Die Schande von Köln
»Ich habe immer gedacht, in fernen Ländern sei man gefährdet. In Deutschland konnte ich mir das nicht vorstellen. Die massiven sexuellen Bedrängungen dürfen wir nicht hinnehmen, das gefährdet die Balance in unserer Gesellschaft. Die Taten hier in Köln sind ein Angriff auf unsere freiheitliche Grundordnung. Die Frage ist nur, ob eine politische Absicht dahinterstand. Und da hätte ich Zweifel. Grundsätzlich hätte das in jeder anderen Stadt auch passieren können«, äußerte sich Henriette Reker, erst wenige Wochen im Amt als Oberbürgermeisterin, nach den Silvesterübergriffen zum Jahreswechsel 2015/16 in Köln.
In der Silvesternacht waren, wie sich nach und nach herausstellte, insgesamt zwölf Städte in Deutschland Tatort solcher Übergriffe. Der Schwerpunkt war Köln.
»Es kann nicht sein, dass Besucher in Köln Angst haben müssen, überfallen zu werden«, sagte Henriette Reker. Den »Paukenschlag von Köln«, so nannte die Bundeskanzlerin die Vorkommnisse der Silvesternacht. Die Kanzlerin hatte offensichtlich schnell eine Vorstellung davon, dass die Vorfälle in Köln kein lokales Problem sind, sondern eine Herausforderung für uns alle werden können.
Die schlimmen Ereignisse verunsicherten die Kölner und darüber hinaus ganz Deutschland. Das Echo war weltweit – und verheerend. Die sexualisierte Gewalt in und vor dem und um den Hauptbahnhof in der Silvesternacht gelte, so Justizminister Heiko Maas, als »neue Dimension organisierter Kriminalität«. Das wird inzwischen ausgeschlossen. Die Männer sollen sich über die sozialen Netzwerke verabredet haben, nach Köln zu fahren, da sei »große Party«. Mittlerweile spricht man auch nicht pauschal von Flüchtlingen als Täter. Sondern von einer »kriminellen Subkultur, z.B. den sogenannten Maghreb-Banden«. NRW-Innenminister Jäger wollte dafür sorgen, dass sich eine solche Situation nie mehr wiederholt; das sei man den Opfern schuldig.
Henriette Reker: »Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Schuldigen schnell ermittelt und mit aller Härte des Gesetzes verurteilt werden. Obwohl das schwierig ist. Die Opfer können die Täter nur schwer identifizieren. Es ist unbefriedigend, wenn die Spitze des Staates nach Härte ruft, aber am Ende fast nichts dabei herauskommt. Das zeigt die Hilflosigkeit unserer Gesellschaft in dieser Frage.« Und: »Der Platz um den Hauptbahnhof und den Dom ist ein neuralgischer Punkt. Da muss man im Blick behalten, was da passiert. Dazu brauchen wir mehr Polizei, und wir brauchen eine Videoüberwachung, die den Beamten an Ort und Stelle zeigt, was vor sich geht, und ihnen erlaubt, sofort einzugreifen. Es geht darum, die Sicherheit zu gewährleisten, das ganze Jahr. Wir dürfen nicht vor Angst erstarren und unsere Lebensweisen dieser Angst unterordnen. Aber wir müssen Obacht geben. Die Stadt muss in Zukunft für Feste wie Karneval als Veranstalter auftreten und ein Sicherheitskonzept erarbeiten. Wir müssen uns im Vorfeld überlegen, was passieren kann und wie wir damit umgehen. Das hat es bisher nicht gegeben. Wie das konkret aussehen soll, muss auch der Innenminister als oberster Dienstherr der Polizei beantworten. Ich kann nur informieren und fragen: Was machen die Beteiligten, wie gedenken sie damit umzugehen? Ich bin letztlich nicht diejenige, die die polizeilichen Aufgaben übernehmen kann. Es ist Aufgabe der Polizei, solche Straftaten zu verhindern.«
Die sexuellen Übergriffe zum Jahreswechsel 2015/2016 waren eine Schande für Köln. In den arabischen Ländern nennt man solche überfallartigen Sexualdelikte »taharrush gamea«. In Köln herrschte überall Fassungslosigkeit, Wut und auch Scham. Das Lebensgefühl der Stadt, eine Mischung aus Frohsinn, Multikulti, Lockerheit und der viel zitierten Toleranz, schien bis ins Mark erschüttert. Traumatisiert und verwundet war die Stadt. Galt das kölsche Grundgesetz überhaupt noch? Artikel 3: »Et hätt noch emmer joot jejange« (Es ist noch immer gut gegangen)? Die lokale Presse stellte die Frage, ob Köln seinen guten Ruf verspielt habe. Der Direktor des Museums Ludwig stellte fest: »Es erscheint mir zynisch, auf die Ereignisse von Silvester und die schleppende Aufklärung derselben mit der Frage eines möglichen Imageschadens für die Stadt Köln im Ausland zu reagieren. In erster Linie kamen die jungen Frauen zu Schaden, die in dieser Nacht sexuell belästigt und ausgeraubt wurden. Zusätzlich besteht die Gefahr eines Generalverdachts gegenüber Flüchtlingen.«
Frauen organisierten Tage nach den Vorfällen einen Flashmob auf der Domtreppe vor dem Hauptbahnhof und sangen mit einem kölschen Karnevals-Klassiker gegen die Ohnmacht an: »Denn mir sin kölsche Mädcher, hann Spetzebötzjer an. Mir lossen uns nit dran fummele, mir lossen keiner dran!« (Wir sind kölsche Mädchen und haben Spitzenunterwäsche an. Wir lassen uns nicht befummeln, wir lassen keinen ran.) Typisch Köln.
