EINLEITUNG
In ihrem Buch The Heart of a Woman schrieb die bekannte afroamerikanische Dichterin Maya Angelou über ihre erste Begegnung mit Malcolm X, seine unglaubliche Ausstrahlung und maskuline Kraft habe sie wie ein heißer Wüstensturm berührt, der jede einzelne Pore ihrer Haut durchdrang. Dreißig Jahre später, 2011, knüpfte der schwarze Schriftsteller Touré in seiner Besprechung einer neuen Malcolm-X-Biographie an diesen Gedanken mit folgenden Worten an: «Malcolm X hatte so eine knochentiefe, in die Eingeweide eindringende Wirkung auf Amerika. Er ging jedem unter die Haut.»[1] Ohne Zweifel war Malcolm X ein Mann, der die Menschen in besonderer Weise beeindruckte, der sie aufrüttelte und bei manchen eine radikale Veränderung ihrer Lebenseinstellung bewirkte. Tausende bewunderten und liebten ihn, andere hassten und fürchteten ihn, aber kaum jemand konnte ihm gegenüber gleichgültig bleiben.
Auch ein halbes Jahrhundert nach seiner Ermordung am 21. Februar 1965 gehört Malcolm X weiterhin zu den berühmtesten und zugleich kontroversesten Figuren der amerikanischen Geschichte. Während die Mehrheit der Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen ihn als großen Helden und Begründer eines neuen schwarzen Selbstwertgefühls verehrt, sehen viele weiße Amerikaner und Amerikanerinnen in ihm einen von religiösem Fanatismus und Rassenhass getriebenen Demagogen.[2] Statt im Laufe der Jahrzehnte allmählich zu verblassen hat die Erinnerung an Malcolm X eher eine gegenteilige Entwicklung erlebt. Die intensiven Debatten über Rassenpolitik und kulturelle Authentizität in den 1980er und 1990er Jahren haben dem Gedenken an ihn sogar eine phänomenale Renaissance beschert.[3] Bereits 1986 wurde die von dem Komponisten Anthony Davis geschriebene Oper X, The Life and Times of Malcolm X mit großem Erfolg in New York City uraufgeführt, Spike Lees Hollywood-Film Malcolm X von 1992 wurde ein internationaler Hit und Neuauflagen von Malcolms Reden auf CDs sind seither Bestseller; besonders provokative Passagen werden vielfach in der Rap- und Hip-Hop-Szene zitiert. Der Verkauf aller Arten von «X»-Produkten ist inzwischen ein weltweites Millionen-Dollar-Geschäft. Viele schwarze Theater- und Tanzgruppen, Schulen, Kulturzentren, Straßen und öffentliche Grünanlagen wurden nach ihm benannt und allein in den letzten zehn Jahren sind rund drei Dutzend neue Bücher über ihn erschienen. Als 2009 Barack Obama, der erste afroamerikanische Präsident der USA, sein Amt antrat, wurden Poster und Buttons verkauft, die ein Gruppenporträt von Malcolm X, Martin Luther King Jr. und Barack Obama mit dem Titel Fulfilling the Dream zeigten. Letzteres ist vor allem deshalb bemerkenswert, da Malcolm X seine größte Bekanntheit gerade als Gegenspieler des für Rassenintegration eintretenden und Gewalt strikt ablehnenden Martin Luther King erreichte. Diese Tatsache scheint in der kollektiven Erinnerung zunehmend verdrängt zu werden.[4]
Im Leben von Malcolm X spiegeln sich in vielerlei Weise die angespannten, oft destruktiven Rassenbeziehungen der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit wider. Auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Karriere, in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren, wurde er vielfach als «der zornigste Mann Amerikas» bezeichnet.[5] Nach einer von Armut und Instabilität geprägten Jugend und einer kriminellen Karriere, die im Gefängnis endete, gelang ihm ein phänomenaler Aufstieg innerhalb der schwarz-nationalistischen Religionsgemeinschaft Nation of Islam (NoI), als deren nationaler Sprecher er eine bekannte Figur im öffentlichen Leben der USA wurde. Wie er den weißen Rassismus gnadenlos anprangerte, zur afroamerikanischen Solidarität aufrief und für das Recht auf bewaffnete Selbstverteidigung eintrat, begeisterte Millionen von Schwarzen. Gleichzeitig bestürzten seine Auftritte viele Weiße. Nicht zuletzt aus Furcht vor dem von ihnen als bedrohlich empfundenen schwarzen Radikalismus kamen sie den Forderungen von moderateren Anführern der Bürgerrechtsbewegung (wie King) weiter entgegen, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Als einer der geistigen Väter der Black is Beautiful-Bewegung der 1960er Jahre trug Malcolm X zudem maßgeblich dazu bei, das Selbstwertgefühl schwarzer Amerikaner und ihre Einstellung gegenüber der eigenen Rasse positiv zu verändern. Galt «Blackness» (Schwarz-Sein) vorher vielen als Merkmal von Minderwertigkeit und Unterlegenheit, so wurde es nun als Zeichen von Schönheit und Grund zum Stolz auf das eigene Erbe gesehen.
