2. Fünf Schritte zum inneren verletzten Kind
Wenn wir uns in der Sprache der Gewaltfreien Kommunikation auskennen, wollen wir im Konflikt empathisch mit dem Kind reden. Wir wissen genau, wie wir reagieren wollen. Stattdessen reißen wir das Kind mit festem Griff am Arm und sind über uns entsetzt, wenn wir am Abend einen blauen Fleck am Oberarm des Kindes entdecken.
Wie wir jetzt wissen, entstehen die schnellen unwillkürlichen Reaktionen im Mittelhirn. Wenn wir nicht mit Sprache unser limbisches System zur Vernunft rufen können, es solle aufhören, Gefahren zu erkennen, wo keine mehr sind, wie können wir dann Einfluss gewinnen? Wie können wir das limbische System überzeugen, dass nicht alle Männer mit grünem T-Shirt Vergewaltiger sind, nicht jedes Bild „in der Luft zu hängen“, tatsächlich bedeutet, in der Luft zu hängen?
Wie kann Irene eine Situation in ihrem Leben finden, zu der ihre Wut passt, die dazu führt, dass sie ungewollt ihren Nachbarn anschreit? – Irene erinnert sich an die fünf Schritte, die zu einer schwierigen Situation ihres Lebens führen, zu der diese Wut passen könnte.
- Was ist jetzt gerade passiert? Was nehmen meine Sinne wahr?
- Welches Gefühl wird dadurch bei mir ausgelöst?
- Ich konzentriere mich auf eine Körperempfindung, die das Gefühl begleitet.
- Ich denke an eine beliebige Geschichte von früher, wo ich noch Kind oder Jugendliche war.
- Habe ich Empathie gebraucht, die ich nicht bekam? Ich gebe sie mir jetzt.
2.1 Schritt 1: Beobachtung
Die Beobachtung ist der erste Schritt in der GFK und ist es auch hier. Irene konzentriert sich auf die Situation, die sie mit ihrem Nachbarn im Hausflur des Wohnhauses wahrgenommen hat. Sie hört den Nachbarn sagen: „Die Kinder spielen im Flur.“
2.2 Schritt 2: Gefühl
Die Gefühle entsprechen dem zweiten Schritt der GFK. Irene nimmt Wut wahr, die sie als Körperempfindung in ihrem Hals fühlen kann: Es ist möglich, die Stärke von Gefühlen zu messen, indem die Intensität an einem Maß von 0 bis 10 angegeben wird. 0 steht für „kein Gefühl“ und bei 10 ist das Gefühl „so stark, dass es kaum ausgehalten wird“. – Irene merkt, dass ihre Wut eine Intensität von 10 hat.
Mit ihrem rationalen Denken kommentiert sie, dass es wirklich übertrieben ist, so wütend zu werden. Sie schämt sich für diese Wut, weil sie ihrem Wert entsprechend gern ein freundlicher und gelassen ruhiger Mensch sein möchte. Außerdem hat sie Verständnis dafür, dass sich kinderlose Nachbarn über im Hausflur spielende Kinder ärgern können. Mit der Gewaltfreien Kommunikation vertraut, ist ihr auch klar, dass sie den Nachbarn als ungeduldig beurteilt. Wenn sie sich mit ihrem unerfüllten Bedürfnis verbindet, dann nimmt sie über ihre Enttäuschung wahr, dass ihr das Wohlergehen aller Menschen ein wichtiges Bedürfnis ist. Dieses kann sich nicht erfüllen, wenn sie erlebt, dass Nachbarn wiederholt unter der Geräuschkulisse der Kinder leiden. Wenn sie sich mit ihrem Bedürfnis verbindet und sich bewusst macht, was sie braucht in der Situation, kann sie sich beruhigen, denn ihr ist klar, dass sie nicht Verantwortung übernimmt für die Gefühle der Nachbarn. Sie möchte als Mutter die Verantwortung übernehmen, dass sie die Kinder anleitet, da zu spielen, wo der Lärm für Nachbarn erträglich bleibt. Ihr ist bewusst, dass es leichter ist, mit den Kindern an einen anderen Ort zum Spielen zu gehen, als dass die Nachbarn eine ruhige Wohnung finden, wenn die Kinder im Treppenhaus bleiben.
Sie merkt aber, wenn sie an die Worte des Nachbarn denkt, der schlicht sagt: „Die Kinder spielen im Flur!“, wie unwillkürlich dann ihre Wut aufkommt und das, obwohl das Ereignis Tage zurückliegt.
Die Worte aktivieren ein Netzwerk im limbischen Gehirn, welches verbunden ist mit einem früheren Ereignis. Wie in der Gewaltfreien Kommunikation bekannt, sind die Worte nicht die Ursache für Irenes Wut, sondern der Auslöser. Diese Worte lösen einen automatischen Stimmungswechsel von Ruhe zu Wut aus, wie wenn mit einer Fernbedienung das Fernsehprogramm umgeschaltet wird. Es entsteht unwillkürlich ein Wutmuster, das sie jetzt verstehen möchte und beeinflussen will.
2.3 Schritt 3: Empfindung im Körper
Wenn wir ein Gefühl erleben, haben wir gleichzeitig eine Empfindung im Körper, und zwar hat jeder Mensch seine eigene. Manche Menschen fühlen eine Körperempfindung im Bauch, andere im Hals und wieder andere in der Brust oder in den Extremitäten.
Jeder Mensch hat sein eigenes Ordnungssystem. Mir ist nicht bekannt, nach welcher Logik die Empfindung im Körper geordnet wird. Ich möchte nicht ausschließen, dass es vielleicht auch eine Körperordnung der Empfindungen gibt.
