Das Jahrhundert der Heiligen (13. Jahrhundert)
Elisabeth von Thüringen – Fürstin, Dienerin, Heilige
Marburg unterschied sich zu Beginn des 13. Jhs. – auch unter Berücksichtigung seines beachtlichen Wachstums – von den zahlreichen anderen thüringischen Stadtgründungen dieser Zeit wohl nur durch die Burg, die von den Landgrafen als militärischer und administrativer Stützpunkt zur Absicherung ihres Besitzes in Oberhessen immer weiter ausgebaut wurde. Dann aber trat ein Ereignis ein, das der Stadt eine besondere, ganz neue Bedeutung und ihrer Entwicklung schon bald einen zusätzlichen Impuls geben sollte: die Ankunft der verwitweten Landgräfin Elisabeth im Jahr 1228. Ihr eilte der Ruf einer Frau mit absolut unstandesgemäßem Verhalten voraus.
Wer war diese Frau, die im so von Männern dominierten Mittelalter zu den wenigen herausragenden weiblichen Persönlichkeiten ihrer Zeit gehört, die unangefochten in der deutschen Geschichte ihren Platz haben? Und das nicht etwa aufgrund besonderer politischer, künstlerischer oder wissenschaftlicher Verdienste. Als sie nach Marburg kam, war die junge Witwe gerade erst 21 Jahre alt und hatte drei Kinder im Alter von sechs, vier und einem Jahr. Nur wenig mehr als drei Jahre waren ihr dann noch vergönnt bis zu ihrem frühen Tod. Schon wenige Jahre später wurde sie heiliggesprochen und ihr Grab in der Elisabethkirche für lange Zeit zur viel besuchten Wallfahrtsstätte.
Ein überzeugender Beweis dafür, dass Ansehen und Verehrung Elisabeths als ein über die Zeiten hinweg leuchtendes Vorbild für selbstloses soziales Engagement auch heute noch unverändert groß sind, war ihre umfassende Würdigung durch eine Vielzahl von Veranstaltungen und Publikationen aus Anlass ihres 800. Geburtstages im Jahr 2007 vonseiten der protestantischen und katholischen Öffentlichkeit und darüber hinaus.
Elisabeth auf der Wartburg
Elisabeth wurde 1207 als Tochter des Königs von Ungarn, Andreas II., und seiner Gattin Gertrud von Andechs-Meranien geboren und – im Rahmen gezielter Heiratspolitik – schon im Alter von vier Jahren mit dem ältesten Sohn Landgraf Hermanns I. von Thüringen verlobt. Der ungarische König erwartete von der dynastischen Verbindung mit der Familie eines einflussreichen Reichsfürsten die Festigung seiner Machtstellung gegenüber dem ungarischen Adel und seinen Nachbarn auf dem Balkan. Und für die im Streit zwischen Welfen und Staufern auf ihren Vorteil bedachten Ludowinger bedeutete eine Königstochter in der Familie eine weitere Steigerung ihres Prestiges in einer unruhigen Zeit, in der der junge Stauferkönig Friedrich II. gerade begann, seine Herrschaftsansprüche im Reich durchzusetzen.
Abb. 3: Elisabeth und Ludwig an der fürstlichen Tafel (Detail vom Elisabethaltar in der Marburger Elisabethkirche).
