3. Der Zauber der Religion
Man könnte die Magie auch als den linken Bruder der Religion bezeichnen, schließlich wird seit alters Magie, die keine religiöse Kulthandlung ist, von den Priesterkasten als Aberglaube abgetan. Dementsprechend werden magische Handlungen, die im religiösen Kontext erfolgen, vom Standpunkt der Gläubigen auch nicht als Zauberei, sondern als kultische Handlungen aufgefasst. In diesem Sinne ist religiöse Magie stets ein kommunikativer Austausch mit dem Gott, um dessen Kraft für die Gemeinde zu nutzen beziehungsweise auf sie übergehen zu lassen. Die beschworene Kraft offenbart sich dabei in der Kulthandlung, und diese Offenbarung ist für die Beteiligten sinnlich erfass- und erkennbar. Der Geist fließt über. Grundsätzlich kann eine gültige Kulthandlung nur von einer initiierten Person, sprich einem Priester durchgeführt werden. Der Zweck der Kulthandlung mag sowohl von theurgischer Art, etwa in der Gottesschau, als auch von profaner Art sein, zum Beispiel wenn der Priester einen Erntesegen am Feldrand erteilt oder zur Autoweihe die an ihm vorbeirollenden Kraftfahrzeuge mit dem Weihwasserwedel segnet.
Blicken wir auf die Kulthandlungen der christlichen Kirchen, ist die herausragende heilige Handlung das Abendmahl, das unverkennbar Reststücke archetypischen Opferkultes in sich birgt. Hostie und Wein wandeln sich symbolisch zum Leib und Blut Christi, der Gott wird inkorporiert und der Gläubige, von Gott durchdrungen, wird der göttlichen Sphäre teilhaftig. Es gibt kaum ein schöneres und machtvolleres Bild der Gottesnähe als dieses, das zugleich auch ein Bild der Unsterblichkeit im Gotte ist. Als solches ist es ein uraltes magisches Bild – so reichte Osiris, der Bezwinger des Todes, Isis sein Blut in Gestalt eines Bechers voll Wein. Die magische Kraft dieses Bildes verleitet von jeher den Gläubigen zu manchem Zauber unter Ausnutzung des Abendmahles. So glaubte man etwa, dass Gewehrkugeln ihr Ziel nicht verfehlten, sobald man das Abendmahl insgeheim in Teufels Namen zu sich nahm. Andererseits empfand man die Entweihung der Sakramentalien Brot und Wein als Todsünde, was wiederum die Schwarzzauberei inspirierte. Eine durchstoßene Hostie war demnach ein sicheres Mittel, um den Antichrist zu beschwören – einer von mehreren Gründen, weshalb bis in unsere Zeit die Hostie dem Gläubigen vom Priester in den Mund gelegt und nicht in die Hand gegeben wurde16.
Mit Ausnahme der Wahrsagerei lebt die alte Magie der Priester im christlichen Kultus fort. Sie ist so vielfältig und ebenso begehrt wie ehedem, wird sie doch allgemein als lauterer und wirksamer Zauber verstanden. So üben sich die Priester im Schutzzauber und weihen Häuser und auch mal eine Achterbahn ebenso wie persönliche Gegenstände, um den Gläubigen vor Unheil zu bewahren. Zum gleichen Zweck werden heute noch kirchlicherseits Reliquien und geweihte Amulette gehandelt. Auch im Abwehrzauber sind moderne Priester bewandert, böse Geister vertreiben sie mit Räucherwerk und Weihwasser und salben17 den Täufling wie den Sterbenden, um deren Seelen vor dem Zugriff des Bösen zu bewahren. Sie lesen Seelenmessen, um dem Verstorbenen den Durchgang durchs Totenreich zu erleichtern.
RELIQUIEN
Der Zauber der Reliquien ist ein ungebrochenes Phänomen. So werden auch heute noch Hinterlassenschaften und körperliche Überreste Heiliger zu Reliquien. Denken wir nur an die Blutkrusten des stigmatisierten Pater Pio (1887–1968) oder die Umbettung des unverwesten Leichnams Papst Johannes‘ XXIII. zu Pfingsten 2001 in einen kristallenen Sarkophag, damit die ihn verehrenden Gläubigen ihn in seiner neuen Grablege im Petersdom betrachten können.
Der Grund für das Reliquienwesen liegt in der Vorstellung von Heroen und Heiligen, die in ihrem Leben über menschliche Dimensionen hinauswachsen und von einer überirdischen Kraft beseelt werden. Ihre Überreste bewahren auch nach dem Ableben der Person ihre heroische Kraft in sich, wodurch sich dank der Reliquie die Wunder der Heiligen wiederholen können. Wer diese Kraft für sich zulässt, tritt mit dem Heiligen in spirituelle Verbindung und erfährt hierdurch Erhöhung. Zudem geht diese Kraft auch auf Gegenstände über, die mit der Reliquie in Kontakt gebracht wurden. So werden etwa in der Gemeinde Ebersberg Zinnpfeile an Gläubige abgegeben, die mit der dort als Reliquie verehrten Schädeldecke des heiligen Sebastian in Berührung kamen. Solche Kontaktreliquien stehen im Volkszauber oft im Zentrum magischer Handlungen, insbesondere beim Gesundzauber.
