Vorwort
Manchmal sind es unerwartete Sätze, mit denen eine ebenfalls unerwartete Erfolgsgeschichte beginnt. Im Falle des Kanzlerkandidaten Martin Schulz lauteten diese Worte: »Wenn ich jetzt anträte, würde ich scheitern und mit mir die SPD.« Dieser Satz wurde Ende Januar 2017 von fast allen Medien des Landes zitiert, und er markierte den Beginn der fast unglaublichen Erfolgsgeschichte des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Allerdings sagte nicht er selbst diesen Satz, sondern der ehemalige Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, der zu dieser Zeit noch fast selbstverständlich als Kandidat der Sozialdemokraten für die Bundestagswahl im Herbst des Jahres galt.
Der Satz stammt aus einem Interview, das Gabriel der Zeitschrift »stern« gegeben hatte. Das Blatt ergänzte diese Aussage unter anderem mit dem Hinweis, Schulz hätte an seiner Stelle die deutlich größeren Chancen, tatsächlich gewählt zu werden. Das löste dann besagten Medienrummel aus und sorgte bei nicht wenigen für eine fragend gerunzelte Stirn. Denn so erfolgreich Schulz auch seit Jahren europäische Politik machte, so sehr war er gleichermaßen doch immer noch ein recht unbeschriebenes Blatt, wenn es um die Bundes- oder Innenpolitik ging. Doch den Aussagen Gabriels folgten bald schon tatsächliche Handlungen. Am 24. Januar nämlich traten Gabriel und Schulz gemeinsam vor die Presse und verkündeten, dem Interview sollten konkrete Maßnahmen folgen.1 Zunächst ergriff Gabriel das Wort: Es werde nicht bei Gerüchten bleiben, erklärte er. Vielmehr habe das Präsidium der SPD gerade beschlossen, dem Parteivorstand Martin Schulz als Kanzlerkandidaten vorzuschlagen. Mehr noch: Martin Schulz solle Gabriel zudem in der Funktion des Parteivorsitzenden beerben. Diesen Vorschlag habe Gabriel gemeinsam mit Hamburgs regierendem Bürgermeister Olaf Scholz und der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft eingebracht. Denn die Kanzlerkandidatur sei nur dann glaubwürdig, wenn damit zugleich eine einheitliche Parteiführung einhergehe. Rund sechs Minuten lang sprach Sigmar Gabriel über diese Vorhaben und deren Hintergründe, übergab das Wort dann schließlich an den designierten Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Der wiederum sagte nun, es handele sich für ihn um eine außergewöhnliche Ehre. Schulz lobte Gabriel als einen großen Parteivorsitzenden, der vieles geleistet habe. Zusammengefasst wurde während dieser Pressekonferenz das gesagt, was in einer solchen Situation zu erwarten ist. Nicht zu erwarten war jedoch, dass diese kaum zwanzig Minuten lange Pressekonferenz am 24. Januar der Anfang des inzwischen hinlänglich bekannten Hypes um die Person Martin Schulz sein sollte. Beziehungsweise, dass sie einen Hype nochmals verstärken sollte, der bereits zuvor eingesetzt hatte.
Denn obwohl Martin Schulz bis zu diesem Zeitpunkt bundes- und auch parteipolitisch noch gar nicht groß in Erscheinung getreten war, hatten ihn die Wähler bereits seit Monaten in ihr Herz geschlossen. Das mag sich rührselig anhören, ist aber letztlich die zu diesem Zeitpunkt einzig schlüssige Erklärung für die Zuneigung zu dem Politiker Martin Schulz.
Denn der stand schon seit Monaten bei den Wählern höher im Kurs als der etablierte Sozialdemokrat Sigmar Gabriel. Genau das bestätigte etwa im Oktober 2016 eine Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Forsa. Könnte der Kanzler demnach direkt gewählt werden, würden sich von den Befragten 29 Prozent für den ehemaligen EU-Ratspräsidenten entscheiden. Für den in der Öffentlichkeit seinerzeit noch wesentlich präsenteren Sigmar Gabriel dagegen wollten nur 18 Prozent stimmen.2 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb deshalb, Schulz sei so etwas wie der »heimliche Held« der SPD. Mit ihm verbänden Parteimitglieder die Hoffnung, er könne die Sozialdemokraten aus dem Tal der niedrigen Umfragewerte führen.
Martin Schulz’ bislang geringe Präsenz auf der bundespolitischen Bühne wurde von manchem sogar als sein Erfolgsfaktor gewertet. So zitierte die FAZ Forsa-Chef Manfred Güllner mit der Aussage, Schulz würde von vielen Deutschen eben immer noch als eine Art unbeschriebenes Blatt wahrgenommen. Was in diesem Zusammenhang dann aber ein Vorteil wäre: Mit anderen Politikern würden die Wähler nämlich eben auch Negatives verbinden. Der »unbeschriebene« Schulz aber habe nun die Möglichkeit, das leere Blatt mit positiven Zeilen zu füllen und so möglicherweise die verlorenen Wähler wieder zur SPD zurückholen.
