ERSTES KAPITEL.
Von dem Dasein der Seele.
§. 1. Von den Gründen für die Bildung des Begriffs der Seele.
1. In unmittelbarer und unzweifelhafter Wahrnehmung ist es andern Wissenschaften vergönnt, den Gegenstand ihrer Untersuchung vor sich zu sehn; auf Pflanze, Tier und Stein kann die Naturgeschichte, wie auf festgezeichnete Bilder einer Allen in gleicher Weise zugänglichen Anschauungswelt verweisen. Mühseliger ist der Beginn der Psychologie. Schon in ihrem Anfang sehen wir uns über Dasein und Begrenzung ihres Gegenstandes in einen Streit verwickelt, den zu unterhalten und zu verwirren stets die ganze Leidenschaftlichkeit der mannigfachen Vorurteile geschäftig war, die ein so großer Gegenstand, alle Interessen des menschlichen Lebens berührend, notwendig in Bewegung setzen mußte. Die Ereignisse, die wir dem Gebiete des geistigen Daseins zurechnen, alle jene Formen des Bewußtseins, der Empfindung und der Rückäußerung innerer Zustände, sind für uns stets nur in unauflöslicher Verbindung mit den gleich veränderlichen Zuständen des lebendigen Leibes Gegenstände einer wirklichen Beobachtung. Hätte die Bildung der Sprache sich begnügt, aus der Menge dieser verschiedenen und wandelbaren Ereignisse das Gleichartige und Entsprechende, unter dem Namen psychischer Erscheinungen vielleicht, zusammenzuziehen, so würde sie uns dadurch den tatsächlich vorhandenen Gegenstand einer möglichen Wissenschaft vorurteilslos bezeichnet haben. Aber vorahnend, wie immer, hat sie zugleich theoretisiert, und indem sie den Begriff der Seele schuf, eine große und wichtige Behauptung, welche das Ergebnis strenger Untersuchung sein müßte, in Gestalt eines unwissenschaftlichen Vorurteils unserm gewöhnlichen Vorstellungskreise einverwebt. Denn indem sie unter dem Namen der Seele in die Mitte jener beobachteten Erscheinungen ein durch keine Beobachtung nachweisbares Subjekt hineinstellte, hat sie ausgesprochen, dass jene Gruppe von Erscheinungen nicht nur um ihrer innern Verwandtschaft willen auf einen eigentümlichen Erklärungsgrund überhaupt hinweise, sondern dass dieser Grund nur in der Annahme eines eigentümlichen substantiellen Wesens zu finden sei.
2. Die Möglichkeit, Psychologie als eigene Wissenschaft auszubilden, oder die Notwendigkeit, sie als einzelnes Gebiet der Anwendung den übrigen Naturwissenschaften einzuschalten, beruht auf der Wahrheit oder Unwahrheit dieses Vorurteils, das wir in der Bildung jeder Sprache wiederkehren sehen und deshalb zu den beständigsten Erzeugnissen menschlicher Reflexion zählen müssen. Man könnte es vorziehen wollen, hier, wie am Anfange anderer Naturwissenschaften, diese Frage dahin gestellt zu lassen, und von der vollendeten Untersuchung der Erscheinungen, die uns allein gegeben sind, die Entscheidung über die Natur des unbeobachtbaren Prinzips zu erwarten, auf welches sie zurückzudeuten sind. Die unvermeidliche Unvollkommenheit psychologischer Wahrnehmungen läßt uns indessen von diesem Aufschub nicht gleichen Vorteil hier wie dort voraussehn. Der Naturbeobachtung steht eine so feine Messung freiwillig geschehender und eine so große Mannigfaltigkeit künstlich zu erzeugender Ereignisse zu Gebot, dass sie leicht aus der Vergleichung ihrer Erfahrungen die Möglichkeit des einen, die Unmöglichkeit des andern, und auf dem Wege fortwährenden Ausschließens die alleinige Zulässigkeit eines einzigen Erklärungsprinzipes folgern kann. Unsere Beobachtungen psychischer Zustände dagegen sind so fein und bestimmt niemals, dass uns eine einzelne von ihnen einen entscheidenden Beweis für die eine oder die andere Ansicht darböte; jene Züge des Seelenlebens aber, auf welche die Wahl eines Erklärungsgrundes am Ende der Untersuchung doch immer wieder zurückkommen würde, sind auch an ihrem Anfange klar genug, um die Beantwortung jener Frage zu dem ersten Gegenstande unserer Überlegung zu machen. In drei Zügen nun scheint die lebendige Bildung der Sprache den Grund für die Erschaffung jenes Begriffes der Seele gesehen zu haben. Zuerst in der beobachteten Tatsache des Vorstellens, Fühlens und Begehrens, dreier Formen des Geschehens, in denen sich außer dem bloßen Sein und Geschehen noch eine hinzukommende Wahrnehmung dieses Seins und Geschehens, das Phänomen des Bewußtseins im weitesten Sinne, zeigt; dann in der Einheit dieses Bewußtseins, welche nicht gestattet, die geistigen Tätigkeiten an ein Aggregat teilbarer und nur äußerlich verbundner körperlicher Massen zu knüpfen; endlich in dem nicht beobachteten, sondern aus Beobachtungen gefolgerten Umstände, dass alles übrige Seiende sich in allen seinen Verhältnissen nur als wirkende Ursache benimmt, die nach allgemeinen Gesetzen vorherbestimmte Folgen mit Notwendigkeit erzeugt, während das Beseelte allein als handelndes Subjekt Bewegungen und Veränderungen, Taten überhaupt, mit neuem Anfange frei aus sich hervorgehn läßt. Prüfen wir nun, ob diese Züge die Annahme eines eigentümlichen Prinzips, der Seele ihrer Erklärung unentbehrlich machen, so werden wir finden, dass die Psychologie sich nicht auf alle mit gleichem Rechte stützen kann.
