gesellschaftsmitglieder) und damit verknüpft die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs aufgrund von Klugheit angesprochen. Erstaunlich ist jedoch, dass manche Passagen im Vergleich der beiden Märchen miteinander nahezu identisch sind, so z.B. die Klugheitsproben, die dem Bauernmädchen gestellt werden. Dies wiederum lässt vermuten, dass den Märchenerzählern oder spätestens den Personen, die die Märchen schriftlich fixierten, die Märchenversionen aus anderen Ländern bekannt waren, Argument für die Monogenesetheorie darstellen.
Folglich kann weder ausschließlich die Annahme der Monogenese noch der Polygenese bzgl. dieses Märchens eindeutig bestätigt werden. Vielmehr scheint es, dass beide Entstehungsprozesse und die daran anschließende Wanderung für die Verbreitung dieses Märchens gesorgt haben. Der Märchenstoff ist zumindest international bekannt und weist eine Unmenge an Varianten zwischen und innerhalb verschiedener Länder auf[134].
Die Struktur der beiden Märchen ist nahezu identisch, wie der Inhaltsangabe zu entnehmen ist. Dennoch gibt es inhaltliche Differenzen. Röth zufolge lässt sich der Märchentyp AT 875 in fünf Sequenzen unterteilen[135], wobei die erste Sequenz sowie die vierte Sequenz deutliche Unterschiede aufweisen.
Im türkischen Märchen entspricht die erste Sequenz dem Märchentyp AT 922, dem u.a. das grimmsche Märchen „Das Hirtenbüblein“ (KHM 152)[136] zuzuordnen ist. Ein armer Bauer wird von einem reichen Bauern vor Gericht gestellt, der Richter macht den Bauern keinen Prozess, sondern stellt ihnen drei Rätsel, die nahezu unlösbar erscheinen: „Wer ist von allen am reichsten? Wer läuft von allen am schnellsten? Was ist süßer als alles andere?“. Während der reiche Bauer hochmütige, auf sein Eigentum bezogene und dem Richter schmeichelnde Antworten liefert, gibt der arme Bauer auf Anraten seiner Tochter philosophisch angehauchte, nicht nachprüfbare Antworten. Den Richter überzeugt die kluge Antwort des armen Bauern und fragt ihn, von wem er dies gelernt habe. Aufgrund dieser Frage gerät die kluge Bauerntochter in die Handlung.
Auch in der Grimmschen Version gibt die kluge Bauerntochter in der ersten Sequenz des Märchens einen Rat, jedoch verfolgt der Vater diesen nicht. Vater und Tochter finden bei der Arbeit auf einem vom König geschenkten Stück Acker einen goldenen Mörser. Aus Dankbarkeit gegenüber dem König schenkt der Vater dem König den Mörser. Seine Tochter hatte ihm gegen diese Entscheidung geraten, da sie vermutete, dass dieser dann auch den Stößer herbeischaffen müsse, den sie bei erneutem Umgraben des Ackers jedoch nicht gefunden hatten. Der König stellt den Vater vor die paradoxe Aufgabe, so lange im Gefängnis zu sitzen, bis er ihm den Stößer herbeigeschafft hätte. Im Gefängnis erfährt der König aufgrund der Klagen des Vaters von der Klugheit seiner Bauerntochter.
In der zweiten Sequenz stellt die jeweils darin enthaltende Klugheitsprobe das Kernmotiv des Gesamtmärchens dar, das sich jeweils an den oben geschilderten Vorspann angliedert. Im türkischen Märchen ist zudem die eben erläuterte Rätselaufgabe aus der ersten Sequenz zum Kernmotiv des Märchens zu zählen. Die Klugheitsproben sind nahezu identisch. Im Grimmschen Märchen soll das Mädchen „nicht gekleidet, nicht nackend, nicht geritten, nicht gefahren, nicht in dem Weg, nicht außer dem Weg“[137] zum König kommen bzw. im türkischen...