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Manifest für Mensch und Erde

Für einen Aufstand der Gewissen

AutorPierre Rabhi
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl112 Seiten
ISBN9783957574381
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Unser Planet krankt an der Menschheit. Energie-, Klima- und Nahrungsmittelkrise sind Symptome der größten Naturkatastrophe der Erde. Der Mensch erschöpft ihre Ressourcen, bringt das natürliche Gleichgewicht aus dem Lot und betreibt eine zerstörerische Landwirtschaft. Pierre Rabhi - Galionsfigur der Entschleunigungsbewegung, militanter Umweltaktivst, Landwirt in den Cevennen mit südalgerischen Wurzeln - fordert in diesem Manifest einen Aufstand des Gewissens. Dabei geht er über den bloßen Kampf gegen die Imperative der Produktion, des Wettbewerbs und der Wirtschaftlichkeit hinaus. Er erinnert uns daran, dass ein Leben unter Missachtung der Gesetze des Lebenden nicht möglich ist, dass es kein Leben abseits der Natur gibt, und dass, - gerade weil das, was wir als Zivilisation bezeichnen, nur auf Bewährung existiert, - es jedem Einzelnen von uns obliegt, der Zerstörung jetzt ein Ende zu setzen.

Pierre Rabhi, 1938 in Algerien geboren, ist Landwirt, Umweltaktivist und Schriftsteller. Er gilt als einer der Begründer der ökologischen Landwirtschaft in Frankreich und engagiert sich besonders für die umweltfreundliche Entwicklung von Dürreregionen. Zur Beförderung einer ökologischen Lebensweise gründete er die Organisation 'Colibris', die in Frankreich heute mehr als 100 Ortsgruppen hat. Bei Matthes & Seitz Berlin erschien bislang Glückliche Genügsamkeit.

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Leseprobe

Ausweg aus der Sackgasse des gegenwärtigen Wirtschaftssystems


Ganz offenbar kann man sich nicht auf die Feststellung einer Problematik in der Landwirtschaft beschränken, um die Sackgasse begreifbar zu machen, in der wir gegenwärtig stecken. Wenn die moderne Landwirtschaft so zerstörerisch ist und Gesetze des Lebens nicht beachtet, dann rührt das daher, dass sie Teil einer generellen Bewegung der Gesellschaft ist, die zu verstehen und zu überdenken mir ebenso wichtig scheint. Der Mensch hat das Prinzip der Fragmentierung und der körperlichen, psychischen, ideologischen, metaphysischen Dualität errichtet – als Basis des Zusammenlebens und mit allen Streitigkeiten und Gewalttätigkeiten, die direkt und indirekt daraus hervorgehen. Die pyramidale Denkweise, inspiriert von der Fließbandarbeit, hat die Arbeit und die Sicht auf die Welt fragmentiert. Nun ist aber das Leben von der Natur nicht zu trennen.

Von der Notwendigkeit der Veränderung,

um nicht unterzugehen

Aus unserer Oase, dem Planeten, hat der Mensch eine Lagerstätte von Ressourcen gemacht, die maßlos geplündert werden. Wozu immer wieder alle Folgen dieses menschlichen Irrationalismus aufzählen? Längst schon haben sie sich zu einer Art Ultimatum summiert, das uns ausdrücklich zur Veränderung zwingt, damit wir nicht untergehen.

