Soziale Arbeit im „Spannungsfeld“ der Organisation
Christian Loffing
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Ein grundlegendes Verständnis über die Entstehung und Gestaltung von Strukturen und Prozessen in einem Unternehmen im Sozial- und Gesundheitswesen ist für die dort beschäftigten Sozialfachkräfte von entscheidender Bedeutung. Über formelle Strukturen und Prozesse wird das „Miteinander“ in einem Unternehmen geregelt. Kompetenzen und Kommunikationswege werden dadurch transparent und verbindlich, Abläufe werden vereinheitlicht. Aber auch zahlreiche informelle Regelungen in einem Unternehmen sorgen mit dafür, dass eine effektive und effiziente Leistungserbringung möglich wird. Diese dürfen nur nicht den Unternehmenszielen und -werten widersprechen. Der Begriff Unternehmen wird in diesem Beitrag nicht nur für renditegesteuerte, wirtschaftliche Einrichtungen benutzt, sondern dient als Synonym für einen Betrieb, eine Einrichtung oder eine Organisation im Sozial- und Gesundheitswesen.
Die Kenntnis von Strukturen und Prozessen ist jedoch auch aus einer anderen Perspektive relevant. Heutige Unternehmen unterliegen vielfältigen Veränderungsprozessen und benötigen Mitarbeiter mit einem so genannten „commitment-to-change“ (Herscovitch/Meyer 2002, 474). Ein wesentlicher Erfolgsfaktor für die Gestaltung von notwendigen Veränderungsprozessen liegt neben der Schaffung von Transparenz in der aktiven Einbindung der Mitarbeiter. Ziel muss es sein, eine sich stetig den Anforderungen anpassende, eine lernende Organisation zu werden (Senge 2011, 78).
1 Grundlagen der Organisationslehre
Die unternehmensbezogene Organisationslehre beschäftigt sich mit Strukturen (Aufbauorganisation) und Prozessen (Ablauforganisation) in einem Unternehmen. Im Mittelpunkt steht dabei eine möglichst effektive und effiziente Gestaltung, mit der die Gesamtaufgabe eines Unternehmens bewältigt und die Unternehmensziele erreicht werden sollen. Hierbei reicht es heute nicht mehr aus, den Fokus ausschließlich auf die technische Organisation eines Unternehmens zu richten. Insbesondere die sozialen Bedingungen, z.B. das Betriebsklima oder die Arbeitszufriedenheit, müssen heute beachtet und mitgestaltet werden (Loffing/Loffing 2010, 132).
1.1 Der Organisationsbegriff und relevante Merkmale von Organisationen
Der Begriff Organisation wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Vielmehr existiert eine Vielzahl an Begriffsbestimmungen, die sich zum Teil inhaltlich überschneiden, aber auch andere Schwerpunkte setzen.
Während Kosiol unter Organisation „die zielorientierte, integrative Strukturierung von Ganzheiten oder Gefügesystemen“ versteht (1976, 21), definiert Vahs Organisation als den „bewussten Entwurf von Regeln und Strukturen […], die Gebilden, wie beispielsweise einem Unternehmen, eine Ordnung geben“ (1999, 8). Schwarz sieht in dem Begriff Organisation dagegen ein „System dauerhaft angelegter betrieblicher Regelungen, das einen möglichst kontinuierlichen und zweckmäßigen Betriebsablauf sowie den Wirkzusammenhang zwischen den Trägern betrieblicher Entscheidungsprozesse gewährleisten soll, gleichgültig, ob diese Regelungen schriftlich vorliegen oder nicht“ (1972, 13). In diesen Zusammenhang bringt Wöhe noch einen weiteren Aspekt ein, wenn er erklärt: „Unter Organisation verstehen wir einerseits den Prozess der Entwicklung der Ordnung aller betrieblichen Tätigkeiten (Strukturierung) und andererseits das Ergebnis dieses gestalterischen Prozesses, d. h. die Gesamtheit aller Regelungen, deren sich die Betriebsleitung und die ihr untergeordneten Organe bedienen, um die durch Planung entworfene Ordnung aller betrieblichen Prozesse und Entscheidungen zu realisieren“ (1996, 250).
Bereits aus dieser kurzen Analyse ausgewählter Definitionen wird deutlich: Obwohl der Organisationsbegriff nicht einheitlich verwendet wird, lassen sich einige relevante Merkmale von Organisationen ableiten (Loffing/Geise 2009, 69):
- „Organisationen sind zielgerichtete Ordnungen.
- Organisation ist Mittel zur (arbeitsteiligen) Erfüllung der unternehmerischen Gesamtaufgabe.
- Organisationen sind von Dauer.
- Organisationen sind soziale Systeme.
- Organisationen weisen eine (formale) Struktur auf.
