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Marxismus im 20. Jahrhundert

AutorRoger Garaudy
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl188 Seiten
ISBN9783688111091
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Mit dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 begannen marxistische Theoretiker aus den kommunistischen Parteien des Westens, sich immer stärker vom Dogmatismus der Stalin-Zeit zu lösen. Zu ihnen gehörte in Frankreich der führende kommunistische Theoretiker Roger Garaudy, Professor für Philosophie und Mitglied des Politbüros der KPF. Der Autor, der sich von früheren Werken distanzierte, vor allem von seiner Arbeit über die materialistische Erkenntnistheorie, wollte mit seiner Schrift «Marxismus im 20. Jahrhundert» die Diskussion über den Marxismus neu beleben, eine Diskussion, die angesichts der in seinem Jahrhundert erreichten qualitativen Veränderungen und Fortschritte notwendig geworden war. Garaudy wollte die Offenheit der marxistischen Philosophie wiederherstellen: so wie der Marxismus Elemente des deutschen Idealismus von Kant, Fichte und Hegel aufgenommen und verwertet hatte, sollte er auch alle Ergebnisse der zeitgenössischen Wissenschaft, namentlich der Kybernetik, der Informationstheorie und der modernen Physik, prüfen und sich mit den politischen, moralischen, religiösen und künstlerischen Aspekten des neuen Denkens auseinandersetzen. Aufsehenerregend waren vor allem Garaudys positive Neueinschätzung der Mythen und Religionen, besonders des Christentums, aus der sich ein neues Verhältnis zwischen Kommunisten und Christen ergab, und der Entwurf einer modernen marxistischen Kunsttheorie, die mit den dogmatischen Auffassungen des sozialistischen Realismus brach. Neu war auch der Rückgriff auf Fichte bei der Erarbeitung einer marxistischen Moral, in der die subjektive Initiative und Verantwortung wieder zu ihrem vollen Recht kam.

Roger Garaudy, geboren 1913 in Marseille, war Professor für Philosophie an der Universität von Poitiers und Direktor des «Centre d'Études et de Recherches marxistes». Von 1945 bis 1958 gehörte er der Nationalversammlung an; er war Mitglied des Politbüros der Kommunistischen Partei Frankreichs. Roger Garaudy starb 2012.

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Leseprobe

Die Problemstellung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts


Fragen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens stellen sich heute unter neuen historischen Bedingungen, die eine große schöpferische Anstrengung erfordern.

Im Laufe der letzten zwanzig Jahre hat sich der Rhythmus der Geschichte ungeheuer beschleunigt.

Drei entscheidende Tatsachen bestimmen die Situation:

1. Die schwindelerregende Entwicklung von Wissenschaft und Technik;

2. der Aufbau des sich zu einem weltumspannenden System entwickelnden Sozialismus;

3. die Entkolonialisierung zweier Kontinente: Asiens und Afrikas.

Es handelt sich nicht um eine quantitative Veränderung, es geht nicht um einige weitere Entdeckungen, um einige Fortschritte des Sozialismus, um einige sich befreiende Kolonien. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat eine qualitative Veränderung stattgefunden.

Damit stellen sich neue Probleme, und wir müssen die Größe der Anstrengungen ermessen, die aufzubringen sind, um den Marxismus auf das Niveau solcher Ansprüche zu heben.

Unser Bewußtsein hinkt hinter der Geschichte her. Wollen wir diesen Rückstand aufholen, müssen wir uns der Mittel dazu voll bewußt sein: nur so wird dem Marxismus die neue Synthese gelingen.

Alle großen Denksysteme stellen heute diese Forderung. Jeder hat das Gefühl einer Kluft zwischen historischer Wirklichkeit und Bewußtsein. Das Bedürfnis nach einem der heutigen Zeit angemessenen Bewußtseinsstand, nach einer Modernisierung herrscht nicht nur bei den Katholiken, sondern ist ein allgemeines Phänomen.

Wie stellen sich also die Probleme angesichts der drei oben erwähnten Tatsachen?

 

Die Macht des Menschen über die Natur ist in den letzten zwanzig Jahren in stärkerem Maße gewachsen als in den zwanzig Jahrhunderten davor. Einige große wissenschaftliche und technische Entdeckungen sind die Grundlage dieses Umsturzes.

