Kapitel 2
Am Anfang war das Bild
Ein weiß verputztes Haus in der Ortenaustraße in Mannheim-Lindenhof Anfang der 1970er-Jahre. Davor unzählige Fahrräder, wild durcheinandergeparkt. Im Keller des Hauses die zu den Fahrrädern gehörenden Kinder, insgesamt vierzig bis fünfzig, auf engstem Raum dicht an dicht aneinandergepresst. In dem eigentlich viel zu kleinen Hobbykeller ist kein freies Fleckchen Boden mehr zu sehen. Der Blick der Kinder ist gebannt auf eine improvisierte Leinwand gerichtet, auf der, untermalt vom stoischen Rattern eines Quelle-Projektors und begleitet von der Musik eines Kassettenrekorders, ein Walt-Disney-Film flimmert.
Die eigene Geschichte hat im Rückblick immer viele Anfänge. Die Frage, warum wir im späteren Leben das tun, was wir tun, und warum wir geworden sind, wer wir sind, hat in der Regel viele Antworten. Persönlichkeit entsteht nicht von heute auf morgen, sondern sie ist das Ergebnis unserer Herkunft, vielfältiger Einflüsse, einschneidender Schlüsselerlebnisse und oft auch biografischer Brüche. Identitätsfindung ist kein plötzliches Erwachen, sondern ein immerwährender, meist unbewusster und manchmal auch ein schmerzhafter Prozess.
Wenn ich versuche, an den Anfang von allem zurückzudenken, ist es immer die Faszination für Bilder, an die ich mich erinnere, für die Geschichten, die man mit ihnen erzählen kann, kurz: für den Film. Und das völlig überfüllte Kino, das ich im Keller meines Mannheimer Elternhauses mit viel Sorgfalt für meine Mitschüler und die Nachbarskinder eingerichtet hatte, gehört ganz sicher zu meinen wichtigen frühen Lebensstationen.
Ich muss vielleicht sieben oder acht Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal ein richtiges Kino von innen und dort meinen ersten Kinofilm gesehen habe. Regelmäßig begleitete ich meine Mutter, wenn sie die Zeitungsartikel, die sie geschrieben hatte, von Mannheim aus mit der Straßenbahn nach Ludwigshafen zur Rheinpfalz brachte. Journalismus war damals, in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts, noch ein analoges Geschäft. Meine Eltern schrieben nicht nur in der Redaktion, sondern oft auch zu Hause, ihre Artikel gaben sie dann vor Redaktionsschluss entweder telefonisch durch oder brachten sie, wenn sie länger oder komplexer waren, eben zur weiteren Besprechung persönlich im Zeitungsgebäude in Ludwigshafen vorbei.
Wenn eine solche Besprechung länger dauerte, durfte ich zur Überbrückung der Wartezeit im Kino neben dem Verlagsgebäude meine ersten Kinderfilme anschauen. Frau Holle, Cinderella und tschechische Märchenfilme wurden so meine ersten, kindgerechten cineastischen Einflüsse, an die ich mich erinnere.
Die Wirkung dieser Kinoerlebnisse verfolgte mich bis nach Hause. Dabei waren es nicht nur die in den Filmen erzählten Geschichten, die mich beeindruckten und umtrieben, sondern es war vor allem die Frage, wie es überhaupt möglich war, dass man scheinbar nur mithilfe einer Lichtquelle ein erkennbares Bild auf eine Fläche fallen lassen konnte. Ich wollte unbedingt herauskriegen, wie das funktionierte. Ein Schnapprollo vor dem Schlafzimmerfenster wurde zu meiner ersten Leinwand. Mit einer Nachttischlampe, die ich davor platzierte, versuchte ich, Bilder darauf zu projizieren, was natürlich nicht gelang. Damit überhaupt etwas auf meiner improvisierten Leinwand zu sehen war, habe ich schließlich in kindlicher Naivität im Schein der Nachttischlampe das Schnapprollo mit den Stiften meiner Mutter mit Cinderellabildern vollgemalt.
Die nächsten Schritte meiner frühkindlichen Professionalisierungsversuche entsprachen dann den für Kinder verfügbaren technischen Möglichkeiten der späteren Sechzigerjahre: Im Spielwarenladen in Ludwigshafen konnte man erste Disney-Diascheiben kaufen, die einzeln durch einen kleinen, batteriebetriebenen roten Plastikprojektor gezogen und so an die Wand geworfen wurden. Es blieb also zunächst bei den statischen Bildern. Dieses rudimentäre Projektionsverfahren entwickelte sich dann jedoch relativ schnell weiter. Aus dem Diaprojektor wurde ein Super-8-Filmprojektor. Ich erinnere mich noch genau an das erste Modell, einen Revue-Foto-Quelle-Projektor ohne Ton, mit dem man nur die dazugehörigen Disney-Filme abspielen konnte. Die untermalte ich dann mit Musik aus dem Kassettenrekorder. Später wurde aus dem Stummfilmprojektor ein Super-8-Tonfilmprojektor. Wieder von Revue-Foto-Quelle. Ich glaube, ich habe damals wie besessen um jedes neue Modell gekämpft.
Doch alles änderte sich schlagartig, als ich meinen Eltern zu meinem elften Geburtstag eine Super-8-Kamera abtrotzte. Ein für damalige Zeiten ungeheuer kostbares Geschenk. Der Preis für das günstigste Modell, eine Revue S4 Super 8, entsprach einem durchschnittlichen Wochenlohn. Eine einzige Kassette für drei Minuten Farbfilm schlug mit einundzwanzig D-Mark zu Buche, und für Projektor und Leinwand, die man brauchte, um die entstandenen Filme auch zeigen zu können, wurden noch einmal zwei Hunderter fällig.
