Einleitung
Marine Le Pen –
Ikone der Rechten
Für viele Franzosen ist sie die »Tochter des Teufels« – für zahllose Rechtspopulisten und Rechtsradikale in Frankreich und Europa eine Ikone: Marine Le Pen, jüngste Tochter des Antisemiten und Fremdenlegionärs Jean-Marie Le Pen, der vor ihr jahrzehntelang das Gesicht der Ultrarechten in Frankreich prägte.
Marine Le Pens Aufstieg zur zweifelhaften Heldin erfolgte in Lichtgeschwindigkeit. Während ihr lange dominierender Vater, dem sie Stück für Stück entschlossen die Macht entriss, heute kaum mehr Einfluss zu haben scheint, ist Marine in nur wenigen Jahren zur neuen Galionsfigur der Rechten geworden – zur Frontfrau einer Bewegung, die alles, was in Europa in einem halben Jahrhundert an liberaler Rechtsstaatlichkeit und verlässlicher Friedensordnung geschaffen wurde, infrage stellt und rückgängig machen will.
Kein Zweifel, die Entwicklung ist alarmierend: In den jungen Demokratien Ungarns, Polens und in vielen anderen osteuropäischen Staaten ist das Wiedererwachen rechtsextremer Strömungen in Gesellschaft, Medien und Politik nicht mehr zu übersehen. Mehr noch: Sie erobern die Mitte dieser jungen Demokratien und das mit großem Tempo. Längst stellt sich die Frage, ob sie angesichts der Entsorgung von demokratischen Grundprinzipien wie Pressefreiheit, Gewaltenteilung oder Minderheitenschutz nicht bald schon als Autokratien zu bezeichnen sind.
Doch dabei bleibt es nicht. Plötzlich brechen sich der wirtschaftliche Strukturwandel sowie die Unzufriedenheit mit den politischen Parteien dem rechten Radikalismus auch in Ländern mit längerer demokratischer Tradition Bahn, etwa in Österreich, Großbritannien oder Deutschland. Rechts – und rechtsextrem – zu denken scheint wieder hoffähig geworden zu sein.
Spätestens seitdem die schmerzhaften Auswirkungen von Finanz- und Eurokrise immer spürbarer werden, sind die Menschen in Europa geladen, zeigen sie ihren Frust. Sie spüren: Die fetten Jahre sind vorbei. Und sie begreifen: Die Globalisierung schafft nicht nur Gewinner, wie man es ihnen versprochen hatte, sie schafft auch Verlierer. Ähnliches gilt für die Digitalisierung und die mit ihr verbundenen zu erwartenden Verwerfungen in der Arbeitswelt. Globalisierung wie Digitalisierung verursachen nicht nur wirtschaftlichen Strukturwandel, sie schüren auch Verteilungskämpfe. Die Ängste vor dem sozialen Abstieg wachsen allerorten – idealer Nährboden für Rechtspopulismus und -extremismus und seine Anführer.
Dass die wirtschaftlich am härtesten getroffenen Arbeiter und Angestellten angesichts schwindender Perspektiven zu den Populisten und Extremen tendieren, lässt sich womöglich noch nachvollziehen. Doch es zeigt sich, dass auch die Mittelschicht nicht immun ist gegenüber den Versprechungen, alles würde wieder »gut«, wenn man sich nur auf seine nationalen Werte besinne, was auch immer das im Einzelfall ist. In ganz Europa sind die Menschen, wie es aussieht, eliten-, parteien- und politikmüde geworden und anfällig für die von den Rechten propagierten Volksabstimmungen, die nur allzu leicht für andere Zwecke instrumentalisiert werden können.
Die Frage muss gestellt werden: Was wird aus der Politik in einer Demokratie, wenn plötzlich alle ihre Spielregeln durch eine kleine Gruppe infrage gestellt werden, wie im Fall des US-Präsidenten Donald Trump? Noch dazu, wenn diese Gruppe vorgibt, antielitär zu sein und gegen das bestehende »System« zu agieren, tatsächlich aber selbst zur Elite gehört und immer immens vom »System« profitiert hat?
In Frankreich, der Grande Nation mit globalem Führungsanspruch, hat rechtsextremes Gedankengut eine lange Tradition. Es hat seine Ursprünge in der Zeit, in der die Atom- und ehemalige Kolonialmacht ihre Weltmachtstellung verlor. Jean-Marie Le Pen war es, der mit antisemitischer, fremdenfeindlicher und nationalistischer Rhetorik diese Kränkung ausnutzte und 1972 die rechtsextreme Partei Front National begründete. Mit ihr und innerhalb von dreißig Jahren wurden Jean-Marie Le Pens Ideologien gleichsam schleichend immer hoffähiger – und 2002 konnte Le Pen in der Wahl zum französischen Staatspräsidenten knapp 17 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen. Schon damals waren wirtschaftliche Schwierigkeiten in Frankreich deutlich erkennbar, und es zeigten sich starke Risse im Sozialgefüge. Beides suchte Le Pen für sich zu nutzen.
