Auch wenn das Tier, das seinen Knochen einst (wie auch immer) lassen musste, nicht mehr ermittelt werden kann – so viel immerhin steht fest: Der kleine Knochen stammt aus Zentralafrika. Der Fundort Ishango liegt etwa 15 Kilometer nördlich des Äquators am Nordwestufer des Edward-Sees, an der Grenze zwischen Kongo und Uganda.
Der Edward-See (links) – Ishango lag einst an der Flussmündung am nördlichen Seeufer (rechts). Dort entdeckte Jean de Heinzelin den Knochen von Ishango.
Graphik Jan Schneider
Jean de Heinzelin
© Royal Belgian Institute of Natural Sciences, Brussels (WH S. 7)
Dort, an der Steilküste am Nordufer, hatte der belgische Biologe Hubert Damas 1935 Testgrabungen gemacht und die Proben nach Brüssel geschickt. Darunter war auch das Bruchstück eines frühmenschlichen Unterkiefers, das allemal interessant aussah; was schließlich 1950 dazu führte, dass Victor van Straelen, Direktor des Instituts für die Nationalparks in Belgisch-Kongo, den damals dreißigjährigen Geologen und Archäologen Jean de Heinzelin de Braucourt mit einer großangelegten archäologischen Expe-dition beauftragte. Der Ort Ishango ist eine Art frühzeitliches Pompeji: Er war über Jahrhunderte besiedelt, bevor er durch einen Vulkanausbruch verschüttet wurde. Die Datierung der Siedlungsreste war schwierig, auch wegen der Vulkanasche, die die Artefakte zwar wunderbar konserviert hat, die Ergebnisse der üblichen Radiokarbonmethode aber wegen ihrer sehr niedrigen Konzentration des Kohlenstoff-Isotops 14 C verfälschen kann. De Heinzelin schätzte das Alter des Wohnplatzes auf mindestens 8500 Jahre; heute, nach weiteren Grabungen und Untersuchungen aus dem Jahr 1985, wissen wir, dass die Fundstücke etwa 22 000 Jahre alt sind. Über seine Entdeckungen schrieb Jean de Heinzelin:
Das faszinierendste und phantasieanregendste Fundstück aus Ishango ist nicht eine Harpunenspitze, sondern ein knöcherner Werkzeuggriff, an dessen Kopf in einer engen Aushöhlung ein kleines Quarz-Bruchstück befestigt ist. Zunächst einmal legen seine Form und der scharfe Stein an seiner Spitze nahe, dass er zum Gravieren oder Tätowieren verwendet wurde oder sogar zu irgendeiner Art von Schreiben. Noch interessanter sind jedoch seine Markierungen: Gruppen von Einkerbungen in drei Spalten. Das Muster dieser Einkerbungen führt mich zu der Vermutung, dass sie mehr darstellen als Dekoration. Wenn man sie zählt, entstehen mehrere Zahlenfolgen. In einer der Spalten finden sich vier Gruppen von 11, 13, 17 und 19 einzelnen Kerben.
Ein kleiner Knochen also, mit einem Quarz am Ende verziert. Kunst? Ein Werkzeuggriff, wie de Heinzelin meinte? Oder ein Schreibgerät? Das wäre interessant in Zeiten lange vor dem Beginn des Schreibens. Oder doch ein Tätowierstab? Damit hätten wir schon mal vier Theorien auf dem Tisch! Der Mathematiker aber wird ganz sicher bei der fünften Theorie hellhörig werden: 11, 13, 17 und 19 – das sind die Primzahlen zwischen 10 und 20!
Aber wie sollen die Steinzeitmenschen von Ishango Primzahlen verstanden haben, Jahrtausende vor der Entwicklung des Rechnens mit Zahlen? Und es geht ja nicht nur um diese eine Zahlenfolge. Auf dem Ishango-Knochen sind drei Reihen von Einkerbungen in kleinen Gruppen zu erkennen. In einer der drei Reihen finden sich 11, 13, 17 und 19 Kerben – eben die Primzahlen zwischen 10 und 20, die eine Summe von 60 ergeben. In einer zweiten Reihe sind vier Gruppen von 11, 21, 19 und 9 Kerben, insgesamt also wieder 60. Und in der dritten Spalte sieht man 3, 6, 4, 8, 10, 5, 5 und 7 Kerben, mit Summe 48 – wenn nicht die 10 doch eine 9 ist. Jean de Heinzelin schreibt: »Ich kann kaum glauben, dass diese Zahlenfolgen zufällig sind. Die Gruppen in den einzelnen Spalten sind sehr unterschiedlich, und in jeder Spalte finden sich innere Beziehungen, die ganz anders sind als in den anderen.«
Die Kerben auf dem Ishango-Knochen; Schema-Zeichnung des belgischen Archäologen Jean de Heinzelin
Aus J. de Heinzelin, Les Fouilles d’Ishango. Exploration du Parc National Albert, Fasc. 2, 1957, The Institute of the National Parks of Belgian Congo, Brussels 1957, © Royal Belgian Institute of Natural Sciences, Brussels
In der dritten Zahlenspalte beispielsweise sieht Jean de Heinzelin Verdopplungsmuster. Er hält es natürlich für möglich, dass die Muster alle zufällig sind. Aber der Archäologe sagt, es sei sehr viel wahrscheinlicher, dass die Kerbungen einst ganz bewusst angebracht wurden. Wenn dem so ist, stellen sie eine Art von Zahlenspiel dar, entworfen von Leuten, die ein Zahlensystem hatten, das vielleicht auf der Zahl 6 oder 10 oder 12 basierte – und die auch Verdopplung und möglicherweise Primzahlen kannten.
