Kopfbahnhof
Bitte einsteigen und mitdenken
Immer schon war ich anfällig dafür, Dinge auszuprobieren, die mir nicht guttun. Auch gehe ich gerne mal volles Risiko, ohne darüber nachzudenken, was das mit mir machen könnte. Und so ist die Entscheidung für dieses Buch an einem Tag im April 2017 in Boston, Massachusetts, gefallen. Nach 36 Stunden ohne Schlaf und Essen setzte eine prägende Erkenntnis ein: Das Gehirn ist ein sehr feines System, absolut faszinierend, gleichzeitig aber auch noch weitgehend unverstanden, unberechenbar. Wir sollten vorsichtig mit ihm umgehen, respektvoll, bevor es zu spät ist.
Ich hatte in Boston gerade meine erste Erfahrung im Brainhacking gemacht, hatte ein Gerät ausprobiert, mit dem man sein Gehirn ankurbeln kann, um aktiver oder entspannter zu werden. Mit einer App steuert man niedrigschwelligen Strom über zwei Elektroden am Kopf ins Gehirn. Der Strom soll das vegetative Nervensystem beeinflussen, um für mehr Energie oder Entspannung zu sorgen. Eine interessante Erfahrung. Der Test hat bei mir gewirkt. Ich war sehr energetisch. So energetisch, dass ich mich mehrmals übergeben musste, an Essen oder Schlafen die nächsten 36 Stunden nicht zu denken war. Diese Optimierung des Gehirns hat sich alles andere als optimal angefühlt.
Hinter dieser misslungenen Erkundungsübung steckt die Vorstellung, es könne gelingen, sich über die Ankurbelung der geistigen Kräfte noch mehr Schwung zu verleihen, erfolgreicher, begehrter und vielleicht auch glücklicher zu werden. Sie passt perfekt in unsere Zeit. Denn dies ist die Zeit der Selbstverbesserungswilligen. Fast schon prophetisch mutet in diesem Zusammenhang ein Satz an, der dem US-Managementguru Peter F. Drucker (1909–2005) zugeschrieben wird: »Was du nicht messen kannst, kannst du nicht managen.« Drucker dachte dabei sicherlich an das Management von Unternehmen, das sich an vergleichbaren Kennzahlen orientieren sollte. Heute ist diese einfache Formel zu einem Leitsatz unseres gesamten Lebens geworden: Selbststeuerung zugunsten von Selbstverbesserung, und zwar auf allen Ebenen – bis hinauf ins Gehirn.
Fast alles, was wir tun, kann vermessen und also auch verglichen werden. Mit Fitnessarmbändern, Uhren und anderen technischen Geräten ist es möglich, die eigene Leistungsfähigkeit zu erfassen, Schritte, Kalorienverbrauch, Stresslevel zu messen. Zählen und messen alleine reicht aber nicht. Es muss doch auch möglich sein, besser zu werden. Fitnessstudios versprechen, knappe zwanzig Minuten elektronischer Muskelstimulation einmal pro Woche reichten aus, um fit zu werden. Mehr Effizienz und Effektivität sorgen für ein glücklicheres Leben, für mehr Erfolg, Anerkennung, und gesünder ist das alles auch noch. Das Netzwerk »The Quantified Self« (quantifiedself.com) hat sich selbst das Credo »self knowledge through numbers« verpasst. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die deutsche Übersetzung doppeldeutig anmutet: »the quantified self« – das vermessene Selbst.
Die Selbstvermesser haben sich erst einmal den Körper vorgeknöpft: mehr Bewegung, mehr Sport, kontrollierter Schlaf, gesünderes Essen, Smoothies, Detox, wohin das Auge reicht. Aber damit nicht genug. Inzwischen sind Selbstvermessung und Selbstverbesserung uns wortwörtlich zu Kopfe gestiegen. Auch das Denken muss besser werden. Was einmal mit Dr. Kawashimas Gehirnjogging begann, ist längst zu einem Wettrennen um die Leistungsfähigkeit des Gehirns geworden, dem kein Hilfsmittel fremd ist. Die Annahme, man könnte das eigene Denken mit technischen Mitteln schneller, präziser, besser machen – nichts anderes bedeutet Brainhacking –, übt heute einen ungeheuren Reiz auf immer mehr Menschen aus.
Es gab noch einen Nachklapp zu der Geschichte in Boston. Niemand wusste von meinem Selbstversuch. Tage später, alles war für mein Empfinden wieder normal, reiste ich zurück nach Berlin. Als ich nach Hause kam, machte meine Frau mir die Tür auf und sah mich erschrocken an: »Wie siehst du denn aus?« Was mir selbst in meiner offenbar verzerrten Wahrnehmung noch gar nicht aufgefallen war, hatte Anne sofort gesehen. Mein Gesicht sah anders aus. An der Stelle, an der die vordere Elektrode gesessen hatte, wirkte es wie eingedrückt. So als hätte jemand meinen Kopf mal kurz in einen Schraubstock gelegt und ein bisschen zugedreht. »Da kann man ja Angst kriegen«, sagte meine Frau. Das kann nicht die Logik der Selbstverbesserung sein. Man kann plötzlich ganz super denken, aber bleibt leider allein.