Der Trend nach rechts hat sich seither fortgesetzt. Und seit Marine Le Pen im Januar 2011 die Präsidentschaft der Partei übernahm, scheint den Front National nichts mehr aufhalten zu können. Mit stetig wachsendem Wählerstimmenanteil eilt Marine Le Pen nun von Erfolg zu Erfolg. Und sie hat zwei klare Ziele: Sie will direkt gewählte Präsidentin werden, wann auch immer ihr das gelingt. Und sie will den Front National neben den beiden großen Parteien – Sozialisten und konservative Republikaner – als zentrale politische Kraft etablieren und mitregieren, am liebsten an der Spitze.
Eine rechte oder gar rechtsextreme Präsidentin mit der Hand am Auslöser der Atomraketen? Nicht wenigen schaudert vor dieser Vorstellung – auch wenn viele sie verdrängen. Oder sich ein solches Szenario schönreden, etwa indem sie anführen, dass Le Pen, einmal an der Macht, ja gar nicht so schlimm werde, sich anpassen und am Ende moderater, als sie derzeit auftrete.
Was hat die »Tochter des Teufels« bewogen, ihren Vater auf dem Altar der Parteitaktik zu opfern? Mit welcher Strategie verfolgt sie ihre Ziele? Gibt es ein koordiniertes Szenario der Machteroberung durch die Rechten und Ultrarechten in ganz Europa? Gibt es vielleicht sogar Parallelen zu den 1930er-Jahren, der Situation vor der Machtergreifung der Faschisten und Nationalsozialisten? Wie stabil ist die Demokratie – in Frankreich, in Deutschland, in Österreich, auf dem gesamten alten Kontinent? Und wie stabil damit der Frieden?
Es war François Mitterrand, der in einer seiner letzten großen Reden vor dem Europäischen Parlament in Straßburg im Jahr 1995 – bereits von schwerer Krankheit gezeichnet – die Europäer beschwor: »Le nationalisme, c’est la guerre«. Etwa: Nationalismus bedeutet Krieg. Wer hätte vor Kurzem noch gedacht, dass wir uns diesen Satz heute in Erinnerung rufen müssen, um nicht das Falsche zu tun?
In einer Zeit, in der die großen Volksparteien allerorten einander immer ähnlicher werden und, so will es scheinen, keine nachhaltigen Lösungen für Arbeitslosigkeit, Einwanderung und soziales Elend anbieten können, dominieren die simplen Parolen der Populisten und Extremen – vor allem von rechts. Ihre Botschaft ist klar: Schuld sind die anderen – die Flüchtlinge, die Kinder der Einwanderer, das internationale Finanzkapital, die globalen Weltmärkte, die Digitalisierung, »die da in Brüssel«. Europas zahllose Probleme – Euro-Desaster, Schuldenberge, wirtschaftlicher Strukturwandel, Migrationsströme, Brexit-Votum, das Fehlen einer gemeinsamen Sozialordnung oder eines gemeinsamen Sicherheitskonzeptes – spielen Marine Le Pen und ihren zahlreich gewordenen rechten Mitstreitern in die Hände.
Werden die rechten und ultrarechten Parteien Europas die politischen Institutionen erobern, so wie sie bereits einen festen Platz im Europäischen Parlament haben – das sie gleichzeitig finanziert? Wollen sie die Systeme unterwandern oder politikfähig werden? Etwa indem sie sich »sanfter geben«, als sie in Wirklichkeit sind? Wie ernst also ist es etwa Marine Le Pen mit der »Entdämonisierung« ihrer Partei? Diesen Begriff – die dédiabolisation, wörtlich: »Entteufelung« – hat die Partei im Übrigen selbst geprägt. Das Ziel dieses neuen Branding ist klar: Die mit ihm verbundene »sanftere Strategie« soll dem Front National neue Wählerschichten anziehen.
Das zeigt sich in Vielem, vor allem an der Spitze: Auf den polternden Patriarchen mit seinen antisemitischen Ausfällen folgt die strategisch klügere Anwältin, die sich zudem besser im Griff hat als der Vater. Ihr Politikstil ist oberflächlich gesehen weniger brutal und nicht so aggressiv, und er trifft sich dabei mit dem ähnlich erfolgreicher Parteien im Ausland. Aber die Kernziele des Front National sind unverändert geblieben: Es geht weiterhin um die Vorherrschaft der Weißen und gegen Europa. Und es geht gegen die parlamentarische Demokratie, es geht gegen Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und andere liberale Werte, wie viele von uns sie heute für selbstverständlich nehmen.
Der Erfolg von Marine Le Pen ist eine Warnung – für ganz Europa. Und die Parteiführerin wird inzwischen weltweit beachtet. 2015 rangierte sie im TIME Magazine unter den 100 wichtigsten Persönlichkeiten der Welt. Längst sollte klar sein: Sie ist keine von den Medien geächtete Randfigur mehr, sondern hat sich ins Zentrum des politischen Lebens in ihrem Heimatland vorgearbeitet. Im immerwährenden Kampf um Aufmerksamkeit verhilft die digitale Medienöffentlichkeit, wie das Beispiel Trump zeigt, gerade extremen Positionen zu besonderer Aufmerksamkeit. Auch Le Pen profitiert davon.
Die herkömmlichen Parteien scheinen hilflos gegenüber den simplen, eingängigen Parolen der Rechtspopulisten und Rechtsextremen. Mit rationalen Argumenten ist ihnen kaum beizukommen, und die Wahrheit zu sagen hat in der Politik noch nie wirklich funktioniert. Unter dem Druck von rechtem Populismus und Extremismus – und durch die Erfahrungen mit der digitalen...