3. Von äußern Eindrücken und ihren physischen Wechselwirkungen mit den materiellen Elementen unsers Körpers zeigt uns eine allgemeine und unablässig wiederholte Erfahrung die Veränderungen unserer geistigen Zustände abhängig. Andere Farben sieht unser Auge, andere Töne vernehmen wir, wenn die Schwingungsfrequenz oszillierender Mittel sich ändert, die unsere Sinneswerkzeuge berühren, andere Empfindungen knüpfen sich an den Wechsel der Gestalt, der Dichtigkeit und der Geschwindigkeit der bewegten Körper, die mit der Oberfläche unsers Leibes in Berührung kommen, und alle diese Veränderungen erfolgen gesetzmäßig, unter gleichen Bedingungen sich stets in gleicher Weise wiederholend. Gewisser ist daher nichts, als dass die physischen Zustände körperlicher Elemente ein Reich von Bedingungen darstellen können, an welchen Dasein und Form unserer geistigen Zustände mit Notwendigkeit hängt. Aber alles, was den materiellen Elementen der Natur als solchen, oder was dem eigenen Körper als einer Zusammenfassung vieler von ihnen zustoßen kann, die Gesamtheit aller jener Bestimmungen der Ausdehnung, Mischung, Dichtigkeit und Bewegung, ist zugleich völlig unvergleichbar mit der eigentümlichen Qualität jener geistigen Zustände, die wir an sie geknüpft sehen. Keine Analyse würde in der Natur einer Schallwelle einen hinlänglichen Grund finden können, am deswillen sie als Ton und zwar als dieser bestimmte Ton empfunden werden müßte; umgekehrt sind Jahrtausende lang die Farben wahrgenommen worden, ohne dass in ihnen eine Hindeutung auf die Wellenzahl eines vibrierenden Äthers bemerkt worden wäre. Es würde zu rasch sein, um dieser Schwierigkeit willen sofort zu einem eigenen psychischen Prinzip zu flüchten; auch in dem Gebiete des unbeseelten Geschehens finden wir ähnliche Vorkommnisse, deren Analyse uns zu einer richtigeren Auffassung dieser Vermutung eines eigentümlichen Prinzips zurückführen wird.
4. Es ist ein sehr irrtümlicher Grundsatz, dem man oft zu huldigen pflegt, dass jede Wirkung ihrer Ursache, jede Folge ihrem Grunde ähnlich sein müsse. So lange sich diese Meinung auf die äußerlich beobachtbare Form der erscheinenden Ursachen und Wirkungen bezieht, kann nichts grundloser sein als sie. Das Leben der Natur besteht vielmehr gerade in unendlich wechselnden Kombinationen einfacher Prozesse, die äußerst verschiedene Erscheinungen darbieten können, indem die jedesmalige Stellung wirksamer Elemente zu einander bald einzelne Kräfte, die früher ruhten, zur Tätigkeit beruft, bald anderen die Möglichkeit erfolgreicher Äußerung entzieht. So lange wir die qualitative Veränderlichkeit der Körper außer Acht lassen und sie nur als Massen betrachten, läßt sich allerdings leicht nachweisen, wie Geschwindigkeit und Richtung der Bewegung, in die sie versetzt werden, analytisch schon in den Bewegungen anderer enthalten lag, durch deren Anstoß ihnen die ihrige mitgeteilt wurde, oder in jenen beständigen Kräften, die der Masse ursprünglich eigen, nach verschiedenen Entfernungen verschiedene Beschleunigung erregen. Sehen wir dagegen eine langsam anwachsende Temperatur, die zunächst nur stetig die gewohnte Ausdehnung einer Materie hervorbrachte, bei einer gewissen Höhe plötzlich mit einer Explosion derselben endigen, so entgeht uns im ersten Augenblicke der analytische Zusammenhang beider in ihrer Form so verschiedenen Ereignisse. Dennoch ist er gewiß vorhanden, und wir besinnen uns bald, dass er eben in jener ausdehnenden Kraft der Wärme liegen mag, die auf die verschiedenen Bestandteile der zusammengesetzten Materie nicht gleichmäßig, sondern verschieden einwirkte, weil sie dieselben nicht als indifferente Massen, sondern als spezifische Elemente antraf, deren eigentümliche Verwandtschaften nun Gelegenheit fanden, nach ihren Gesetzen die letzte Gestalt des Erfolges hervorzubringen. Einer gleichen Anschauungsweise bedienen wir uns in den Naturwissenschaften überall. In der stetigen Fortdauer oder dem gleichförmigen Anwachs einer einfachen Kraft liegt niemals der Grund, warum sie unstetige Wirkungen von springender Veränderlichkeit erzeugen sollte, in der Natur derselben Kraft nie der Grund, warum sie hier und dort qualitativ verschiedene Effekte bedingte. Wo sich in der Natur eines veranlassenden Prozesses analytisch die qualitative Form des mit ihm verknüpften Erfolges nicht nachweisen läßt, liegt sie ohne Zweifel in der spezifischen Natur des Objektes begründet, auf welches jener Prozeß einwirkte, und so verschiedenartige Gruppen von Wirkungen wir aus gleichen Reizen...