Frontstadtimpressionen
Ich bin ein Verräter. Lange genug habe ich gebraucht, mir dies einzugestehen. Während Jahre dauernder, schmerzhafter Selbstanalysen neigte ich immer wieder dazu, mein damaliges Verhalten mit haltlosen Ausflüchten rechtfertigen zu wollen. Schließlich gelang es mir, bei meinen rückblickenden Betrachtungen einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Kaum hatte ich mich dieser (übrigens einzig vertretbaren!) Erkenntnismethode bedient, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, wenn man das in meinem Fall so sagen darf: Ich bin ein Verräter. John F. Kennedy sagte einmal: „Ich bin ein Berliner“. Und was bin ich? Ein Berliner bin ich auch, aber das steht nicht im Vordergrund. In Anlehnung an Kennedys Satz, den ich mit viel größerer Berechtigung als der frühere US-Präsident von mir geben könnte, muss ich für eine prägnante Kurzbeschreibung meiner Person sagen: „Ich bin ein Verräter“.
Natürlich fällt es mir erst einmal schwer, diese nicht eben schmeichelhafte Feststellung in alle Welt hinauszuposaunen. Aber auch hier hilft es, einen objektiven Standpunkt einzunehmen. Aus dieser Position heraus ist es möglich, die eigene Befindlichkeit in den Hintergrund treten zu lassen und einer individualistisch geprägten bürgerlichen Zurückhaltung entgegenzuwirken. Und schließlich ist es ungeachtet irgendwelcher Hemmungen meinerseits notwendig, jenen Verrat vor aller Öffentlichkeit an den Pranger zu stellen. Notwendig, weil hierdurch am besten veranschaulicht werden kann, was das Falsche vom Richtigen unterscheidet. Mit der Einsicht in diese Notwendigkeit ist es mir nun aber ein Leichtes, den Hergang meines Verrats niederzuschreiben. Es war, auch wenn er in einem abschließenden Geschehen kulminierte, keine einzelne Handlung, sondern ein Prozess, der in merkwürdiger, aber zwingender Weise mit einer anderen Parallelentwicklung in Zusammenhang stand.
Zweifellos war mein Verhalten schändlich. Zu meiner Entlastung kann ich allerdings vortragen, dass mein verräterisches Treiben kein bewusst gesteuerter, von meinem Willen auch nur ansatzweise beeinflusster Vorgang war. Nein, die Veränderung meiner Sichtweise vollzog sich mit einem von mir nicht aufhaltbaren Automatismus.
Wenn ich von „Sichtweise“ spreche, bedarf es gleich hier einer für das weitere Verständnis dringend gebotenen Klarstellung: Ich bin blind. Stockblind. Ich bin so blind, dass ich die Sonne nicht einmal sehe, wenn ich mit aufgerissenen Augen direkt in sie hineinstarre. Außer dem Schmerz, den die Sonnenstrahlen und nach längerer Zeit sogar normales Tageslicht auf der Hornhaut verursachen, merke ich nichts. Tagsüber laufe ich draußen meistens mit einer Sonnenbrille herum. Das schützt meine Augen vor dem schmerzenden Lichteinfall, außerdem sieht es cool aus. Meine Sehnerven sind – rechts wie links – nicht in der Lage, irgendwelche Informationen aufzunehmen, geschweige denn an das Sehzentrum meines Gehirns weiterzuleiten. Visuellen Reizen bin ich infolgedessen nicht ausgesetzt und genieße damit den zunächst unbestreitbar erscheinenden Vorteil, mich auf die verbleibenden Sinneswahrnehmungen konzentrieren zu dürfen. Dieser Vorteil ist allerdings mit einer herben Einschränkung behaftet. Mit dem langsamen Verlust meines Sehvermögens ging nämlich nicht nur der Verlust von verzichtbaren visuellen Reizen einher. Vielmehr ging mir, und das ist das eigentlich Tragische, die richtige Sicht auf die Dinge verloren. Es ist müßig, sich Gedanken darüber zu machen, ob das bei allen erblindenden Menschen so sein muss. Bei mir jedenfalls besteht an der Konnexität von Sehkraftverlust und Sichtweisenverlust nicht der leiseste Zweifel.
Wäre ich nicht blind geworden und hätte sich nicht dadurch meine Sichtweise verändert, dann müsste ich mich heute nicht wie ein Verräter fühlen. Denn eigentlich war ich auf einem guten Weg. Dabei war der gute Weg nicht von Anfang an erkennbar und hätte auch in eine andere Richtung führen können, was er kurioserweise letzten Endes ja wohl auch tat. Um zu verstehen, wie alles gekommen ist, muss zuerst einmal der örtliche Ausgangspunkt ins Blickfeld (jawohl, Blickfeld!) gerückt werden, an dem mein Werdegang seinen Anfang nahm. Es war eine gerade auch wegen ihrer geopolitischen Bedeutung sehr spezielle Ortslage, in der sich mein Bild von der Welt entwickelte.