- Objekt der Tätigkeit ist ein Organisationsgebilde.“
Angewendet auf Unternehmen des Sozial- und Gesundheitswesens bedeutet das:
Alle Unternehmen im Sozial- und Gesundheitswesen verfolgen Ziele. Diese werden zunächst von Seiten der obersten Leitung formuliert und über die einzelnen Hierarchieebenen ‚heruntergebrochen‘. Während die Ziele der obersten Leitung häufig noch einen sehr abstrakten Charakter haben, werden sich einzelne Ziele der Mitarbeiter in einem Unternehmen ganz konkret z. B. auf den Klienten beziehen. Des Weiteren ist es wichtig, dass in einem Unternehmen im Rahmen der Erfüllung einer Gesamtaufgabe relevante Teilaufgaben formuliert werden. In einem Unternehmen der Kinder- und Jugendhilfe können unterschiedliche Verwaltungsaufgaben von einer dafür vorgesehenen Stelle ausgeführt werden. Um Erziehungsaufgaben kümmern sich dagegen andere Mitarbeiter. Definierte Strukturen und Prozesse geben einem Unternehmen eine Ordnung und sind von Dauer. Diese Dauer kann jedoch einen sehr kurzen oder auch längeren Zeithorizont einnehmen. Des Weiteren handelt es sich bei Unternehmen – insbesondere im Sozial- und Gesundheitswesen – nicht um reine technische Systeme, sondern ganz im Gegenteil auch um soziale Systeme. Berücksichtigung findet dies z. B. durch eine regelmäßige Befragung der Mitarbeiter zu ihrer Arbeitszufriedenheit.
1.2 Formelle und informelle Organisation
In Zusammenhang mit der Klärung des Organisationsbegriffs ist die Unterscheidung einer formellen respektive einer informellen Organisation wichtig. Dabei bezeichnet die formelle Organisation die bewusst geschaffene, rational gestaltete Struktur und Ordnung eines Unternehmens, die der Erfüllung unternehmerischer Zielsetzungen dient. Vereinfacht gesagt, beschreibt die formelle Organisation also die hierarchischen Verhältnisse eines Unternehmens mit den daraus resultierenden Befugnissen und Verantwortungsbereichen respektive die definierten und mündlich oder schriftlich fixierten Prozesse in einem Unternehmen.
Hiervon abzugrenzen ist die informelle Organisation als ein implizit vorhandenes, soziales Organisationsgefüge, das u. a. durch persönliche Ziele, Wünsche, Sympathien und Verhaltensweisen der Mitarbeiter bestimmt wird. Die informelle Organisation lässt sich als System der sozialen Strukturen im Unternehmen interpretieren. Dieses wird nicht durch äußere Festlegung, sondern durch persönliche Sympathien und Antipathien der Mitarbeiter und deren persönliche Interessen definiert.
Für die Organisation sind die informellen Strukturen, die sich in Form von persönlichen Beziehungen, Rollenverhalten oder Normen zeigen, häufig von besonderer Relevanz. Vor allem erweisen sich die Kenntnis und Berücksichtigung der informellen und formellen Faktoren bei der Gestaltung einer Organisation als zentraler Erfolgsfaktor. Entsprechend stellt auch Henning fest: „Es kommt nicht darauf an, welche Regelungen formell bestehen, also auf dem Papier stehen, sondern welche Regelungen wirklich beachtet werden und daher betriebsgestaltend sind. Regelungen, die niemand beachtet, gehören also nicht zur Organisation eines Betriebs, Regelungen, von denen zu vermuten ist, dass sie niemand beachten wird, sollten daher unterlassen werden“ (Henning 1975, 24).
In der klassischen Betriebswirtschaftslehre galt die formelle Organisation lange Zeit als die primär relevante Struktur zur Erreichung der unternehmerischen Ziele. Dagegen wurde das informelle Organisationsgefüge als eine Art Störfaktor angesehen, den es weitgehend einzuschränken galt. Heute hat sich jedoch die Auffassung durchgesetzt, dass informelle Gruppen und Prozesse nicht grundsätzlich als Störquelle zu interpretieren sind, sondern sich sogar förderlich z. B. auf den Betriebsablauf auswirken können. Viele Unternehmen funktionieren nur, da es auch informelle Prozesse und Strukturen gibt.
Die Kenntnis des informellen Gefüges ist aber auch insbesondere deshalb wesentlich, da es trotz aller positiven Effekte auch zu einem Zielkonflikt zwischen formeller und informeller Organisation kommen kann. So kann sich z. B. entlang der formellen Strukturen eine „Nebenhierarchie“ mit so genannten informellen Führern bilden, in der sich eine eigene Verantwortungs- und Aufgabenverteilung ergibt. In diesem Fall, in dem das informelle Gefüge die formellen Regelungen außer Kraft setzt, ist die formelle Organisation dysfunktional. Hier besteht schließlich sogar die Gefahr, dass Unternehmensziele nicht oder nur teilweise erreicht werden. Die Führungskräfte in einem Unternehmen müssen Kenntnis über die informellen Regelungen in einem Unternehmen gewinnen und deren etwaiger Dysfunktionalität entgegenwirken (Loffing 2005a, 89).
Beispiel
In einem Krankenhaus müssen Kompetenzen und Kommunikationswege sowie wesentliche Prozesse geklärt sein. Hierzu werden u.a. Arbeitsverträge geschlossen und Stellenbeschreibungen für alle Mitarbeiter formuliert. Des Weiteren wird die Gesamtstruktur des Unternehmens häufig in Form eines Organisationsdiagramms skizziert. Verbindliche Regelungen werden auch für zahlreiche...