VORWORT VON JEAN-CLAUDE JUNCKER,
Präsident der Europäischen Kommission
Martin Schulz ist ein streitbarer Europäer – und das meine ich im besten Sinne des Wortes. Denn er gibt niemals auf, wenn es um Europa geht. Das ist die logische Konsequenz nicht nur aus seiner Persönlichkeit, sondern auch aus seiner Herkunft. Wenn man wie Martin Schulz und ich in einem Dreiländereck aufgewachsen ist, lernt man früh die Bedeutung von Grenzen kennen. Auch wenn es sich heute wie aus einer längst vergangenen Zeit anfühlen mag, wissen wir noch gut, wie es war, wenn man mit schweren Taschen – weil das Münzgeld in mehreren Währungen darin lastete – an Schlagbäumen warten musste. Wir wissen aber auch, dass es sich immer lohnt, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Von Grenzen geht nämlich nicht nur eine teilende, sondern auch eine verbindende Kraft aus.
Wer damit aufwächst, dass die Nachbarn in einem anderen Land leben, entwickelt automatisch einen Sinn dafür, sich der Welt samt anderen Sprachen und Kulturen zuzuwenden und in größeren Zusammenhängen zu denken. Martin Schulz und ich haben uns deswegen nie nur als Würselener oder Luxemburger, als Deutsche oder als Bürger des Großherzogtums begriffen, sondern immer auch als Europäer. Das hat vielleicht damit zu tun, dass wir Grenzbewohner im Vergleich zu vielen Inländern ein besseres Gehör und Gespür für unsere Nachbarn haben. Das hilft auch am europäischen Familientisch, wo es oft vor allem darauf ankommt, die kulturellen und politischen Besonderheiten zu verstehen, um auf dieser Grundlage Kompromisse ausloten zu können, die allen Beteiligten zum Vorteil gereichen.
Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission stehen in besonderem Maße für diese Einladung an den Familientisch und damit für die Kraft des Zusammenhaltens. Als echte Gemeinschaftsinstitutionen müssen wir uns weniger nach Parteipolitik oder nationalen Wahlen richten. Für uns ist ausschließlich das Wohl der 500 Millionen Europäer das Maß der Dinge. Wie es sich für diejenigen gehört, die die Familie auch logistisch zusammenhalten, stehen Martin Schulz und ich deshalb in ständigem Austausch. Nicht selten sind wir dabei unterschiedlicher Meinung, und dann ist es vor allem unserer Gesprächsbereitschaft zu verdanken, dass wir trotzdem den Sprung von einem guten hin zu einem besseren Ergebnis schaffen.
Dass wir auch auf der persönlichen Ebene gut miteinander auskommen – auch wenn wir uns natürlich unserer institutionellen Rollen und Pflichten bewusst sind –, erleichtert sicherlich die ohnehin enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit unserer Institutionen. Das ist jetzt entscheidender denn je. Denn wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn es darum geht, Ergebnisse zu liefern und Europa spürbar zu machen.
Das gilt umso mehr nach dem Votum im Vereinigten Königreich. Denn auch wenn dieses von der britischen Innenpolitik bestimmt war und wir das Referendum weder einberufen haben noch dafür verantwortlich sind, können und wollen wir daraus Schlüsse ziehen. Schließlich ist Lernfähigkeit unsere Stärke, und nur deshalb konnte Europa aus vorherigen Krisen gestärkt und besser gewappnet für die Zukunft hervorgehen.
Europa ist von Anfang an eine Geschichte der Lernerfolge gewesen. Es war die Generation unserer Mütter und Väter, die aus den Konzentrationslagern, von den Schlacht- und Minenfeldern zurückkehrte und das Grauen, das sie erlebt hatte, ein für alle Mal hinter sich lassen wollte. So wie mein Vater zwangsrekrutiert die Abgründe des Krieges erfahren musste, hat auch die Familie von Martin Schulz unter dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen gelitten, als unser ganzer Kontinent vor den Trümmern der Gewalt und den Scherben der zu Bruch gegangenen Menschlichkeit stand. Unsere Eltern wurden Europäer, weil sie den Hass hassen gelernt hatten; weil sie sich nach Freundschaft statt Feindschaft sehnten, und weil sie Gemeinsames gemeinsam aufbauen wollten.
Das Europa unserer Eltern war also entgegen allen Mythen kein Eliten-Projekt. Die Politiker haben damals nichts anderes getan, als das Verlangen der Menschen in ein politisches Friedensprojekt zu gießen. Und auch heute noch ist Europa das Versprechen einer besseren Zukunft, das wir für die Generation nach uns einlösen müssen. Europa ist also das Gegenteil einer Eliten-Veranstaltung, weil es uns allen – und nicht nur ein paar Privilegierten – die Türen öffnet, um über Grenzen hinweg zu reisen, zu lernen, zu arbeiten, zu leben und zu lieben. Wenn wir heute mit EU-Strukturfonds die Infrastruktur ausbauen, grenzüberschreitende Bildungs- und Forschungsprojekte wie Erasmus fördern und hohe europäische Standards einführen, die Umwelt und Verbraucher besser schützen, dann dient das allen.
Genau das ist und bleibt unser Auftrag. Und bei aller Kritik, die Europa gerade erfährt, können wir doch objektiv festhalten, dass Europa all seinen Bürgerinnen und Bürgern jahrzehntelang Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert hat. Darauf können wir uns nicht ausruhen, aber wir können unsere Zukunft auf diesem sehr soliden Fundament aufbauen.