Nach ein paar weiteren Tagen war alles weg, ich sah wieder normal aus. Aber auf den Fotos, die ich an den Tagen nach dem Experiment gemacht habe, sehe ich, was da war: Ich bin mir fremd auf diesen Bildern. Das ist eine treffende Metapher für dieses Buch. Wenn wir sorglos an unserem Gehirn herumschrauben, glauben, wir könnten unsere Denkfähigkeit, unsere Stimmungslagen und Gefühle beliebig beeinflussen und verändern, dann ist das eine gefährliche, auch überhebliche Annahme. Statt besser, schneller und effizienter zu denken, treiben wir uns vielleicht einfach in den Wahnsinn. Aus dem Versuch der Selbstoptimierung wird dann Selbstbeschädigung. Denn im Gehirn steckt der Kern unserer Persönlichkeit. Das Gehirn zu manipulieren heißt, die Persönlichkeit zu manipulieren. Das Gesicht der Menschheit wird sich verändern, wenn wir beginnen, unser Gehirn als Zone stetiger Selbstverbesserung und als ökonomische Ressource zu begreifen. Wir werden einander fremd werden. Uns selbst auch.
Doch hinter dem Ehrgeiz, das Denken zu optimieren, steckt bereits eine ganze Industrie. Schließlich steigt der Druck auf jeden Einzelnen, immer und überall voll einsatz- und leistungsbereit zu sein. Medikamente, wie Ritalin oder Modafinil, werden eingesetzt, um besondere Leistungen zu erbringen, zum Beispiel in Prüfungs- oder beruflichen Belastungsphasen, man spricht dann von pharmakologischem Neuro-Enhancement. Neurostimulationen durch am Kopf befestigte Elektroden sollen – wie in meinem eigenen Brainhacking-Experiment – das Gehirn und den dazugehörigen Menschen innerhalb von zehn Minuten in die situativ gerade notwendige Aktivitäts- oder Ruhephase versetzen. Überhaupt ginge alles sehr viel schneller, wenn man nicht mehr tippen, wischen oder klicken müsste, um einen Computer oder ein Smartphone zu betätigen. Am besten wäre es doch, ich könnte meine Nachrichten an andere gleich zu ihnen rüberdenken. Auch dieses Buch wäre viel schneller in den Computer gedacht als getippt.
Wenn die optimale Leistungsfähigkeit und das optimale Ergebnis Maßstab für das Denken werden, bekommen wir ein Problem. Denn so geht Denken nicht. Man setze sich auf einen Stuhl und nehme sich fest vor, jetzt eine zündende Idee für einen Text, ein Start-up, ein neues Produkt, ein Musikstück zu haben. Es wird dann viel geschehen. Der Druck steigt, die Anspannung auch, der Frust kommt, nur eines kommt ganz sicher nicht: die gute Idee.
Das Gehirn als Produktivkraft zu betrachten, die sich in ihrer Leistung optimieren lässt, verändert nicht nur das Denken über das Gehirn. Es verändert auch das Menschenbild. Nur die Schnelldenker kommen weiter. Die anderen müssen schauen, wie sie sich und ihr Gehirn selbst optimieren können. Und wer dafür kein Geld hat, darf nicht mehr mitmachen, wird Teil des Hirnprekariats. Das wäre dann eine neue Zeit, in der die Möglichkeiten im Leben gänzlich von der eigenen kognitiven Leistungsfähigkeit abhängen – die Zeit des Neurokapitalismus. Der Anschluss an die Hirn-Daten-Cloud für 299 Euro im Monat ist zu teuer? Da bleibt leider nur Hartz-IV für die allzu ergrauten Zellen.
Es gibt die moderne Legende, wir nutzten nur zehn Prozent unserer Gehirnleistung. Sie ist schlicht falsch. Aber das ändert nichts daran, dass sie sich im Bewusstsein vieler Menschen hält wie eine Klette in Schurwolle. Passt sie doch auch allzu perfekt in die Logik der neuen Effizienz des Denkens. 90 Prozent ungenutzte Ressourcen? Da muss ja ranzukommen sein, neuronale Goldgräberstimmung. Aus diesem Unsinn hat Luc Besson, einer der großartigen Regisseure Hollywoods, sogar kürzlich noch einen ganzen Film gemacht. Der ist so schlecht, dass man den Regisseur eigentlich wegen Beleidigung der geistigen Kräfte verklagen müsste. Und doch landete er gleich nach Filmstart auf Platz eins der deutschen Kinocharts. »Lucy«, das ist die Geschichte einer Frau, die durch eine Überdosis Drogen übermächtige Kräfte verliehen bekommt. Ihr Gehirn dreht auf, und Lucy kann alle Energien um sie herum für sich nutzen, kann über elektromagnetische Felder SMS in die Welt schicken. Sie sieht die Vergangenheit und die Zukunft und blickt in fremde Galaxien. Und als ihr Gehirn tatsächlich 100 Prozent Leistung erreicht hat, wird sie zu purer Energie, zu einem allgegenwärtigen Bewusstsein, das entkoppelt von ihrem Körper existieren kann.
So weit muss man vielleicht nicht gleich gehen. Aber die Vorstellung, wir könnten mithilfe von Medikamenten, Stromstößen oder dauerhaften Implantaten im Kopf mehr aus unserem Gehirn herausholen, ist ein Dauerbrenner. Der amerikanische Psychologe und Philosoph William James schrieb vor mehr als hundert Jahren: »Wir nutzen nur einen kleinen Teil unserer mentalen und physischen Ressourcen.«[1] Seitdem denkt die Menschheit immer wieder darüber nach, ob und wie es möglich sein kann, die Leistung des Gehirns zu verbessern, um die Schwächen und Defizite auszubügeln, die jeder gelegentlich bei sich selbst erkennen kann. Aber kann das funktionieren?
Wenn ich mir morgens einen Kaffee mache, geht das beinahe automatisch. Ein »No-Brainer«, eine Handlung, die fast keinen...