Damit ist das Spiel natürlich eröffnet! Was bedeuten die Zahlen? 11, 13, 17 und 19 sind ja eben nicht nur Primzahlen, das sind auch die Vielfachen von 6, jeweils plus oder minus 1. Die Zahlen 9, 11, 19, 21 wiederum sind Vielfache von 10, wieder jeweils plus oder minus 1. Und die Summen 48 und 60, das sind jeweils Vielfache von 12. Alles Zufall?
Männerphantasien oder der Knochen im Weltall
1968, also vor 45 Jahren, kam »2001: Odyssee im Weltraum« in die Kinos, ein berühmter Science-Fiction-Film von Stanley Kubrick. Das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit Arthur C. Clarke, einem britischen Autor und Visionär mit Mathematik- und Physikstudium, der 1945 die geostationären Kommunikationssatelliten erfunden hat, und im März 2008 neunzigjährig verstorben ist. Der Film hat viele interessante Aspekte, von der Tricktechnik bis zur Musik, er enthält insbesondere aber auch »einen der irrwitzigsten Schnitte der Filmgeschichte«. So jedenfalls steht es auf der DVD-Hülle, also muss es stimmen.
Sehen wir uns die Szene einmal an: Ein Frühmensch hat gerade entdeckt, dass man mit einem Knochen wunderbar Artgenossen erschlagen kann, was man kulturpessimistisch leichtfertig als Moment der Menschwerdung interpretieren könnte. Er schleudert diesen Knochen, die Mordwaffe, in die Höhe – und dann kommt der Schnitt auf einen futuristischen Raumtransporter, der schwerelos und still am schwarzen Himmel steht. Arthur C. Clarke nennt das den »three million year cut«. Das ist vielleicht eine kleine Übertreibung. Wenn der Schnitt vom Beginn der Steinzeit ins Jahr 2001 führt, ist das eher ein »thirty thousand year cut«, aber drei Millionen klingt natürlich besser. (Wie jede Übertreibung kann auch diese noch überboten werden: Im Internet findet man den Schnitt auch als »four million year cut« beschrieben.)
Ein Knochen wird in den Raum geschleudert, sozusagen als Brücke von der Steinzeit ins moderne High-Tech-Zeitalter? Eine typische Männerphantasie als Symbol für den Weg der Menschheit?
Da liegt es doch fast nahe, den Kubrick-Knochen umzuinterpretieren in den Ishango-Knochen. Schließlich trägt er Primzahlen, also genau jene Zahlentheorie, die auch Grundlage ist für die sichere und fehlerfreie Datenübertragung und Kommunikationstechnik, vom Mobiltelefon bis zur Raumfahrt.
Die Verbindung zwischen Ishango-Knochen und Raumfahrt hat als Erster wohl der amerikanische Journalist Alexander Marshack propagiert, der 1958 ein Buch für das »Internationale Geophysikalische Jahr« zu Beginn des Raumfahrtzeitalters schrieb – ein Außenseiter, der mithilfe von damals völlig neuen Mikroskop-Methoden den Ishango-Knochen und andere steinzeitliche Artefakte untersuchen durfte. Weil die beiden äußeren Spalten jeweils die Summe 60 ergeben, interpretierte Marshack die Zahlensysteme als Mondkalender und damit als Grundlage und Anfang von Astronomie und später Raumfahrt.
Großer Wurf: Der »three million year cut« aus »2001: A Space Odyssey«
http://www.thefilmframes.com
Im Jahr 1996 hat dann der belgische Mathematiker Dirk Huylebrouck vorgeschlagen, den »three million year cut« auch außerhalb eines Filmsets zu realisieren und den Ishango-Knochen (oder eine Kopie davon) mit einem Space Shuttle in den Weltraum zu transportieren. Er solle schwerelos im Raum schweben – als Referenz an »2001«, aber auch um sichtbar (!) den Bogen zu spannen von den Anfängen der menschlichen Kultur bis zur Erfindung der Zukunft.
Huylebrouck beschreibt stolz, er habe schon ein Jahr zuvor einem befreundeten Astronauten eine Kopie des Ishango-Knochens zugesteckt – der Astronaut war bis zu den Startvorbereitungen in Houston gekommen, durfte am Ende aber leider doch nicht ins All. 2009 gab es einen weiteren Anlauf in Sachen »großer Wurf«: Huylebrouck und andere wollten erreichen, dass der belgische Astronaut Frank De Winne den Ishango-Knochen in die Internationale Raumstation ISS mitnehmen dür-fe. Was wäre das für ein wunderbares Bild gewesen für das Internationale Jahr der Astronomie!
Aber natürlich kann so ein kleiner Knochen auch zermahlen werden in den Mühlen einer Großbürokratie, wie sie bei der Europäischen Weltraumbehörde ESA vorherrscht. Das bisher Letzte, was ich zu dem Thema gehört habe, stammt aus einer E-Mail von Jules Grandsire, Abteilung »PR & Communications« des European Astronaut Centre der ESA in Köln. Am 25. August 2008 schrieb er: »Danke für Ihre...