Für mich aber war es vor allem die Tür zu einer neuen Welt: Nun war ich in der Lage, selber die Bilder herzustellen, die ich auf der Leinwand sehen wollte, und den eingekauften Geschichten meine eigenen hinzuzufügen!
Zum ersten Einsatz kam meine neue Kamera beim Ludwigshafener Fastnachtszug im Februar 1971. Mit der Kamera im Anschlag rannte ich halsbrecherisch zwischen den Wagen herum, kaum geübt im Umgang mit dem neuen Gerät, aber enthusiastisch auf der Suche nach dem besten Motiv und der richtigen Perspektive. Das muss so lebensgefährlich ausgesehen haben, dass irgendwann ein Karnevalist ein Einsehen hatte und mich beherzt mitsamt meiner Kamera auf die Ehrentribüne hob. Dort saß ich nun – nicht zuletzt dank meiner Filmleidenschaft – zwischen den Oberbürgermeistern von Ludwigshafen und Mannheim und dem Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl, und habe den Rest des Zuges aus dieser Perspektive weitergefilmt.
Die nächsten Dreharbeiten wurden dann wesentlich besser geplant. Ich begann damit, die Geschichten aus dem Deutschunterricht meiner Schule zu verfilmen. Das Deutschlesebuch wurde dabei zu meiner Stoffvorlage. Mithilfe meiner Mutter schrieb ich die Lesebuchgeschichten zu einfachen Drehbüchern um, vervielfältigte sie und verteilte sie an meine Mitschüler, die ich als Schauspieler für meine Filme verpflichtete. Geprobt und gedreht wurde bei uns im Garten.
Schnell wurden die Produktionen aufwendiger. In die Verfilmung einer Geschichte von Roland Nitsche, Kapitän Frisell operiert, aus ebenjenem Deutschbuch wurde nicht nur meine gesamte Schulklasse eingebunden, sondern ich setzte auch durch, dass ich den Film an einem Ruhetag auf dem Restaurantschiff »Kurpfalz«, das auf der anderen Rheinseite in Ludwigshafen vor Anker lag, drehen durfte. Die dazugehörigen Matrosenkostüme organisierten wir vom Nationaltheater Mannheim, wo sie ursprünglich in der Oper Madama Butterfly eingesetzt worden waren. Über meine Mutter gab es gute Kontakte zum Mannheimer Theater, und meine Schwester, die es anders als mich, aber mit ähnlicher Leidenschaft zum Theater statt zum Film zog, arbeitete dort später jahrelang als Statistin. Die Mutter eines Klassenkameraden gab dem Darsteller des Kapitän Frisell um der größeren Authentizität der Geschichte willen einen Schnellkurs in Sachen Blinddarmoperation. Ich selbst war Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann und Cutter in Personalunion. So wurde Kapitän Frisell operiert zu meinem ersten eigenen Spielfilm, der es als Jugendfilm sogar bis in das Beiprogramm der Mannheimer Filmwoche schaffte.
Natürlich brauchte ich als angehender Filmemacher ein Publikum. Das bestand zunächst aus meinen Eltern und meiner Schwester, bis ich schließlich dazu überging, die Kinder aus der Nachbarschaft einzuladen. Ich werde dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein, als ich anfing, unseren Keller für meine Zwecke umzubauen. Mit aller mir damals zur Verfügung stehenden Energie machte ich mich daran, in dem Hobbykeller, den unser Haus – wie die meisten Familienhäuser dieser Zeit – damals besaß, ein Kino nach meinen Vorstellungen einzurichten, mit Styroporplatten an der Decke und einer selbst gebauten Lautsprecheranlage.
Für die Disney-Filme, die ich hier zeigte, begann ich, Eintritt zu nehmen, zehn oder zwanzig Pfennig – auch, um meine zunehmend kostspieliger werdende Filmleidenschaft zu finanzieren. Und ich gab meinem ersten eigenen Kino einen Namen: Kino Big Ben.
Der Betrieb dieses kleinen Kinos florierte. Das lag auch an der Parallelität von Vorführung und Produktion. Denn neben den eingekauften Disney-Filmen zeigte ich natürlich auch die Filme, die ich im Laufe der Zeit mithilfe meiner Mitschüler selber drehte.
Zwischen meinem zwölften und achtzehnten Lebensjahr entstanden so pro Jahr bis zu vier oder fünf kleinere und größere »Produktionen«, bei denen bald die halbe Schule mitspielte. Und die Filme wurden länger, denn auch das mir zur Verfügung stehende Material wurde besser: Auf die größte Rolle für Super-8-Projektoren passten gut fünfundvierzig Minuten Filmmaterial. Seit 1973 gab es auch Tonfilmkassetten. Das sogenannte Livetonverfahren war allerdings noch sehr umständlich, da die Tonspur aus technischen Gründen um achtzehn Bilder versetzt lief, was vor allem den Schnitt sehr aufwendig machte. Das kurz darauf verfügbare Lichttonverfahren war zwar einfacher in der Handhabung, aber dafür waren die Projektoren sehr teuer, wodurch mein Kino zur noch wichtigeren Finanzierungsquelle meiner Filmprojekte wurde.
Im Prinzip machte ich also schon damals nichts anderes, als ich heute mache: Ich drehte und...