Herzensentscheidung
Manche Verhaltensweisen wiesen bei Martha bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf eine mögliche Demenz hin. Manche der Veränderungen geschahen sanft, ich bemerkte sie kaum. Sie rief mich täglich mehrmals an, hinterließ Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, erkundigte sich nach meinem Befinden und wollte wissen, welchen Beschäftigungen ich gerade nachgehe. Andere Auffälligkeiten, die damals für mich allerdings noch keine waren, betrafen klare Erinnerungslücken. Vieles führte ich anfänglich auf ihr Alter zurück. Ich erinnere mich aber auch an eine Episode beim Kleidereinkauf. Sie schien überfordert von der Warenvielfalt, und die Kleider aussuchen, anprobieren und dann an der Kasse bezahlen war eine zu große Herausforderung.
Menschen mit Demenz realisieren oft über einen längeren Zeitraum hinweg, was mit ihnen geschieht. Sie können Orientierungslosigkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit, Wortfindungsstörungen und zunehmende Vergesslichkeit aber nicht oder nur unzureichend einordnen, sind verunsichert, was auch dem allgemeinen Gemütszustand abträglich ist. Gleichzeitig sind sie Meister im Schummeln und Überspielen.
Insbesondere im Bereich von Erinnerungslücken springt häufig das Umfeld ein, wann immer ein Wort nicht gefunden oder ein Gedanke nicht zu Ende gebracht werden kann. Obwohl die Hoffnungen schwinden, dass alles nicht so ist, wie man längst ahnt, versuchen wir an der Normalität festzuhalten. Menschen mit Demenz zeigen auch auf, wie sehr wir nach immer gleichen Vorstellungen und praktischen Routinen funktionieren: Eine Pfanne wurde dreißig Jahre lang so und nicht anders auf den Herd gestellt. Nach dem Spielfilm ging man gleich zu Bett. Im Bad war Ordnung. Die Rechnungen wurden pünktlich bezahlt. Am Samstag wusch man das Auto.
Menschen mit Demenz sehen in solchen und vielen anderen Tätigkeiten keinen Sinn. Manches haben sie vergessen, wollen es anders ausführen als bisher. Das kann eine große Herausforderung sein für die Angehörigen: Eine einst ordentliche Frau wird plötzlich zur Chaotin. Ein Mann, der stets das Oberhaupt der Familie war, nimmt die damit verbundenen Aufgaben nicht mehr wahr. Streitlust bei ehemals friedlichen Naturen, die Anhänglichkeit von Menschen, die bisher distanziert und kühl agierten, sorgen ebenfalls für Irritation und Ratlosigkeit.
Ich erinnere mich im Rahmen meines späteren Engagements an ein älter werdendes Ehepaar, das sich viel stritt. Die Kinder distanzierten sich, mischten sich nicht ein. Als die Ehefrau notfallmäßig in die Psychiatrie eingewiesen wurde und man nach der Ursache suchte, wurde beim Ehemann eine Demenz diagnostiziert. Sein verändertes Verhalten, jedoch auch das Unvermögen seiner Frau, aktiv zu werden, sich zu schützen, Hilfe zu beanspruchen und umzudenken, hatten zu ihrem Zusammenbruch geführt. Auch Urteile von außen und das belastende Mitleid haben Auswirkungen. Die Demenz wird in unserer vernunftgesteuerten Gesellschaft abgewertet, und viele von uns äußern sich wertend und negativ über Menschen mit Demenz, sind nicht fähig, sich in ihre Daseinsebene einzufühlen.
Die veränderte Situation ist auch für die Erkrankten sehr belastend. Der Statusverlust, die Tatsache, ihren Willen nicht länger durchsetzen zu können und auch nicht mehr in gewohnter Art und Weise am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben, fällt vor allem leistungsorientierten, ehrgeizigen und erfolgreichen Menschen in der ersten Phase besonders schwer. Schamgefühle und ein negatives Selbstwertgefühl sagen aber auch etwas über die Gesellschaft aus, in der wir leben: dass man zum Außenseiter oder zu einem Nichts abgestempelt werden könnte, sobald die sogenannte Normalität ins Wanken gerät.
Die Angst vor dem Prestigeverlust und dem möglichen gesellschaftlichen Ausschluss kann dazu führen, dass über das Thema nicht gesprochen wird. Alles wird verdrängt, vertuscht, ignoriert. Ein Lichtblick war in diesem Zusammenhang die Begegnung mit einem sechzigjährigen Juristen, den ich kürzlich kennen lernte, einem gut aussehenden Herrn, mitten im Leben stehend, klug, distinguiert, gebildet. Öffentlich sagte er den einfachen Satz, der vielen so unendlich schwerfällt: »Ich bin dement.« Punkt. Diese Offenheit und dieses starke Selbstbewusstsein sind vorbildlich, beides trägt dazu bei, dass das Thema Demenz von Vorurteilen und einseitiger Betrachtung befreit werden kann. Eine solche Haltung zeigt auch, dass sich Wertvorstellungen verändern und das Annehmen dessen, was ist, die inneren Wogen glätten kann. Bereits gibt es Visitenkarten mit dem Aufdruck »Ich bin dement, haben Sie bitte Geduld mit mir«. Auf der Rückseite ist die Telefonnummer der jeweiligen Kontaktperson aufgedruckt.