Deshalb haben Martin Schulz und ich, als wir am Morgen nach dem Referendum in Großbritannien telefonierten, beschlossen, jetzt erst recht die Ärmel für Europa hochzukrempeln – nicht für mehr, sondern für ein besseres Europa. Diesen Kurs habe ich schon zu Beginn meiner Amtszeit als Kommissionspräsident eingeschlagen – mit großer Rückendeckung des Europäischen Parlaments. Wissend, dass weniger manchmal mehr ist, haben wir konsequenterweise die Anzahl der Kommissionsvorschläge von durchschnittlich 130 pro Jahr auf 23 reduziert. Wir verschwenden keine Zeit mehr auf Dinge wie Duschköpfe oder Ölkännchen, die die Mitgliedstaaten viel besser selbst regeln können. Stattdessen haben wir uns auf zehn Prioritäten konzentriert – auf Herausforderungen, die wie Flüchtlingspolitik, Klimawandel und Terror nicht an Grenzen haltmachen und die wir daher besser vereint anpacken.
Wir werden diesen Kurs nun umso konsequenter fortsetzen, und dabei zahlt sich die enge Zusammenarbeit mit Martin Schulz und dem Europäischen Parlament bereits aus. Dank dieser konnten wir einige europäische Geschwindigkeitsrekorde aufstellen. So hat es nur sechs Monate und ein paar Tage gedauert, um die Vorschläge der Kommission für einen europäischen Grenz- und Küstenschutz Wirklichkeit werden zu lassen. Innerhalb von nur zehn Wochen haben wir – mit der Unterstützung des Parlaments – einen Nachtragshaushalt für 2016 verabschiedet, der durch die Umschichtung von Mitteln in unserem EU-Haushalt 10,1 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Flüchtlingskrise mobilisiert hat. Außerdem haben wir in Rekordzeit die 315 Milliarden Euro schwere kontinentale Investmentoffensive auf den Weg gebracht, die schon im ersten Jahr in 26 Mitgliedstaaten 107 Milliarden Euro an neuen Investitionen angekurbelt und rund 150.000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Davon profitieren Digitalisierungsprojekte, erneuerbare Energien und andere Zukunftstechnologien ebenso wie kleine und mittelständische Unternehmen. Diese Beispiele zeigen nur allzu deutlich, was wir gemeinsam viel schneller erreichen können. Was zuvor unter anderen Vorzeichen Jahre gedauert hätte, ist heute in Rekordgeschwindigkeit möglich, weil Martin Schulz weiß, wie man die notwendigen Mehrheiten im Parlament schnell organisiert. Das macht Europa handlungsfähig.
Martin Schulz und ich haben es zur Priorität der Europäischen Union – und somit von Kommission und Europaparlament – erklärt, Beschäftigung und Wachstum zu schaffen. Obwohl wir beide in verschiedenen Parteien sind, eint uns das Bekenntnis zu einer Politik, die darauf ausgerichtet ist, dass die Wirtschaft den Menschen dient und nicht umgekehrt. Für uns ist Wachstum kein Selbstzweck, sondern nur dann bedeutend, wenn es Beschäftigung hervorbringt. Dieses Bewusstsein hat sicherlich auch etwas mit unserer Herkunft zu tun. Der Großvater von Martin Schulz war Bergarbeiter, mein Vater war Stahlarbeiter. So wie ich in meinem Elternhaus geprägt worden bin, weil die christlichen Gewerkschaftskollegen meines Vaters vorbeikamen, um über Politik zu diskutieren, und die katholische Soziallehre gelebt wurde, ohne dass diese groß benannt worden wäre, wuchs auch Martin Schulz in einem sehr politischen Umfeld auf. Uns verbindet außerdem, dass wir früh eine große Liebe zum geschriebenen Wort und vor allem zu Biografien entwickelt haben. Das hat unser beider politisches Bewusstsein weiterentwickelt, denn wer viel liest, ist stets dazu angehalten, andere Perspektiven zu verstehen und die eigenen Argumente immer wieder aufs Neue zu prüfen.
Der daraus resultierende Sinn für Kompromisse und Solidarität, der uns so gewissermaßen mit der DNA mitgegeben wurde, hat uns auf Anhieb Freunde werden lassen, als wir uns vor vielen Jahren am Rande einer Karlspreis-Verleihung trafen. Damals war Martin Schulz noch ein junger Abgeordneter und ich dachte noch, ich würde meine ganze Kraft für Europa als luxemburgischer Politiker einbringen. Mittlerweile haben wir selbst beide den Karlspreis erhalten und die Europäische Union den Nobelpreis – auch weil uns die Menschen in aller Welt um den Frieden und die soziale Marktwirtschaft beneiden. Wir haben uns an dieses Europa gewöhnt, aber selbstverständlich ist es dafür noch lange nicht. Wir werden unsere Art des Lebens und unsere Werte nur bewahren können, wenn wir zusammenhalten und die Spielregeln in einer globalisierten Welt mitbestimmen.
Welche gewaltige Kraft Europa hat, verdeutlicht ein Blick auf die Wirtschaftszahlen: Selbst mit einer EU der 27 sind wir der zweitgrößte Wirtschaftsraum und der größte Handelsblock der Welt. Wenn wir mit einer Stimme sprechen, haben wir selbstverständlich...