II
Die Bewertung
1. Die klassische Bewertung von Warrants
Die Geschichte der Optionsgeschäfte reicht bereits einige Jahrhunderte zurück. Spektakuläre Euphorien und Riesenpleiten begleiteten diesen Markt. Ganze Volkswirtschaften wurden dabei in Mitleidenschaft und sogar in jahrelange Krisen gestürzt. Dies war Grund genug für Wissenschaftler, sich mit Fragen nach den Risiken und der richtigen Bewertung von Optionen und Optionsscheinen zu befassen. Auch die Psychologie der Anleger wurde dabei kritisch durchleuchtet: Vor allem in freundlichen Börsenzeiten engagieren sich unerfahrene Anleger am Optionsscheinmarkt, ohne die Risiken dieser Geschäfte einschätzen zu können.
Angelockt von Presseberichten über exorbitante Kursgewinne kaufen sie Warrants, ohne von ihren Scheinen viel mehr zu kennen als das Basisobjekt. Wenn solche Börsenneulinge Pech haben, dann machen sie mit ihrem ersten Engagement auch gleich einen schönen Gewinn. Pech deshalb, weil sie das Geld später mit hohen Zinsen wieder zurückzahlen müssen. Es sei denn, sie sehen die Sache realistisch, führen ihren Erfolg nicht auf Können, sondern auf Anfängerglück zurück und informieren sich in Zukunft gründlich, bevor sie einen Optionsschein kaufen.
Bei Aktien gibt es zwei vernünftige Kaufgründe: Die Aussicht auf einen Kursgewinn und die Rendite durch (hoffentlich) regelmäßige Dividendenzahlungen. Optionsscheine aber sind renditelose Papiere, und zudem ist ihre Laufzeit begrenzt. Es ist somit unerläßlich, vor einem Kauf die Chancen und Risiken eines Engagements ganz genau abzuwägen. In diesem Abschnitt werden wir daher die gängigen Optionsschein-Bewertungsmodelle vorstellen und ihre Aussagekraft kritisch miteinander vergleichen.
Die paritätsbezogenen Bewertungskriterien
Erste Ansätze zur Beurteilung von Chancen und Risiken am Optionsmarkt reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück. James Moser veröffentlichte 1875 in Berlin “Die Lehre von den Zeitgeschäften und deren Kombinationen”. Graphische Darstellungen verdeutlichten in diesem Werk die Gewinne und Verluste in Abhängigkeit von der Kursnotiz des Basisobjekts bei Endfälligkeit. So weist beispielsweise ein Kaufoptionsschein, der zum Bezug einer Aktie für 100 Euro berechtigt und 10 Euro gekostet hat, folgendes Gewinn- und Verlustprofil auf:
Abb. 1: Der Kauf eines Kaufoptionsscheins
Die Abbildung zeigt, daß der Call Warrant erst Gewinn abwirft, wenn die Aktie bei Endfälligkeit über 110 Euro notiert. Daß dies auch stimmt, beweist die folgende Rechnung: Bei Ausübung des Warrant erhält der Besitzer des Scheins die Aktie für 100 Euro. An der Börse kann er diese Aktie für 110 Euro, also mit 10 Euro Gewinn verkaufen. Da jedoch der Optionsschein beim Kauf 10 Euro gekostet hat, hebt sich der Gewinn mit dem gezahlten Optionsscheinkurs auf. Bei einem Aktienkurs zwischen 100 Euro und 110 Euro fällt aus diesem Grund ein Teilverlust an. Bei einem Kurs unter 100 Euro lohnt die Ausübung nicht, da die Aktie am Markt günstiger gekauft werden kann. Die Folge: Totalverlust des für den Optionsschein aufgewendeten Kapitals.
Auch Gewinn und Verlust in Abhängigkeit vom Kurs des Basisobjekts bei Endfälligkeit können mit Hilfe dieser Graphik dargestellt werden. Dabei greifen wir auch hier auf eine Aktie zurück, die allerdings nun für 100 Euro verkauft werden kann. Auch dieser Optionsschein kostete beim Kauf 10 Euro.
Abb. 2: Der Kauf eines Verkaufsoptionsscheins
Der Put Warrant wirft in diesem Fall erst Gewinn ab, wenn die Aktie bei Endfälligkeit unter 90 Euro notiert. Folgende Überlegung liegt dieser Graphik zugrunde: Bei Ausübung des Warrant verkauft der Besitzer des Scheins eine Aktie, die er im Depot hat, für 100 Euro. An der Börse kann er diese Aktie für 90 Euro verkaufen, also für 10 Euro weniger. Er hat daher einen Gewinn von 10 Euro erzielt. Da jedoch der Optionsschein beim Kauf auch 10 Euro gekostet hat, hebt sich der Gewinn (aus dem Verkauf über den Put) mit dem gezahlten Optionsscheinkurs auf. Bei einem Aktienkurs zwischen 100 Euro und 90 Euro fällt aus diesem Grund ein Teilverlust an. Bei einem Kurs über 100 Euro lohnt die Ausübung nicht, da die Aktie am Markt günstiger verkauft werden kann. Es kommt zum Totalverlust der Optionsprämie.