Wo im Körper empfinden Sie Ihre Wut?
In meiner homöopathischen Ausbildung habe ich gelernt, dass diese Körperempfindungen bei jedem Menschen einen eigenen Ausdruck haben. So berichten Menschen von Empfindungen, die sich wie geschlagen oder verletzt anfühlen. Andere Menschen haben die Empfindung von verdreht und gleichzeitig auseinandergezogen, bei anderen ist es die Empfindung wie zugeschnürt, bei anderen ist es wie zerschmettert und andere haben die Empfindung, ein Stein liegt im Bauch oder ein Wirbelsturm tobt dort.
Wie ist die Empfindung bei Ihnen?
Wenn ich Sie frage, dann deshalb, um Ihre Aufmerksamkeit genau auf den Ort und den Charakter Ihrer Empfindung zu lenken. Das sind wir normalerweise nicht gewohnt und es braucht ein wenig Geduld und Bewusstsein. Jeder Mensch empfindet Gefühle seelisch und zusätzlich eingraviert auf seine individuelle Art in seinem Körper. Bei unangenehmen Gefühlen werden die Körperempfindungen als belastend und schmerzhaft erlebt – aus diesem Grund tendieren wir dazu, diese Körperempfindungen möglichst nicht spüren zu wollen.
Irene nimmt ihre Wut wahr und richtet ihre gesamte Aufmerksamkeit konzentriert auf die begleitende Körperempfindung im Hals. Es steckt ein Kloß in ihrem Hals. Nur noch dieser Kloß ist jetzt wichtig, der Auslöser spielt keine Rolle mehr für den nächsten Schritt.
2.4 Schritt 4: Sich etwas einfallen lassen
Es ist hier wichtig, dem Verstand mitzuteilen, dass er gedanklich spazieren gehen kann, wohin er will. Das logische Denken hat nicht die Aufgabe, eine entsprechende Situation zu finden – damit wäre es überfordert. Es kann neugierig abwarten und sich darauf freuen, welche Erinnerung jetzt aus dem Unbewussten als erste auftaucht. Sie fällt ihm im wahrsten Sinne des Wortes ein. Diese Erinnerung ist in Ordnung, auch wenn der Verstand nicht gleich begreift, was denn diese Erinnerung mit der Wut zu tun hat. Das Unbewusste schickt meiner Erfahrung nach die richtige Erinnerung. Auch wenn Eltern sich zunächst wundern, welche Erinnerung auftaucht und im ersten Augenblick sagen, das habe mit dem Ganzen nichts zu tun, ist es immer wieder überraschend, wieso gerade diese Erinnerung genau die richtige ist.
Meine Erfahrung mit vielen Menschen zeigt mir, dass es Sinn macht, zu betrachten, was als erstes erinnert wird. Wahrscheinlich enthält diese erinnerte Begebenheit Aspekte, die der jetzigen Situation ähneln. Der Mandelkern sagt im übertragenen Sinn: „Damals warst du wütend und jetzt erlebst du die Wut wieder. Pass auf dich auf, das ist wohl ähnlich wie damals! Deine Bedürfnisse werden hier bedroht, du bist schon mal gut gewarnt, um dich in Sicherheit zu bringen, anzugreifen oder dich tot zu stellen.“
Irene denkt jetzt an ihre Kindheit oder Jugendzeit und erinnert sich an folgende Begebenheit, als sie etwa sechs Jahre alt ist:
„Mir fällt am Tisch ein Glas um, mein Vater fängt an zu schimpfen.“
Irene weiß, dass dieses sechsjährige Mädchen im nächsten Schritt Empathie braucht. Sie weiß, dass sie damals sehr erschrocken war, denn sie wollte es dem Vater recht machen, um seine Liebe zu behalten.
Sie kennt dieses sechsjährige Mädchen sehr gut, denn sie ist selbst dieses Mädchen vor vielen Jahren gewesen. In der Erinnerung kann sie noch genau fühlen, wie sie erschrak, als der Vater anfing zu schimpfen. In ihrem Erleben ist das so, als würde das von damals genau jetzt passieren.
2.5 Schritt 5: Empathie fürs Kind
Irene ist die geeignetste Person, da sie jetzt erwachsen ist, die der Sechsjährigen Empathie geben kann. Sie stellt sich also vor, sie sei wieder die kleine sechsjährige Irene genau in der damaligen Situation. In der inneren Vorstellung taucht jetzt zusätzlich die heutige erwachsene Irene auf, die viel mehr Lebenserfahrung hat, als ein kleines sechsjähriges Mädchen. Die damalige Situation wird erneut erlebt. Es gibt nur den einen Unterschied: Jetzt taucht zusätzlich die erwachsene Irene mit all ihrer Lebenserfahrung auf.
Die Erwachsene gibt der jüngeren Irene Empathie und sie vermittelt zwischen ihr und dem Vater. Der Vater kennt noch nicht die Schönheit der Empathie. Der Vater lebt noch in der Welt, in der man davon überzeugt ist, dass Ermahnung kleinen Kindern hilft, zu einem verantwortungsbewussten Menschen heranzuwachsen.
Zum Verständnis des Lesers: Die erwachsene Irene wird mit E. abgekürzt, das sechsjährige Kind mit K. und der Vater mit V. Der gesamte Dialog findet mit der Vorstellungskraft von Irene in ihrem inneren Erleben statt. Irene redet mit ihrem eigenen jüngeren Kind und hört zu, wie dieses antwortet:
E.: „Bist du erschrocken, weil du selbst überrascht bist, wie das passieren konnte mit dem Glas?“
K.: „Ja, es ist einfach passiert.“
E.: „Bist du traurig, weil du möchtest, dass Papa leise...