Bei dieser Transformation des schwarzen Selbstbewusstseins spielten natürlich auch andere Faktoren eine Rolle, vor allem die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung und der große Einfluss Martin Luther Kings. Von vielen jüngeren Schwarzen, insbesondere im Norden der USA, wurde der aus Georgia stammende King allerdings oft als ein zu friedfertiger und zu sehr auf das Wohlwollen der Weißen bedachter christlicher Idealist angesehen, den man mit einer ländlichen oder kleinstädtischen Lebenssituation im Süden assoziierte, auch wenn Kings Heimatstadt Atlanta zu den bedeutendsten Großstädten der USA zählt. Malcolm X dagegen, der seine Kindheit in einer deutlich ländlicheren Gegend als King verbracht hatte, wurde stets als ein Produkt des urbanen schwarzen Ghettos angesehen. Sein Zorn und seine Entrüstung spiegelten die Emotionen vieler Schwarzer gegenüber dem Rassismus in den amerikanischen Großstädten des Nordens wider, wo es zwar keine gesetzliche Rassentrennung gab, dafür jedoch eine Form des institutionalisierten Rassismus, die sich in de-facto-Segregation der Wohnbezirke und Schulen und einer allgegenwärtigen Benachteiligung der Schwarzen manifestierte.
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts lebte die Mehrheit aller Afroamerikaner in Großstädten, und viele schwarze Jugendliche, insbesondere junge Männer, gerieten hier in eine Abstiegsspirale aus mangelhaften Bildungschancen, Armut, Arbeitslosigkeit, Drogen und Kriminalität. Auch heute noch befindet sich fast ein Viertel (24 Prozent) aller schwarzen Männer zwischen 18 und 28 Jahren in den USA entweder im Gefängnis oder verbüßt eine Bewährungsstrafe, meistens wegen Drogendelikten.[6] Die desolate Lage dieser jungen Afroamerikaner war eines der zentralen Themen von Malcolm X. Seine Kritik an den weißen Machthabern war stets mit der Aufforderung an seine schwarzen Zuhörer verbunden, sich aus Abhängigkeiten zu befreien und ihre Rechte aktiv zu verteidigen. So rief er seine Zuhörer immer wieder dazu auf, mit allen notwendigen Mitteln für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen, und die Formulierung «by any means necessary» wurde sein bekanntestes Zitat, das bis heute häufig auf Postern, für Buchtitel sowie in Texten und Liedern verwendet wird.[7] Insofern war und ist Malcolm X eine ideale Projektionsfläche für die aufgestaute Wut und Frustration, aber auch für die Hoffnung schwarzer Ghettobewohner. Bei der jüngeren Generation gilt er, nicht King, als die zentrale Symbolfigur der eigenen kulturellen Identität.
Sowohl bei der afroamerikanischen Bevölkerung als auch bei einer wachsenden Zahl weißer Jugendlicher ist Malcolm X heute weltweit populärer, als er es zu Lebzeiten war. Allerdings überwiegt bei vielen der jugendlichen «X»-Anhänger das Bild des radikalen, alle Weißen schonungslos verteufelnden Rebellen. Die Wandlung Malcolms zu einem für allgemeine Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit eintretenden Humanisten, die er nach seiner Loslösung von der Nation of Islam (1964) und seiner Pilgerfahrt nach Mekka durchmachte, sowie die neue, wesentlich komplexere Weltsicht des sogenannten post-Mekka Malcolm findet vergleichsweise wenig Beachtung. Gerade diese Kehrtwendungen und Neuanfänge im Leben des Malcolm X sind jedoch für das Verständnis seiner historischen Bedeutung entscheidend. Die beeindruckende Dynamik dieses Mannes, sein Intellekt, seine Offenheit, sein Humor und die Bereitschaft, sich vollkommen rückhaltlos für den schwarzen Freiheitskampf einzusetzen, machen ihn zu einer der größten und zugleich vielschichtigsten afroamerikanischen Führungspersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Das wichtigste Dokument, das die Geschichte von Malcolm X über ein halbes Jahrhundert lang nach seiner Ermordung lebendig gehalten und in aller Welt bekannt gemacht hat, ist seine zusammen mit Alex Haley verfasste Autobiographie. Dieses Buch ist eine erzählerische Meisterleistung und wurde über sieben Millionen Mal verkauft sowie in viele Sprachen übersetzt, darunter Deutsch, Französisch, Arabisch, Indonesisch und Japanisch. Es gilt zudem als das persönliche und politische Testament Malcolms und gehört mittlerweile zum etablierten Kanon der afroamerikanischen Literatur und Geschichte.[8] Tausende von Lesern konnten sich mit Hilfe des Buches auch noch Jahrzehnte nach seinem Tod mit ihm identifizieren. Für einige wurde die Lektüre sogar zur lebensverändernden Erfahrung. Insbesondere für junge schwarze Männer, die Malcolms Mut, seine intellektuelle Kraft und seine Entschlossenheit im Kampf gegen die Unterdrückung der Schwarzen bewunderten, ist die Autobiographie zum zentralen Baustein ihres politischen Erbes...