Dass daran etwas Wahres sein könnte, zeigte sich in den Tagen nach der Pressekonferenz von Gabriel und Schulz im Januar 2017. Die Talkshows auf nahezu jedem Fernsehsender beschäftigten sich nämlich nun mit dem Wechsel an der SPD-Spitze. Eine dieser Talkshows war die von Maybrit Illner, in der am 26. Januar unter anderem der SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann zu Gast war. Und der hatte Erstaunliches mitzuteilen: In den seit der Pressekonferenz vergangenen drei Tagen seien fast 500 neue Mitglieder in die SPD eingetreten. Fast schien es inzwischen, als hätten die Wähler in Deutschland seit Jahren auf genau diesen Mann gewartet.
Bald schon wurden weitere Umfragewerte veröffentlicht, und die erschienen fast unglaublich: Die SPD war zwar immer noch dieselbe Partei, die sie seit Jahren schon war und von der sich große Teile der Wählerschaft abgewendet zu haben schienen. Doch nun entstand der Eindruck, als gehe es gar nicht mehr um die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als solche, sondern einzig und allein um den Mann, der für sie bei der kommenden Bundestagswahl als Kandidat antreten sollte. In den ersten Tagen des Februar 2017 hatte er seiner Partei zu einem ungeahnten Höhenflug verholfen.
Und die Umfragewerte stiegen nach seiner Benennung weiter: Am 8. Februar nämlich hieß es unter Berufung auf die neuesten Forsa-Ergebnisse, die SPD habe erstmals seit dem Jahr 2012 wieder die Marke von 30 Prozent der Wählerstimmen geknackt. Mit den nun exakt 31 Prozent der Stimmen habe die SPD im Vergleich zur Vorwoche stolze fünf Prozent der potenziellen Wählerstimmen hinzugewinnen können.3 CDU und CSU hingegen hätten im gleichen Zeitraum einen Prozentpunkt verloren und lägen nun mit 34 Prozent nur noch wenig vor den Sozialdemokraten.
Einmal mehr bestätigte die Umfrage, dass es sich am Ende vor allem um ein Duell der Kandidaten handelte. Denn während die SPD gerade einmal einen Prozentpunkt verlor, ging es für Bundeskanzlerin Merkel nun fünf Punkte bergab. Martin Schulz hingegen gewann vier Prozentpunkte hinzu, sodass beide im direkten Duell nun mit 37 Prozent gleichauf lagen. Auch zu diesem Ergebnis meldete sich wieder der Forsa-Chef zu Wort. Und zwar mit der Aussage, die Entwicklung komme allerdings immer noch nicht an die ausgesprochen intensive Wechselstimmung des Jahres 1998 heran. Seinerzeit wurde das Duell um die Kanzlerschaft zwischen Gerhard Schröder von der SPD und Helmut Kohl von der CDU ausgetragen. Kohl war damals seit 16 Jahren an der Macht und die Wähler zeigten sich seiner zunehmend überdrüssig. Doch auch wenn die Stimmung noch nicht an diese Zeit heranreichte, war eine weitere Feststellung bemerkenswert: Dass die SPD nun nämlich Zulauf von Wählern unterschiedlichster Parteien erhielt – nicht zuletzt von Menschen, die zuvor offenbar zum Teil aus Protest ihre Stimme der AfD gegeben hatten.
Zu diesem Zeitpunkt ließ sich eines zweifelsfrei sagen: Die SPD beziehungsweise ihr langjähriger Vorsitzender Sigmar Gabriel hatten mit der Kür des Martin Schulz einen echten Volltreffer gelandet. Man hatte erstmals seit sehr, sehr langer Zeit wieder einen Kandidaten in das Rennen um die Kanzlerschaft geschickt, der bei diesem Vorhaben durchaus Erfolgschancen hat.
Das aber war bald nicht nur den Genossen selber klar. Der Erfolg des Kandidaten Schulz erregte auch an anderer Stelle Aufmerksamkeit. Anders nämlich lässt es sich kaum erklären, dass nach kürzester Zeit Versuche unternommen wurden, das unbeschriebene Blatt Schulz zu beschreiben – allerdings auf eine Art, die darauf hinauslief, dass das Blatt eher beschmiert statt ordentlich beschrieben wirkte.
So berichtete der Spiegel im Februar 2017 über vermeintliche Unregelmäßigkeiten. Genauer gesagt hieß es in dem Artikel, Schulz habe sich persönlich dafür eingesetzt, dass ein Vertrauter »vorteilhafte Vertragskonditionen« bekommen solle. Es ging um einen Fall aus dem Jahr 2012, der Vertraute sei inzwischen sogar Wahlkampfmanager von Schulz.4 Allerdings stieß der Bericht auf kein sonderlich großes Interesse, zudem hatten die vorgelegten Fakten oder vermuteten Versäumnisse anscheinend nicht das Zeug zu einem wirklich großen Skandal.
Denn die Menschen in Deutschland beschäftigte zu diesem Zeitpunkt und danach noch ein gänzlich anderes Thema. Bevor sie sich nämlich mit möglichen Verfehlungen des Kandidaten auseinandersetzten, wollten sie erst einmal wissen, wer dieser Mann denn nun wirklich ist. Diese Frage ist es dann auch, die in den folgenden Kapiteln dieses Buches geklärt werden soll: Wer ist der Mensch Martin Schulz, was zeichnet ihn aus, was treibt ihn an – und warum ist er für so viele Menschen ein politischer Hoffnungsträger?