Die wichtigste Tatsache ist die Herstellung von Atom- und Wasserstoffbomben. Während es sich 1945 in Hiroshima nur um ein Vernichtungsmittel handelte, das stärker war als andere, hat sich zehn Jahre später ein qualitativer Wandel vollzogen: mit den augenblicklich existierenden, methodisch erweiterten Bombenarsenalen ist es technisch möglich geworden, jede Spur menschlichen Lebens auf der Erde auszulöschen. Die vor Millionen von Jahren begonnene Geschichte des Menschen kann damit sein Ende finden.

Die zweite Konsequenz aus diesen Entdeckungen ist ebenso wichtig: die Menschheitsgeschichte hat grenzenlose Perspektiven angenommen. Noch vor dreißig Jahren konnte man den Augenblick voraussagen, an dem die Energiequellen dieses Planeten, Kohle und Erdöl, versiegen würden. Mit der Verbreitung der Kenntnisse der Atomspaltung und ihrer Anwendung sind die Grenzen der Macht und des Reichtums der Menschen nicht mehr zu bestimmen.

Eine dritte Konsequenz betrifft das Schicksal der Menschheit. Das Erkalten von Sonne und Erde machte ein Ende des Lebens der Spezies Mensch auf einem Globus denkbar, der unbewohnbar würde. Die ersten Schritte in den Kosmos und die sich aus der Kernspaltung ergebenden energiewirtschaftlichen Möglichkeiten erlauben es heute, diese Möglichkeit auszuschließen. Die Spezies kann auf Grund ihrer Errungenschaften tatsächlich von der Unsterblichkeit träumen.

Um 1949 ließ mit dem Buch Norbert Wieners über die Kybernetik die Synthese aus der Erforschung der Erscheinungen der Selbstregelung und der Wahrscheinlichkeitsrechnung eine neue Wissenschaft entstehen, die seit nicht ganz zehn Jahren weiteste Anwendung erfahren hat.

Das ist nicht einfach eine quantitative Veränderung, nicht einfach eine neue Stufe der Technik. Bis hierher haben alle Entdeckungen und Erfindungen, das Feuer, der Faustkeil, die Dampfmaschine, der Verbrennungsmotor, die Elektrizität, haben alle Werkzeuge und noch so perfektionierten Maschinen allein das Ziel gehabt, die physische Kraft des Menschen zu vervielfältigen, die Handarbeit zu ersetzen, sie zu beschleunigen und ihre Wirksamkeit zu erhöhen.

Die Veränderung ist jetzt qualitativ: es geht darum, gewisse Formen der intellektuellen Arbeit des Menschen zu ersetzen.

Zum Beispiel muß man zur Steuerung eines Satelliten in jedem Augenblick seine Laufbahn berechnen. Diese Rechenoperationen würden Dutzende hochqualifizierter Mathematiker erfordern, die monatelang arbeiten müßten. Wenn sie ihre Arbeit abgeschlossen hätten, wäre sie nutzlos geworden, da der Satellit sich bereits weit entfernt hätte.

Elektronische Rechenmaschinen können sekundenschnell Millionen von komplizierten Rechenoperationen ausführen, die Nano-Sekunde (eine Milliardstel Sekunde) ist zur Zeiteinheit geworden.

Die elektronische Datenverarbeitungsmaschine ist nicht einfach die durch einen Rechenapparat vervollkommnete Registrierkasse bei Woolworth. Nein: die Datenverarbeitungsmaschine wählt die Lösungen sorgfältig aus und informiert sogar den Forscher, wenn er die Aufgabe schlecht programmiert hat.

Die Anwendung dieser Maschine nimmt in allen Bereichen zu.

In den USA kontrolliert das Elektronenhirn «Géda» automatisch die Produktion und Verteilung des in neun Werken erzeugten elektrischen Stromes. Es überwacht die Menge der entnommenen Elektrizität. Es errechnet die Kosten des Kohleverbrauchs pro Fabrik, die Kalorienmenge der Kohle und ihren relativen Feuchtigkeitsgrad, die Charakteristiken elektrischer Feldlinien, usw.

In Moskau wurde im Januar 1964 eine elektronische Rechenmaschine benutzt, um die beste technische Lösung für den Bau eines Gebäudes festzustellen. Im März 1964 wurde auf den Leningrader Werften eine Anlage konstruiert, die von selbst die Schiffe zu den Fanggründen führt und von selbst Fang und Verarbeitung der Fische regelt.

Auch in der Nachrichtenvermittlung und im Fernmeldewesen hat sich dieser qualitative Wandel bemerkbar gemacht.