So gelangte Elisabeth als Vierjährige mit reicher Ausstattung an den thüringischen Hof auf der Wartburg und wuchs zusammen mit den acht Landgrafenkindern auf, um auf ihre künftige Stellung als Landgräfin vorbereitet zu werden. Dabei ließ sie schon früh erkennen, dass sie bei aller kindlichen Ungezwungenheit von einem ungewöhnlich starken Gefühl für religiöse Fragen erfüllt war. Die Hochzeit Elisabeths im Jahr 1221 mit dem Landgrafensohn Ludwig, der vier Jahre zuvor als Siebzehnjähriger die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, ging zwar auf nüchternes politisches Kalkül zurück, war aber dennoch ungewöhnlich – nicht etwa, weil die Braut erst 13 war, sondern weil die Eheleute von Anfang an in inniger Liebe miteinander verbunden waren. Dies gab Elisabeth den nötigen Rückhalt, das zu tun, was von ihrer Umgebung mit Unverständnis, Kritik oder gar heftiger Ablehnung verfolgt wurde: Beispielsweise nahm sie nicht nur, wie es üblich war, an Festtagen, sondern stets ihren Platz neben ihrem Mann an der landgräflichen Tafel ein, und sie stand lieber hungrig oder durstig auf, als von Speisen zu essen, die möglicherweise unrechtmäßig auf den Tisch gekommen waren. Sie legte, wenn sie die Messe besuchte, jeglichen Schmuck und Zierrat ab, kleidete sich auch sonst betont schlicht, ja ärmlich. Sie trug, wenn ihr Mann abwesend war, Witwenkleidung oder ein Bußhemd und sie war überaus freigebig gegenüber Bedürftigen, aufopferungsvoll und ohne Furcht vor Ansteckung bei der Fürsorge für Kranke und großzügig bei der Verteilung von Nahrungsvorräten aus landgräflichem Besitz, so etwa im Hungerjahr 1226. Dabei konnte sie stets der Zustimmung Ludwigs und seiner Unterstützung sicher sein – nicht zuletzt dann, wenn er zur Wahrnehmung seiner vielfältigen Aufgaben und Interessen, sei es als Landgraf und Reichsfürst, sei es als Oberhaupt einer weitverzweigten Familie, nicht nur im weiten Raum zwischen Dresden und Marburg, sondern darüber hinaus, häufig abwesend war. So erhielt er beispielsweise 1222 die Nachricht von der Geburt seines Sohnes Hermann während einer Gerichtssitzung in der ecclesia maior von Marburg.
Abschied von Ludwig
Das Jahr 1226 leitete die Veränderung ein, die Elisabeths Leben loslösen sollte von der bisher vorgezeichneten Bestimmung als Ehefrau, Mutter und Landgräfin. 1223/24 hatte Papst Honorius III. erneut zu einem Kreuzzug aufgerufen und in seinem Auftrag waren überall im Reich Kreuzzugsprediger unterwegs. Einer von ihnen war Magister Konrad von Marburg, der 1226 auch an den thüringischen Hof kam, wo er durch sein asketisches Wesen und überzeugende Armut nicht nur Elisabeth, sondern auch den Landgrafen beeindruckte, der zu dieser Zeit auch aufgrund seiner engen Verbindung zu Friedrich II. schon den Entschluss gefasst hatte, am bevorstehenden Kreuzzug teilzunehmen.
Elisabeth wählte im Einvernehmen mit Ludwig den Kreuzzugsprediger Konrad nicht nur zu ihrem Beichtvater, sondern legte vor ihm auch das feierliche Gelübde ewiger Keuschheit ab für den Fall, dass sie ihren Mann überleben sollte – ein überzeugender Beweis für ihre große Liebe zu Ludwig, aber zugleich auch eine erstaunliche Festlegung im Alter von kaum 19 Jahren mit der in diesem Augenblick keinesfalls abwegigen Aussicht, dass ihr Mann auf dem Kreuzzug den Tod finden könnte.
Während seiner Abwesenheit 1226 hatte Ludwig seiner Frau Elisabeth die Regentschaft übertragen, eindrucksvoll belegt durch die Prägung von Brakteaten (gestanzte dünne Silbermünzen) 1226/27, die Ludwig als Kreuzfahrer und neben ihm Elisabeth mit den Regierungssymbolen Zepter und Reichsapfel zeigen. Für die erwartungsgemäß wesentlich längere Abwesenheit während der Kreuzfahrt setzte er jedoch seinen Bruder Heinrich Raspe als Regenten ein.