Wenn das Böse einen übermannt
Stiller ist es indessen um den Exorzismus geworden, da heute der Glaube an die Macht des Teufels gemeinhin als rückständig gilt. Den irdischen Höllenqualen haben sich dafür die Psychotherapeuten als moderne Seelsorger angenommen – wie überhaupt ein Großteil ihres therapeutischen Wirkens ursprünglich magische Elemente in sich trägt. Allein das Besprechen, das Aussprechen und Beschwören unguter Befindlichkeiten hat magische Wurzeln; wir reden uns die bedrückenden Geister von der Seele. Gleiches gilt für Techniken wie die der Autosuggestion, Imagination, Hypnose oder gruppendynamischen Übungen, die allesamt alter Zauberkunst abgeschaut wurden. Das übergehangene Mäntelchen wissenschaftlicher Erklärung bedeckt dabei keusch die ursprüngliche Magie. Doch auch die Kirche hat dem Exorzismus nicht abgeschworen. Zum Beispiel wird im katholischen Taufritus der Täufling noch heute exorziert.
Gleichwohl gibt es nach wie vor echte Fälle von Besessenheit, die sich nicht als „ekklesiogene“ Neurosen18 wegerklären lassen, sondern nach einem im Exorzismus bewanderten Priester verlangen. So polemisierte bereits Plato (427–347 v. Chr.) gegen die Laienpriester, die zu seiner Zeit Besessene von Dämonen kurierten, da er solchem Tun den göttlichen Segen absprach. Hippokrates (um 460–370 v. Chr.) wollte die Behandlung Besessener in der Hand des Arztes wissen, und in seiner Schrift über die „heilige Krankheit“ verwarf er jeglichen Exorzismus.
Ein in Exorzismus erfahrener Priester ist der Psychologe Dr. Jörg Müller (*1943), der sich der Gratwanderung bei der Entscheidung für eine Austreibung durchaus bewusst ist, wenn er meint: „Die Symptomatik dämonischer Störungen ist vielschichtig, diffus und ähnelt oft auch klinischen Krankheitsbildern. Es gibt stets auch Überschneidungen. Wenn Widerstand gegen alles Göttliche, Lasterzwang, mediale Fähigkeiten, sexuelle Perversionen, Heilsungewissheit, ichbezogene Frömmigkeit mit Übertreibungen, Stimmenhören bei geistiger Gesundheit oder/und flottierende Ängste vorliegen, sollte man hellhörig werden.“ (Referat: 2. Internationale Priestertagung, Medjugorje 2001) Im Zusammenhang mit einer Betrachtung brasilianischer Kulte differenziert der im Exorzismus bewanderte Schweizer Psychiater Hans Naegeli-Osjord (1909–1997) weiter: „Ein ganz wesentlicher Unterschied besteht darin, dass der dämonisch Besessene vom negativ Numinosen gegen seinen Willen ergriffen wird, während der kultisch Besessene nach monatelanger Vorbereitung freiwillig seinen Körper den transzendenten Mächten anbietet.“ (Naegeli-Osjord; S. 148)
Wer jedoch je Zeuge einer Besessenheit und Austreibung geworden war, wird Magie nicht weiter nur als ein psychologisches Wirken auffassen, was bislang aus dem Dargestellten durchscheinen mochte, sondern sich von Mächten angehaucht fühlen, die aus einer anderen Sphäre überfließen. Dabei verschränken sich diese Mächte nicht, stehen also in keinem sich wechselseitig erhaltenden Gegensatz. Vielmehr sind es unterschiedliche sich selbstnährende Kräfte, die hierbei aufeinander prallen: hier abgründige Dämonie im Besessenen, kalt und starr, dunkel und tödlich; dort verklärtes Erbarmen um den Exorzisten, warm und dynamisch, heil und lebendig. Es sind zwei reale Gewalten, die hier aufeinander prallen, und es ist ein spürbares Ringen entlang einer Scheidelinie, die zwei Welten trennt. Wer also die Gewalt eines solchen Zusammenpralls magischer Mächte erlebte, mag auch die Gnostiker vergangener Tage verstehen, die gleiches gesehen hatten und darob die Welt in zwei unversöhnliche Hälften teilten.
Im beobachtenden Begreifen dieses phänomenalen Geschehens scheint sich fürwahr die bipolare Welt der Gnosis wieder aufzutun und man muss sehr achtsam sein, um sich in diesem alten Bild fortwährender Unversöhnlichkeit nicht zu verfangen und dabei den Raum lauterer Magie zu verlassen. Denn fällt man aus dem verklärten Erbarmen, sehen wir statt einem Ringen an der Scheidelinie magischer Gewalten ein Zerren im bipolaren Reich der Dämonen. Der Exorzismus ist dann weniger ein Heilen als vielmehr nur ein Entrücken an die Peripherie dieses Reiches, ein Beruhigen und Verstummen der gequälten Seele. Wohl deshalb ließ Jesus die Dämonen, die einen Mann quälten, in die Schweine fahren (Markus 5,12)19, denn die Befreiung war sein Ziel und...