Zwei Jahrtausende lang hat sich kaum etwas verändert: Cäsar und Napoleon brauchten etwa dieselbe Zeit, um von Paris nach Rom zu reisen; die Dauer hing von der Schnelligkeit des Pferdes und der Zahl der Pferdewechselstellen ab. Die Anwendung von Dampfmaschinen bei der Eisenbahn hat nur eine quantitative Veränderung gebracht. Die Geschwindigkeit wurde drei- bis viermal erhöht.

Auch die Luftfahrt ist nichts als ein quantitativer Fortschritt, eine sieben- bis achtfache Beschleunigung. Mit der Weltraumrakete betritt man aber eine neue Stufe: die der Bewegung der Gestirne. Der Satellit übertrifft weit die Geschwindigkeit der Erdumdrehung. Mit einemmal multipliziert man nicht mehr mit drei oder vier, sieben oder acht, sondern mit hundert oder tausend.

Dank der Luftfahrt hat der Mensch die Eigenschaften für ein interplanetares Leben gewonnen. Er beginnt jetzt eine neue Laufbahn, die einer kosmischen Zukunft.

Lange Zeit ging die Übertragung von Nachrichten im Tempo der Vermittlung durch Menschen vor sich: die Post reiste mit der Geschwindigkeit des Pferdes. Heute existiert nicht allein die technische Möglichkeit der augenblicklichen Verbreitung von Nachrichten auf der ganzen Welt, sondern diese Tatsache ist durch das sehr schnelle, zehnjährige Anwachsen der Zahl der Radio- und Fernsehempfänger in den letzten Jahren zu einer Massenerscheinung geworden. Eurovision, Weltfernsehen durch Telstar und sogar auf dem Mond aufgenommene Fotos sind allen zugänglich.

Dieses System der Nachrichtenübermittlung hat eine Umwälzung in den Bedingungen der politischen Propaganda, aber auch des Unterrichts und der Bildung zur Folge gehabt.

In der Biologie wurden innerhalb von zehn Jahren mehr Dinge entdeckt als in der Zeit von Hippokrates bis zu Claude Bernard.

Die Entdeckungen, die einen qualitativen Wandel schufen, datieren von 1954 an.

Zu Beginn des Jahrhunderts glaubte Loeb, daß die – noch in weiter Ferne liegenden – Ziele der biologischen Wissenschaft folgende seien:

die Synthese des Lebens;

die Beeinflussung der Entwicklung der Arten.

Nun haben 1954 Ochoa und Kornberg mit der Synthese von Nukleotiden begonnen, die die Fähigkeit der Selbstreproduktion besitzen, und Watson und Crick haben Veränderungen an diesen Nukleotidenreihen durchgeführt. Die gesteckten Ziele befinden sich damit auf dem Wege ihrer Verwirklichung.

Zahlreiche Indizien lassen vermuten, daß im Laufe des letzten Drittels dieses Jahrhunderts in der Biologie Entdeckungen gemacht werden, die denen der Physik aus den beiden ersten Dritteln des Jahrhunderts an Wichtigkeit mindestens gleich sind.

Der Mensch ist dabei, nicht mehr nur die «ihrer selbst bewußte Evolution» zu sein, sondern die sich selbst beherrschende Evolution, einer der Faktoren dieser Evolution zu werden. Der Mensch wird fähig, die Vererbung zu beeinflussen und biologisch die Fähigkeiten des Menschen zu steuern. Das stellt die Wissenschaft vor ein moralisches Problem, das Problem der Zielsetzung und der Grenzen: im Namen welcher Werte soll man die zu entwickelnden Fähigkeiten auswählen?

Dies sind nur wenige Beispiele der umwälzenden Veränderungen.

Sie zeigen in klarer Weise die Probleme, die sich für die Vermittlung, die Aneignung, die Verbreitung und die Beherrschung dieser Errungenschaften ergeben. Um nur einmal das Ausmaß der gestellten Fragen zu betonen, erinnern wir an drei Dinge:

Heute sind auf der ganzen Welt mehr Forscher und Gelehrte tätig, als es seit den Anfängen der Menschheit insgesamt gegeben hat (Auger-Bericht bei der Abteilung für wissenschaftliche Forschung der UNESCO).

Die Menge der Kenntnisse der Menschen hat sich in den letzten acht Jahren verdoppelt (wissenschaftliche Publikationen, Forschungsberichte, Fachzeitschriften, ganz abgesehen von den populärwissenschaftlichen Werken).

Die Spanne...

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