Im Gegensatz zu allen anderen Arten programmieren wir tatsächlich durch Mangel an Intelligenz und Verständnis der Lebenszusammenhänge unseren eigenen Untergang. Einige für die Intuitionen der indigenen Völker empfängliche Wissenschaftler erkennen in jeder Manifestation des Lebens eine »spirituelle« Dimension. Diese Völker konnten das Leben nicht ohne die es bewirkende universelle Intelligenz begreifen. Ein einfacher Gärtner kann, sofern er aufmerksam und frei von Aberglauben ist, die schöpferische Kraft feststellen, die noch das winzigste Saatkorn programmiert. Wie begreift man in einer solchen Samenknospe die Kraft eines Prozesses, der in der Lage ist, Tonnen von Früchten hervorzubringen, die Tausende von Samen enthalten – von dem Moment an, da dieser Samen in die Erde versenkt wurde? Die Behauptung ist nicht unrealistisch, dass man mit einem Weizenkorn die Menschheit ernähren kann. Doch noch sind wir weit davon entfernt. Wir begreifen zwar die Mechanismen der Keimung und des Wachstums, doch die Einsicht in den Ursprung dieser Kraft verschließt sich in einem Mysterium, zu dem wir allein durch den Verstand keinen Zugang finden. Diese Einsicht in unsere Geringfügigkeit lässt uns das Ausmaß und die Komplexität eines Phänomens ermessen, bei dem wir zwar eine gewisse Logik erkennen können, dessen Ursache und Zweck uns aber verborgen bleiben. Im Leben der Pflanzen und Tiere scheint in der Tat alles von einer so feinen »Organisation« bestimmt zu sein, dass dies nicht die Wirkung eines Zufalls sein kann.

Der Preis für das »Wunder« der Industrie:

Eine noch nie dagewesene Umwälzung

durch Bodenschätze (Kohle und Eisenerz)

Bis heute haben wir keinen Nutzen aus dieser Weisheit ziehen können, um unsere Gesellschaft zu organisieren. Im Gegenteil: Wir haben eine eigene Logik entwickelt, die weit entfernt von jedem Zusammenhang mit dem Leben ist. Zu den Gründungsmythen der Moderne, die am tiefsten in der allgemeinen Auffassung, im kollektiven Bewusstsein und der gesamten Struktur der heutigen Gesellschaft verwurzelt sind, gehört vor allem der Entwicklungsgedanke. Dieser Gedanke erweist immer mehr seine katastrophalen Auswirkungen und seine vollständige Unangemessenheit für einen positiven Gang der Geschichte. Der Gedanke an Entwicklung ist das älteste Geschöpf einer industriellen, technisch-wissenschaftlichen Welt der Produktion und des Handels, wie es sie innerhalb der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hatte. Um die Bodenschätze, brennbare wie nicht brennbare, etwa Kohle und Eisenerz, durch die Beherrschung einiger physikalischer Prinzipien zutage zu fördern, war eine Schwerindustrie erforderlich, die Maschinen herstellte und andere technologische Neuerungen hervorbrachte. Dies geschah alles so plötzlich, dass man es geradezu als historisches Erdbeben bezeichnen muss. Vor nur zweihundert Jahren konnte Bonaparte, so allmächtig er auch war, nur sehr partiell von diesem Fortschritt profitieren. Er führte seine militärischen Feldzüge auf dem Rücken seines Pferdes, gerade so wie die Potentaten, die ihm in all den Jahrhunderten und Jahrtausenden vorhergegangen waren, etwa Alexander der Große, Julius Cäsar oder Dschingis Khan. Durch die erwähnte große Veränderung hat das Pferd, das Tier, der dampfgetriebenen Pferdestärke Platz gemacht.

Die Begeisterung, die durch solche Wunder bewirkt wurde, hat eine neue Ordnung begründet, eine Art industrielles Wunder. Der Glaube an die Vernunft als befreiendes Prinzip kam auf. Was dabei mehr oder weniger übersehen wurde, ist, dass dieses Wunder vom Zusammentreffen mehrerer günstiger Faktoren profitieren konnte:

_____ das erfinderische Genie des Westens in Physik, Mechanik, Chemie, Elektromagnetik, welches das Zeitalter der »Verbrennung« einläutete, womit die gesamte Organisation der vorigen Welt auf den Kopf gestellt wurde;

____ die Ersparnisse aus der Landwirtschaft (der Notgroschen) zur Bildung von Grundkapital;

____ die Arbeitskraft der ärmsten Bauern, die zu den härtesten Arbeiten des Erzabbaus für die Hochöfen herangezogen wurden. Ehe der Taylorismus den Nutzen aus diesem Mangel an Qualifikation zog, indem er die Fließbandarbeit einführte, wurden nationale Handwerkskräfte längere Zeit durch große Einwanderungswellen aus Europa und Übersee verstärkt.