Abb. 4: Elisabeth nimmt Abschied von Ludwig 1527 (Detail vom Elisabethaltar in der Marburger Elisabethkirche).
Ludwig brach im Juni 1227 mit seinem Gefolge aus Eisenach auf. Elisabeth, die mit ihrem dritten Kind schwanger war, soll ihn noch zwei oder drei Tagereisen weit begleitet haben, um den Abschied hinauszuzögern. Im August trafen die Thüringer mit Kaiser Friedrich in Süditalien zusammen, von wo das Kreuzfahrerheer per Schiff von Brindisi aus ins Heilige Land gelangen wollte. Während des Wartens auf die Überfahrt brach eine Seuche aus, der Tausende Kreuzfahrer zum Opfer fielen. Am 13. September erlag ihr in Otranto auch Landgraf Ludwig.
Elisabeth verlässt die Wartburg
Als Elisabeth – nur wenige Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Gertrud – die Todesnachricht erhielt, brach für sie eine Welt zusammen. Nun war ihr Schwager Heinrich Raspe Landgraf, der eigentlich der verantwortungsvolle Vormund für ihren fünfjährigen Sohn Hermann bis zu dessen Volljährigkeit sein sollte, aber sogleich keinen Zweifel daran ließ, dass seine Regentschaft von Dauer sein werde. Dazu gehörte auch, dass er seiner Schwägerin die ihr eigentlich zustehende Verfügung über ihr Witwengut nicht gestattete und ihr damit die Möglichkeit nahm, ihre bisherigen, bei Hofe Ärgernis erregenden Gewohnheiten, wie Freigebigkeit bei der Almosenverteilung oder Vorbehalte bei der Speisenauswahl, fortzusetzen. Als sich der Konflikt zuspitzte, verließ Elisabeth in einer Winternacht zusammen mit ihren Hofdamen Guda und Isentrud, aber ohne ihre Kinder die Wartburg und fand zunächst Zuflucht in einer überaus ärmlichen Unterkunft in Eisenach. Dabei war sie keineswegs verzweifelt, sondern geradezu erleichtert, sodass sie um Mitternacht die Brüder in der Minoritenkirche bat, ein Tedeum anzustimmen.
Die folgenden Monate, in denen sie sich um die Unterbringung ihres fünfjährigen Sohnes Hermann und ihrer dreijährigen Tochter Sophia bei ihren fürstlichen Verwandten mütterlicherseits bemühte, verbrachte sie, ausgestoßen von der ludowingischen Familie und ihren bisherigen Standesgenossen, in äußerster Armut. Am Karfreitag des Jahres 1228 gelobte sie im Beisein ihres nach Eisenach geeilten Beichtvaters und vom Papst bestellten Defensors Konrad von Marburg in der Kapelle der Franziskaner in Eisenach feierlich den völligen Verzicht auf ihre »Kinder und auf den eignen Willen, auf allen Glanz der Welt und auf alles, was zu verlassen der Heiland im Evangelium rät«. Konrad hinderte sie allerdings energisch daran, auch auf ihre Besitzansprüche zu verzichten, mit der Begründung, dass sie sonst keine Möglichkeit mehr habe, die Schulden ihres Mannes zu bezahlen und Bedürftige und Kranke zu unterstützen.
Ihre erbärmliche Lage besserte sich erst, als Elisabeth zusammen mit ihrer Tochter Gertrud sowie Guda und Isentrud von Bischof Ekbert, ihrem Onkel, nach Bamberg geholt wurde. Seinem Plan, sie wieder zu verheiraten, widersetzte sich Elisabeth jedoch entschieden – sie wolle sich eher die Nase abschneiden, drohte sie.
Ekbert und Konrad von Marburg verhandelten mit der landgräflichen Familie über die Herausgabe des Witwengutes –...