Also Berlin. Genauer gesagt: West-Berlin (nach vorübergehender Abweichung davon bevorzuge ich seit geraumer Zeit wieder die Schreibweise mit dem Bindestrich). Drei Sektoren unter amerikanischer, britischer und französischer Flagge, zwischen denen man sich frei bewegen konnte. Nicht so beim Betreten oder Verlassen des sowjetischen Sektors. Da wurde Ernst gemacht mit der Sektorengrenze und zwar auch schon bevor sie mit dem Mauerbau am 13. August 1961 geschlossen wurde. Bis dahin war der immerhin noch mögliche Weg von Ost nach West und umgekehrt bereits mit Ausweis- und Gepäckkontrollen verbunden, mal mehr, mal weniger intensiv; mindestens mürrisch, gern auch finster dreinschauende Volkspolizisten verglichen die Ausweisfotos mit den Gesichtern ihrer Besitzer, ließen gelegentlich die eine oder andere Tasche öffnen und reagierten allergisch auf westliche Druckerzeugnisse. Das Kontrollritual vollzog sich nicht nur, wenn man am Brandenburger Tor oder an einer der anderen Übergangsstellen die Sektorengrenze zu Fuß oder mit dem Auto passieren wollte. Auch in den S-Bahnzügen, die auf ihrer Fahrt zwischen Anhalter Bahnhof im amerikanischen und Humboldthain im französischen Sektor einige Kilometer durch Ost-Berlin rollen mussten, war die Volkspolizei nicht untätig. In jedem Zug wurde auf dem ersten Bahnhof im Ostsektor kontrolliert, erst danach konnte er weiterfahren, um vier Bahnhöfe später vor der Abfahrt in den Westteil der unvermeidlichen Ausreisekontrolle unterzogen zu werden. Für einen kleinen Jungen war das höchst unterhaltsam und deshalb freute ich mich immer, wenn es zum Besuch der Verwandtschaft oder aus sonst was für Gründen über die Sektorengrenze ging.
Aufregend waren die Grenzkontrollen schon deshalb, weil ich sehr früh begriffen hatte, dass von der Staatsmacht, die sie anordnete, nichts Gutes ausging. Schließlich war die kleine Steglitzer Wohnung, in der wir damals lebten, häufig genug Anlaufstelle für republikflüchtige DDR-Bürger aus dem Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern. Noch im Vorschulalter erfuhr ich, was es mit dem Notaufnahmelager Marienfelde auf sich hatte, lernte den Passierschein als das für das ostzonale Umland notwendige Reisedokument kennen, spielte mit meinem Bruder Grenze und erkannte, dass der zu Verabschiedungen und Begrüßungen häufig besuchte Flughafen Tempelhof das Tor zu einem irgendwie sichereren Gelände war. Das Territorium, das dazwischen lag und dem der Titel „Ostzone“ anhaftete, strahlte eine Bedrohlichkeit aus, die sich auch einem Vorschulkind bzw. einem Erstklässler unschwer vermittelte. Dass Menschen dort oft aus nichtigem Anlass eingesperrt und schikanösen Haftbedingungen ausgesetzt wurden, war für mich als fünf- oder sechsjährigen zwar noch etwas abstrakt, reichte für die diffuse Vorstellung von etwas Ungutem aber aus. Handgreiflicher war da schon das Aussehen derer, die aus dem Osten kamen oder die man im Osten sah. Die Klamotten von der Farbgebung und von den Schnitten immer ein Stück langweiliger und für ihre Träger unvorteilhafter, als man es im Westen gewohnt war. Die Verwandten und Bekannten aus dem Osten sahen einfach anders aus. Deshalb schickte man ihnen auch Pakete mit abgetragenen Westsachen, über die sie sich je nach Bedarf freuen oder die sie wegschmeißen konnten. Ich will nicht wissen, wie viele Pakete meine Mutter gerade in den frühen Jahren in die Ostzone schickte, mit Kleidung, Lebensmitteln, Medikamenten, mit allem, was die Ostler vielleicht begehrten, jedenfalls aber, wenn überhaupt, nur unter Schwierigkeiten bekamen. Von der Ostzone (die Abkürzung „DDR“ wurde im Westen erst später allgemein gebräuchlich) war nichts zu halten, das war klar. Es passte zu diesem Staat, dass er im August 1961 eine Mauer durch Berlin zog, die übrige Staatsgrenze mit Stacheldraht und Tretminen verbarrikadierte und die Nationale Volksarmee damit beauftragte, seine Bürger am Verlassen des Staatsgebiets gewaltsam zu hindern.
So ganz überraschend kam der Mauerbau nicht. Das Gerücht, Ulbricht wolle die Grenze dichtmachen, war schon seit einiger Zeit in der Welt. Immer mehr Menschen setzten sich aus dem Osten nach West-Berlin ab und es war zu erwarten, dass die SED-Führung dem Exodus eines beachtlichen Teils der Einwohnerschaft nicht tatenlos zusehen würde. Am 13. August war es dann so weit. In atemberaubendem Tempo wurde der „antifaschistische Schutzwall“ hochgezogen, Wachtürme wurden aufgestellt, Beleuchtungsanlagen installiert und die meisten Grenzübergänge dichtgemacht. Mir ist der 13. August 1961 in denkwürdiger Erinnerung geblieben, weil ich mich an diesem Tag – für längere Zeit zum letzten Mal – in Ost-Berlin aufhielt. Es war ein Sonntag und die Familie zum Kaffee bei Freunden in Weißensee eingeladen. Von der Straße des 17. Juni kommend, führten die Fahrspuren durchs Brandenburger Tor, in dessen Mitte die Ausweise und Wagenpapiere von der Volkspolizei kontrolliert wurden. Vor dem Tor hatte sich auf der Westseite ein langer Stau gebildet, weil viele die Chance nutzen wollten, vor Schließung der Grenze noch einmal in den Ostteil zu kommen. Die Grenzer wirkten noch angespannter als sonst. Das Außergewöhnliche der Situation war ihnen deutlich anzumerken. In Weißensee drehten sich die Gespräche der Erwachsenen nur noch um das Eine und bei der Verabschiedung war allen klar, dass man sich wahrscheinlich für längere Zeit nicht wiedersehen würde.
Nach dem 13. August verging kein...