KAPITEL 1
Eigentlich wollte ich nie dorthin
Ich bin von meiner Mama weg, als ich zehn war. Da hatte ich schon seit sieben Jahren keinen Kontakt mehr zu meinem Vater. Außerdem verstand ich mich mit dem neuen Mann meiner Mutter nicht. Ich war genervt, frustriert von meiner Familiensituation. Zusammen mit meiner kleinen Schwester zog ich dann zu meiner Patentante, die in einer anderen Stadt lebt. Aber wir kamen nicht gut miteinander aus, ich war einfach durch den Wind, habe mich komplett zurückgezogen, war wie ein Buch mit hundert Siegeln. Keiner konnte mir nahekommen, in der Schule habe ich auch nur gemacht, worauf ich Bock hatte: Sprachen. In Deutsch hätte ich eine Eins, meinte der Lehrer, wenn ich je meine Hausaufgaben machen würde. Physik, Bio, Chemie, das habe ich alles vergeigt. Ich hatte keine Lust, habe es nicht verstanden, und es war mir egal.
Meine Patentante hat sich dann ans Jugendamt gewandt, denen gesagt, wir haben hier nur Streit, ich kann ihr nicht helfen. Die hatte ja auch noch eigene Kinder. Wir haben uns zusammengesetzt, und die Lösung war, dass ich mit 14 wieder zurück nach Frankfurt zog, wo ich ja herkam, allerdings in ein Projekt für betreutes Wohnen. Das war ein ganz normales Wohnhaus, zwölf Zimmer, Büro, Küche. Mit zwölf, 13 konnte man da schon einziehen. Es war immer jemand da, an den ich mich wenden konnte, ganz familiär. Ich bin dann auf die Gesamtschule gegangen. Naja, ab der neunten Klasse nicht mehr, da bin ich eher mit Freundinnen ins Café gegangen.
Die Schulleitung hat mich vor die Wahl gestellt: Entweder ich bekomme einfach ein Abgangszeugnis, oder ich wiederhole das ganze Jahr. Ich wählte das Abgangszeugnis. Das war dumm von mir. Heute sagt sich das so leicht. Damals war ich sorglos, wütend, und es gab niemanden, der mir einen Weg zeigte. Weil niemand da war? Oder weil ich mir von niemandem etwas sagen lassen wollte? Beides. Ich hatte keinen Respekt vor den Betreuern, habe lieber den ganzen Morgen irgendwo im Café gesessen mit Freunden. Ja, ein bisschen war das so wie im Klischee von den haltlosen Jugendlichen, die später im Dschihad landen.
Ich habe dann ein paar Praktika gemacht, im Kindergarten, in einer Drogerie, aber hatte immer wieder Stress dort, habe gekifft, bis die Betreuer vom Jugendamt mir eine eigene Wohnung in Frankfurt vermittelt haben.
Das war mein Untergang.
Man kann eine Jugendliche aus kaputten Verhältnissen nicht einfach in eine eigene Wohnung ziehen lassen. Ich hätte jemanden gebraucht, der mich an die Hand nimmt, aber dieses »Mach, was du willst« war für mich eine Katastrophe. Im Nachhinein hat mich das furchtbar geärgert, weil ich eigentlich kein blöder Mensch bin.
Ich habe gejobbt, in einem Internetcafé, als Kellnerin, da war ich schon 18. Nach kurzer Zeit zog eine Gleichaltrige aus Hamburg bei mir ein, wurde meine beste Freundin. Wir haben uns gegenseitig runtergezogen. Als sie anderthalb Jahre später wieder zurück nach Hamburg zu ihrer Oma zog, habe ich sie dort wochenlang besucht. Wir haben gemeinsam gekifft und unsere Chill-Sessions eben nach Hamburg verlagert. Damals war es witzig. Aber so ein Leben wünscht man doch keinem, einfach so in den Tag hineinzuleben. Mal habe ich gekellnert, mal ging ich zum Jobcenter, mal habe ich ein bisschen Gras, aber auch nur Gras, verkauft, irgendwie war immer ein bisschen Geld da. Genug zum Leben.
Einmal waren wir beide die ganze Nacht feiern, völlig zugedröhnt. Ich lag dann am Samstag bei mir zu Hause und hatte solches Herzrasen, dass ich mich überhaupt nicht mehr bewegen konnte. Mir war gleichzeitig heiß und kalt. Da habe ich mir gesagt: Es reicht! So geht es nicht mehr weiter.
Zu dieser Zeit habe ich einen marokkanischen Freund kennengelernt, ganz harmlos, auch später waren wir nie zusammen. Saryuh, so möchte ich ihn hier nennen, hat mir gesagt: »Was machst du da eigentlich? So kann man doch nicht leben! Willst du so weitermachen, bis du mit 30, 40 irgendwann auf der Straße landest? Du bist doch nicht dumm! Sonst könnte ich das verstehen, aber so? Du gehst morgen zum Amt, meldest dich und nimmst an einer Maßnahme teil!«
Das war mir eine Horrorvorstellung, morgens um sieben aufzustehen und um acht auf den Plastikbänken beim Amt zu hocken. Aber ich habe es gemacht. Also, zumindest die Maßnahme. Für eine Weile, bis ich wieder abgestürzt bin, mich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten gehangelt habe. So richtig fest irgendwo angestellt habe ich nie gearbeitet, bevor ich nach Syrien gegangen bin.