Gegenüber, auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs, versammelten sich fast zeitgleich Sympathisanten der Pegida-Bewegung und lieferten der Polizei einen aggressiven Samstagnachmittag. Aus verbaler Gewalt in den sozialen Netzwerken wurde Gewalt auf der Straße – rechtsextreme Bürgerwehren formierten sich, verfolgten und verprügelten Menschen mit Migrationshintergrund, um Frauen angeblich vor Ausländern zu schützen.
Wären die knapp tausend Frauen aus dem Flashmob nicht doch noch durch den Hauptbahnhof marschiert, um Pegida auf dem Breslauer Platz die Meinung zu sagen, wäre die dortige linke Gegendemo eine kleine Minderheit gegenüber den 1700 Rechten geblieben. Wo waren die Kölner/innen diesmal? Wenig war zu sehen von der verdienstvollen »Arsch huh«-Bewegung oder dem Bündnis »Köln stellt sich quer«, die sich in der Vergangenheit oft so wirkungsvoll Rechtsradikalen und Rassisten entgegengestellt hatten.
Musste sich Köln wieder einmal schämen? So wie die deutsche Presse es schon geschrieben hatte, als die Wahlbeteiligung nach dem Messerattentat auf Henriette Reker nicht dramatisch zunahm, sondern sich die Prognose nur mit Ach und Krach erfüllte?
In dieser beunruhigenden Zeit war Oberbürgermeisterin Reker gerade knapp fünfzig Tage im Amt. Sie rief eine Krisensitzung der Verantwortlichen ein, um vom Polizeipräsidenten über die ungeheuerlichen Vorgänge informiert zu werden und einen Maßnahmenkatalog zu beschließen. Die darauffolgende gemeinsame Pressekonferenz nahm zunächst einen guten Verlauf. Entschlossenheit und Entscheidungen standen im Vordergrund. Dann schlich sich ein Fehler ein. Auf Nachfrage einer Journalistin, was Henriette Reker denn unter konkreten Maßnahmen für Frauen verstehe, kam die Oberbürgermeisterin ins Schlingern. Sie verwies auf die Verhaltensregeln für Frauen und Mädchen, die online bei der Stadt Köln und auch bei verschiedenen Initiativen einzusehen sind. Was als Ratschlag für die nahende Karnevalssession gemeint war, wurde als Schlag gegen die Opfer der vergangenen Silvesternacht interpretiert. Die Botschaft war zwar gut gemeint, erwies sich aber als Bumerang. »Hilflos« war noch die netteste Bewertung.
Das Zitat »Es gibt immer eine Möglichkeit, eine gewisse Distanz zu halten, die weiter als eine Armlänge betrifft«, löste einen veritablen Shitstorm aus. Unter dem Hashtag #armlaenge explodierte Twitter, und die sozialen Medien trieben Blüten aller Art, von Beschimpfungen bis zu Fotomontagen. Rechte wie Linke, Politiker/innen, Feministinnen, Karikaturisten und Interessenvertreter/innen aller Couleur lieferten sich Schlachten um eine Interpretation des Gesagten.
»Ich wurde verkürzt wiedergegeben, und ich habe mich ungeschickt ausgedrückt. Das ist alles«, sagte die Oberbürgermeisterin. »Victim blaming« – »Täter-Opfer-Umkehr« –, schallte es ihr entgegen. Reker entschuldigte sich via Facebook bei den Opfern der Silvesternacht, falls ihre Äußerung diese verletzt haben sollte. Heute ergänzt Reker ihre Aussage so: »Ich glaube dieses Beispiel gewählt zu haben, weil mein Unterbewusstsein die Illusion der Wehrhaftigkeit (nach Erleben des Attentats) aufrechterhalten wollte. Damit bin ich leider weder den an Silvester angegriffenen Frauen noch mir selbst gerecht geworden.«
Die Dynamik des Shitstorms zeigte, wie ein Vorgang von allen möglichen Seiten für eigene Zwecke instrumentalisiert werden kann. Und wie hysterisch Debatten heutzutage geführt werden. In den neuen Medien und in der Medienwelt an sich. Es wirkte wie ein Stellvertreterkrieg. Denn eigentlich hätten doch in erster Linie die Polizei und die Täter im Fokus der Kritik stehen müssen. Henriette Reker meinte dazu: »Der Shitstorm ist nichts im Vergleich zu dem, was die Frauen und Mädchen in der Silvesternacht durchmachen mussten.«
Kaum jemand hatte die einleitende Aussage vor der kritisierten Formulierung in Gänze gehört oder gelesen. Hier ist sie: »Wir werden außerdem zur Prävention noch rechtzeitig vor den Karnevalstagen auch in verschiedenen Sprachen deutlich klarstellen, wo auch im Karneval die Grenzen im zwischenmenschlichen Umgang sind. Das richtet sich in erster Linie an Männer jedweder Herkunft. Außerdem geben wir natürlich Verhaltenshinweise an junge Frauen, wie sie die Erfahrungen der Polizei zur Prävention am besten umsetzen und feiern können. Es kann nicht sein, dass in Köln Frauen Spießruten laufen müssen. Das werden wir nicht tolerieren!«
Nur wenige machten sich die Mühe, den Kontext des Zitats zu ermitteln. Das verkürzte Zitat wurde zur Wahrheit selbst, und die darauffolgende Medienschlacht sprengte jede Etikette. Immer wieder wurde gerne darauf hingewiesen, dass, wenn Henriette Reker sich selbst an ihren Ratschlag der...