Es entwickelten sich zudem paritätsbezogene Optionsschein-Kennzahlen, auf die beim Kauf eines Warrant zurückgegriffen werden kann. Dabei handelt es sich um den inneren Wert und das Aufgeld. Diese paritätsbezogenen Kennzahlen sind quasi die klassische Art der Optionsscheinbewertung. Durch neue, von der modernen Optionspreistheorie beeinflußte Modelle haben sie zwar zumindest in professionellen Kreisen an Beachtung verloren, doch das heißt nicht, daß sie bedeutungslos geworden wären. Ein Vorteil ist auch, daß man diese Kennzahlen ohne großen mathematischen Aufwand berechnen und sich so sehr schnell einen Überblick verschaffen kann, ob ein Schein attraktiv ist. Nach dieser Vorauswahl dürfte es dann lohnen, in Frage kommende Warrants mit den Mitteln der modernen Optionspreistheorie zu untersuchen, bevor man kauft.
Der innere Wert
Unter dem inneren Wert (auch Substanzwert oder Parität genannt) eines Optionsscheins versteht man die Differenz zwischen dem Basispreis und dem aktuellen Kurswert des Basisobjekts. Berechtigt ein Schein zum Kauf einer Bayer-Aktie zum Preis von 30 Euro und steht diese Aktie bei 75 Euro, so beträgt der innere Wert des Scheins:
Innerer Wert = 35 – 30 = 5 Euro
Sinkt die Bayer-Aktie in unserem Beispiel unter den Basispreis von 30 Euro, so hat der Schein keinen inneren Wert. Er ist dann “aus dem Geld” (out of the money), wie die Börsianer sagen. “Im Geld” (in the money) heißt: der Schein hat einen inneren Wert. “Am Geld” (at the money): der Kurs des Basisobjekts entspricht dem Basispreis oder liegt in unmittelbarer Nähe.
Unser Beispiel trifft natürlich nur dann zu, wenn das Optionsverhältnis 1:1 beträgt. Weist der fiktive Bayer-Schein ein Optionsverhältnis von 1:2 auf, berechtigt also zum Bezug von zwei Aktien, dann beträgt sein innerer Wert:
Innerer Wert = (35 – 30) : 1/2 = 10 Euro
Die allgemeine Berechnungsformel für diese paritätsbezogene Kennzahl unter Berücksichtigung des Optionsverhältnisses lautet:
Man könnte nun fragen, warum der Börsenkurs von Optionsscheinen in der Regel weit über ihrem inneren Wert liegt. Der Inhaber des Bayer-Scheins aus unserem ersten Beispiel hat das Recht, eine Bayer-Aktie durch Ausübung seines Optionsrechts um 5 Euro billiger zu beziehen als der direkte Kauf an der Börse kosten würde. Warum sollte er also 10 oder gar 20 Euro für dieses Recht bezahlen?
Die Antwort: Der Börsenkurs von Optionsscheinen setzt sich aus dem inneren Wert und dem sogenannten Zeitwert zusammen. Dieser Zeitwert ist als Entgelt für die “Lebensdauer” des Rechts zum Kauf (Call) oder Verkauf (Put) eines Basisobjekts zu verstehen. Je länger die verbleibende Laufzeit eines Scheins, desto wertvoller ist dieses Recht, und desto höher ist tendenziell der prozentuale Anteil des Zeitwerts am Gesamtwert (d. h. Kurswert) des Optionsscheins. Das Recht, eine Bayer-Aktie um 30 Euro zu beziehen, ist ja auch attraktiver, wenn es für die kommenden fünf Jahre gilt, als wenn es in drei Monaten erlischt. Hat ein Schein keinen inneren Wert, notiert er also “aus dem Geld”, so reflektiert sein Börsenkurs allein die Tatsache, daß die in ihm verbrieften Optionsrechte noch für eine bestimmte Zeit gelten. Nähert sich ein Schein ohne inneren Wert dem Laufzeitende, so tendiert sein Börsenkurs allerdings tatsächlich gegen Null, denn er ist in jeder Hinsicht “nichts mehr wert”.
Bei “aus dem Geld” stehenden Scheinen repräsentiert der Optionsscheinkurs nur noch Zeitwert. Steht der Warrant dagegen im Geld und weist daher einen positiven inneren Wert auf, so lautet die Formel für den Zeitwert:
Zeitwert = Optionsscheinkurs – Innerer Wert
Wenn der Kurs des Basisobjekts unverändert bleibt, verliert ein Optionschein von Tag zu Tag an Zeitwert. Dieser sogenannte Zeitwertverfall ist prozentual kurz vor Fälligkeit deutlich höher als am Beginn der Laufzeit, da ja jeder Tag, der vergeht, dann einen größeren Anteil an der Restlaufzeit repräsentiert. Der Zeitwertverfall kann berechnet werden (mehr dazu im Abschnitt über die Grundlagen der modernen Optionspreistheorie).
Es liegt auf der Hand, daß ein Warrant desto spekulativer ist, je höher der Zeitwertanteil an seinem Börsenkurs ausfällt. Bei Scheinen ohne inneren Wert und einem Zeitwertanteil von 100 Prozent liegt die Hoffnung des Anlegers allein darin, daß das Basisinstrument sich noch vor Laufzeitende in die gewünschte Richtung bewegen und der Schein somit “ins Geld” kommen wird. Bleibt diese Bewegung aus, so ist der wertlose Verfall des Optionsscheins programmiert. Kommt sie allerdings und fällt dazu noch kräftig aus,...