Saryuh war als Wirtschaftsflüchtling nach Deutschland gekommen. Anfangs hat er auf Parkbänken geschlafen, erzählte er mir. Aber er hat sich durchgebissen, das hat mir imponiert. Es gibt Menschen, die sind einem auf Anhieb sympathisch. Ich war nicht unbedingt verliebt, aber er hat mich fasziniert, er war klug, hilfsbereit. Einmal kam mein Geld vom Amt später als erwartet. Da hat er mir seine letzten zehn Euro gegeben. Ich habe ihm gesagt: Du spinnst doch. Aber er meinte: »Nee, ist okay. Die Monatskarte ist bezahlt, ich komme schon durch.«
Ich wollte wissen, woher kommt diese Großzügigkeit? Diese Hilfsbereitschaft? Warum ist der so?
Saryuh war der Mensch, den ich zehn Jahre früher gebraucht hätte. Er hat mir ein bisschen über den Islam erzählt, nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Gerade genug, um mein Interesse zu wecken. Von diesem ganzen radikalen Kram hatte ich da noch nichts gelesen, hatte keinen Schimmer vom Dschihad. Im Islam, wie Saryuh ihn mir erklärte, ging es um Hilfe, um Gastfreundschaft, ums Füreinander-Einstehen, solche Sachen. Ein marokkanischer Freund von ihm, der immer ins Internetcafé kam, in dem ich manchmal jobbte, hat mir dann eine CD gegeben, auf der jemand über den Sinn des Lebens aus islamischer Sicht erzählte. Und ein Buch über den Propheten, naja, eher ein Heft. Da ging es zwar auch um Kriege, aber nur am Rande, nicht so wie später in Syrien, wo ich die Ermordeten gesehen habe, die tagelang am Wegrand neben unserem Haus aufgestapelt liegen blieben. Es ging in der CD und dem Buch mehr um die Charaktereigenschaften des Propheten, solche Sachen.
Das klang gut, vor allem, weil ich sehen konnte, wie Saryuh seinen Glauben lebte. So ein Mensch wäre ich auch gerne, dachte ich mir damals. Er war einfach toll, so etwas wie meine beste Freundin, nur halt als Mann. Sonst war ich mit Männern zu dem Zeitpunkt gerade durch, die waren nur Katastrophen in Serie. Ich hatte gerade eine dreijährige Beziehung hinter mir, die endete, als mein Freund, der Idiot, in die Türkei abgeschoben wurde und ich ihm sogar noch hinterhergeflogen bin, dort mein Visum überzogen und dann Stress bei der Ausreise bekommen habe. Während ich um ihn kämpfte, hat er sich in der Türkei irgendwelche Touristinnen klargemacht. Hinterher war es mir ein Rätsel, was ich an dem mal gefunden habe. Dann verschimmel halt, dachte ich mir. Danach hatte ich erst mal genug von den Männern.
Als ich klein war, hatte ich an Gott geglaubt, konnte aber mit dem Christentum nichts anfangen. Als Kind verstehst du das alles ja sowieso noch nicht ganz. Die einen glauben an die Trinität, die anderen nicht, aber was hat das mit mir zu tun? Ich wusste nicht, was ich mit Religion in meinem Leben anfangen sollte. Aber dann kam diese CD. Die traf mich einfach zur richtigen Zeit.
Der Autor erklärte darauf den Sinn des Lebens, wieso so viele Leute in Europa mit Depressionen herumlaufen, nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen, warum sie Alkohol trinken, Drogenprobleme haben. Oder warum andere den ganzen Tag arbeiten, um sich die Miete für eine Wohnung leisten zu können, in die sie nur zum Schlafen kommen, weil sie ja sonst die ganze Zeit arbeiten. Das hat mich einerseits genervt, andererseits dachte ich: Das ist doch meine Situation! Er hatte recht, also, zumindest mit der Bestandsaufnahme. Zugleich versprach der Autor, dass jeder Muslim sein kann, dass jeder willkommen ist. Das hat mich angesprochen damals, darin fühlte ich mich wohl.
Saryuh und ich sind immer noch gute Freunde. Aber im Gegensatz zu mir hat er es geschafft, lebt jetzt ein richtiges Leben, mit Familie, Kind, gutem Einkommen und so. Ich hingegen bin damals nach und nach in die salafistische Szene reingerutscht.
Mein Chef in dem Internetcafé, in dem ich jobbte, war Pakistaner, der meinte: »Wenn du konvertieren möchtest, kannst du das bei uns machen. Wir haben eine Moschee, die hat auch einen Frauenraum.« Mit 19 bin ich dann konvertiert. Und landete in einer Gemeinschaft, die mir näher war als meine Familie. Kurze Zeit nach meinem Übertritt standen dann im Internetcafé auf einmal zwei verschleierte Frauen vor mir. Ich dachte: »Scheiße, was wollen die denn von dir?« Da meinte die eine: »Wir wollten dir Bücher geben und dich einladen. Eine Freundin hat ein Kind bekommen, wir feiern am Sonntag, magst du auch kommen?« Die waren auch Konvertierte, eine Deutsche und eine Polin. Ich bin dann in deren Kreis geraten, wir waren meistens vier oder fünf, die in der einen oder anderen Wohnung zusammengehockt haben. Da waren Deutsche, Amerikaner, Polen, Afrikaner, wir haben zusammen gegessen, zusammen eingekauft, viel Zeit miteinander verbracht. Das erste Mal seit Langem hatte ich wieder einen einigermaßen geregelten Tagesablauf. Ich war zwar immer noch arbeitslos, bin aber morgens aufgestanden, habe die eine oder andere Freundin besucht, war mit ihr und den Kindern auf dem Spielplatz, wir haben zusammen gekocht, Kuchen gebacken. Kleine, alltägliche Dinge, aber die haben mir gutgetan.
In die Moschee bin ich damals nicht so oft gegangen, was...