____ die Rohstoffe, die Energie durch Verbrennung und die Arbeitskraft aus den riesigen kolonisierten Gebieten auf fast dem gesamten Globus. Man weiß, dass die »Entdeckung« Amerikas den Transfer kolossalen Reichtums ermöglicht hat, was nur der Anfang dessen war, was man sehr wohl als zivilisierte Plünderung bezeichnen kann.

In dieser Lage hat Europa, das als einziger Kontinent diese gewaltige Veränderung durchgemacht hat, sich seines Bevölkerungsüberschusses durch große Migrationswellen der angelsächsischen, der romanischen und anderer Völker entledigt.

So gesehen beruht das industrielle Wunder auf einer Konzentration der Mittel. Gleichwohl ist es als das Modell errichtet worden, das Fortschritt versprach, für die Menschheit ganz allgemein, die hier ihr Heil fände und endlich von den Grenzen befreit wäre, die ihr die Natur auferlegt hätte.

Doch man kann unschwer erkennen, dass ein Zivilisationsmodell, das von so vielen günstigen Faktoren profitiert, nur ein paradoxes Phänomen sein kann, das ohne Konkursanmeldung des Planeten nicht durchgesetzt werden kann. Und nur weil bislang einzig eine eher kleine Anzahl unserer Mitmenschen dieses Modell anwenden konnte, hat die Menschheit bislang überlebt.

In der Verbrennungskultur stellt sich sogar

die Erziehung in den Dienst von

Bruttoinlandsprodukt und Bruttosozialprodukt

Die Industriekultur beruht mithin auf dem Verbrauch von Energie, was die Verbrennungskultur zur Folge hat. Die Verbrennungsenergie wird so zum wichtigsten Referenzpunkt und bestimmenden Wohlstandsfaktor. Der Einsatz von Maschinen, den sie bewirkt, lässt den Grundsatz der Produktivität entstehen. Die Industrienationen sind nach der Ideologie des unendlichen Wachstums ausgerichtet. Jeder Bürger ist seit seiner Kindheit dazu erzogen, sich Kenntnisse anzueignen, um dem neuen Dogma zu dienen: hart zu arbeiten und zu konsumieren, um das Bruttoinlandsprodukt und Bruttosozialprodukt seines Landes zu heben. Bruttoinlandsprodukt und Bruttosozialprodukt werden zu Referenzpunkten, die es ermöglichen, die erhaltenen monetären Ergebnisse zu messen. Die Idee des Fortschritts übersetzt vor allem materielle und gewinnbringende Errungenschaften, und anstelle von Gerechtigkeit und Wohlergehen generiert sie gewaltige Ungleichheiten auf der ganzen Welt. Ein Fünftel der Menschen, die von diesem Prozess betroffen sind, verbraucht vier Fünftel der Reichtümer dieser Erde, und das verbleibende Fünftel ist ungleich aufgeteilt. Anders dargestellt: Stellen wir uns fünf Personen vor, die an einem Tisch sitzen, um einen Laib Brot zu teilen. Einer der fünf gönnt sich vier Fünftel dieses Mannas und lässt den vier anderen ein Fünftel übrig. Einer der vier nimmt sich die Hälfte dieses Restes, der Zweite ein Viertel und lässt das verbleibende Viertel ungerechterweise den beiden Letzten.

Diese strukturelle Ungleichheit macht aus der Beraubung der Allermeisten die Überlebensbedingung der Minderheit. Nachdem man das zur Kenntnis genommen hat, kam die Idee der Entwicklung auf, doch nicht so, dass die Exzesse der einen reduziert würden, damit den anderen geholfen wird. Vielmehr sollten die sogenannten »zurückgebliebenen« Nationen ihr Niveau...

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