Was, wenn in einer Partnerschaft der Verdacht aufkommt, dass die Partnerin oder der Partner an Demenz erkrankt sein könnte, zum Beispiel weil sich eine deutlich fortschreitende Vergesslichkeit zeigt oder es – nach einer jahrzehntelangen harmonischen Ehe – immer wieder zu Streitigkeiten kommt, die es früher in der Heftigkeit ganz einfach nicht gab? Soll dann das Risiko eingegangen werden und der Verdacht, dass die neu auftretenden Probleme eventuell auf eine beginnende Demenz hinweisen könnten, thematisiert werden? Oder soll der Partnerin, dem Partner unterstützend und ohne großes Aufheben beigestanden werden, bis die Situation ausweglos erscheint und es keinen anderen Ausweg mehr gibt, als endlich ärztliche Hilfe zu suchen?
In Memory-Kliniken werden Betroffene und Angehörige mit Ergebnissen der Untersuchungen konfrontiert, die das große Schweigen beenden. Wichtige organisatorische Fragen können erörtert werden, die Planung der nahen und vor allem der fernen Zukunft. Welche Verantwortungen und Aufgaben werden organisiert und delegiert, und welche können von der Familie erbracht werden? Auch Patientenverfügungen, Vorsorgevollmachten oder testamentarische Anliegen können geregelt werden oder Fragen, wie der Betroffene im späteren Stadium leben möchte, welche Hilfeleistungen er befürwortet, bis hin zu Abklärungen, ob man bis zuletzt zu Hause bleiben kann und wenn nicht, welche Institution zu wählen wäre. Die Klärung all dieser Fragen ist schmerzvoll, andererseits sind die Antworten – wenn sie denn einmal gefunden sind – oft auch eine Erleichterung.
Nach Marthas Schlaganfall und als erkannt worden war, dass sie Demenz hatte, bereitete ich ihre Wohnung auf ihre Rückkehr aus dem Krankenhaus vor. Martha in häusliche Pflege zu nehmen, war eine Herzensentscheidung. Über die Konsequenzen dachte ich nicht nach, und als mir dann bewusst wurde, was es für Martha bedeutete, machte ich einfach weiter. Von Anfang an war klar, dass ich die Grundpflege nicht übernehmen würde. Für diese Aufgaben organisierte ich professionelle Unterstützung, die mich entlastete. Selbständig wurde Martha nicht mehr. Nach einigen Nächten, in denen sie mich durch ihr Rufen nervte, konnte ich mich in sie hineinfühlen und mir zudem vorstellen, was manche Angehörige diesbezüglich durchzustehen haben. Erleichternd war bei uns, dass Martha nicht mobil war. Dass Menschen mit Demenz nächtelang in der Wohnung herumgeistern oder so lange an Nachthemden und Pyjamas ihrer Angehörigen zupfen, bis ihr Wunsch nach Aufmerksamkeit erfüllt wird, trägt wie viele andere Veränderungen zur Belastung jener bei, die ihnen beistehen, sie begleiten und unterstützen.
Damals, vor rund zwanzig Jahren, existierten bereits Möglichkeiten der externen Entlastung, doch sie waren wenig bekannt. Finanzielle Unterstützung durch die Pflegeversicherung erleichtert heute zumindest in Deutschland die Situation und bietet eine echte Chance auf Entlastung. Sich Grenzen einzugestehen, zum Beispiel dass die Herausforderungen nicht mehr zu bewältigen sind und vielleicht zum ersten Mal im Leben eine Situation entsteht, die nicht allein zu meistern ist, fällt Angehörigen schwer. Manche sind nicht bereit, die Situation anzunehmen: Mit dem Alter haben sie sich nicht auseinandergesetzt, Hilfe lehnen sie ab, und fremde Personen im Haushalt werden nicht geduldet. So rauben sie sich selbst, aber auch anderen die Kraft. Menschen mit Demenz hingegen akzeptieren die neuen Bezugspersonen oft ohne Probleme, ebenso wie die neuen Lebensumstände. Manchmal fehlt es jedoch an der Krankheitseinsicht. Das ist einerseits ideal, denn es zeigt, dass sie sich überhaupt nicht als defizitäre Wesen sehen. Und andererseits sorgt dieser Umstand gerade auch in pflegerischer Hinsicht immer wieder für neue Herausforderungen.
Auch Martha war in dieser Hinsicht gewöhnungsbedürftig. Am liebsten hätte sie mich, und nur mich, rund um die Uhr um sich gehabt. Doch auf diesen Wunsch ließ ich mich nicht ein. Als eine meiner regelmäßigen Reisen in die Schweiz bevorstand, appellierte ich an sie: »Wir sind ein gutes Team. Du hilfst mir, ich helfe dir, gemeinsam sind wir stark.« Sie blickte mich aus ihren schönen blauen Augen liebevoll an. Dann nickte sie und widmete sich wieder ihrer Beschäftigung. Sie saß im Ledersessel, auf den Knien das Kissentablett, und gestaltete mit bunten Würfeln Ornamente. Ich beobachtete sie: Vertieft in diese Betätigung, schien sie mich vergessen zu haben, in fließenden Bewegungen schuf sie einmalige und stets neue Kunstwerke. Fortan erklärte ich ihr jeweils meine Gefühle, meine Seelenlage, meine Bedürfnisse, und es bestätigte sich: Menschen mit Demenz begreifen viel. Ich möchte sogar sagen, sie begreifen und akzeptieren mehr als der Rest der Welt. Während manchmal der Eindruck entsteht, dass sie wenig oder gar nichts wahrnehmen, weil direkte Reaktionen ausbleiben, reagieren sie gefühlsmäßig wie Seismografen.
Martha hatte zudem ein...