I. »Die Tränen kommen früher als sonst«
März–Juni 2009
20. März 2009, Köln
Vormittags im Verlag Kiepenheuer & Witsch. Gespräche über die nächsten Pläne: ein Tagebuch; heute beginnend über exakt ein Jahr hin, Erscheinungstermin: Herbst 2010; danach eine Auswahl meiner Reden, Vorträge, Lesungen der letzten zehn Jahre, Herbst 2011; schließlich das Thema, das immer offener zum Problem Nr. 1 der deutschen Innenpolitik wird, »Migration und Integration – Allah auf leisen Sohlen«, Herbst 2013.
Meine Großmutter mütterlicherseits hat, mir noch im Ohr, einmal gesagt: »Der Junge hat was Tollkühnes an sich.« Wie wahr! Würde die Verwirklichung dieser Pläne doch nichts anderes bedeuten, als mich noch als Neunzigjährigen über die Frankfurter Buchmesse humpeln zu sehen …
Der Verlag ist übrigens umgezogen – vom Stadtteil Marienburg in die City. Dagegen ist nichts einzuwenden – die neuen Räume sind licht, man kann ausschreiten und stolpert nicht mehr in engen Zimmern und schmalen Fluren über aufgetürmte Büchergebirge, ganz abgesehen vom Anblick auf den geradezu imperialen Hauptbahnhof. Dennoch ist der Ortswechsel für mich nur schwer zu verwinden. Brauchte ich doch über Jahrzehnte hin nur kurze Zeit, um vom Wohnpark Bayenthal durch das Nobelviertel und einen gepflegten Park zum denkmalgeschützten Haus Rondorfer Straße 5 zu gelangen: zehn Minuten zu Fuß, fünf per Rad, dieselbe Postleitzahl: 50968 Köln.
Damit ist es nun vorbei.
Wie mit den guten Vorsätzen – kein neues Buch mehr, zwanzig genügen. Aber die Welt dreht sich weiter, und ich kann nicht leben, ohne zu schreiben. Also das laufende Jahr unerschrocken unter das Mikroskop meiner späten Tage gelegt.
Heute bin ich übrigens sechsundachtzig geworden.
21. März 2009, Köln
Das erste, was ich nach dem Erwachen tue: Ich nehme Knuffi-Kirschauge in die Arme, drücke ihm einen Kuß auf die schwarze Nase und bin sprachlos, so inniglich schaut er mich an. Dabei sind seine Augen aus Glas, handelt es sich doch um einen Stoffwelpen, den mir ein alter Freund aus Bremen rechtzeitig zum gestrigen Tag geschenkt hat. Und das in Kenntnis meines lebenslangen, aber bis dato unerfüllt gebliebenen Wunsches nach einem Labrador mit hellem Fell. Rastlosigkeit und Arbeitswut ließen ihn schlicht nicht zu. Das habe ich einsehen müssen, deshalb dieser »Ersatz«. Aber was für einer! Wenn ich, wie jetzt, Knuffi von ganz nah tief in die Augen schaue, nehmen sie einen Ausdruck an, der von dem eines echten Hundegefährten kaum noch zu unterscheiden ist.
Da ist also gerade ein Ritual geboren worden.
28. März 2009, Köln
Endlich ist ein neuer Fahrstuhl installiert.
In den über dreißig Jahren Berndorffstraße 4, Köln-Bayenthal, bin ich mehrere Male zwischen Erdgeschoß und sechstem Stock steckengeblieben, und das bis zu einer halben Stunde – für den Klaustrophoben die Apokalypse schlechthin.
Ihre Ursache: September 1939, Geheime Staatspolizei, Leitstelle Hamburg. Der hölzerne Käfig, der eingezogene Kopf, die Halsstarre, das verbogene Rückgrat, die schmerzenden Knie – ich war sechzehn. Seither fürchte ich mich, wenn Türen hinter mir geschlossen werden, besonders in Fahrstühlen. In manchen Gebäuden bin ich die Treppen bis zu zwanzig Etagen und mehr hochgeklettert. Auch hier bin ich oft genug die sechsundneunzig Stufen per pedes hinaufgestiegen, aber das ist im Lauf der Jahre immer anstrengender geworden, das geben die Muskeln nicht mehr her. Und wegziehen will ich nicht.
So vertraue ich mich denn der neuen Technik an, lasse mich neuerdings in dem blitzblanken Käfig rauf- wie runterkarren und versuche mir einzureden, ich hätte etwas von der Furcht, eingeschlossen zu sein, verloren.
Und weiß doch, daß das nicht stimmt, daß es ein Selbstbetrug ist, weil nichts unvergessen ist, was von damals kommt.
5. April 2009, im Zug
Auf der Fahrt von Berlin zurück nach Köln.
In Bielefeld steigt eine Mutter mit Tochter und Sohn zu – das Mädchen zwölf, dreizehn, der Junge acht oder neun – Migranten. Sie setzen sich hin, still, schüchtern fast. Sofort ist in mir das alte Grundgefühl da, stärker als alles andere: sie zu beschützen – Allah hin, Mohammed her.
Die Kinder sprechen mit der Mutter türkisch, untereinander aber deutsch. Der Junge zeigt auf mich, lächelt, raunt der Schwester etwas zu. Beide sind langbewimpert und lösen einen nachhaltigen Zärtlichkeitsschub in mir aus. Ich kann es mir nicht verkneifen und streichle dem Jungen über die Wange, mit der Außenseite meiner rechten Hand, nicht der Innenseite – das wäre zu intim. Das Mädchen würde ich natürlich nicht mal mit der Fingerspitze anrühren. Ich habe ihnen inzwischen auf gut Glück die Namen Ayşe und Bassam gegeben.
Als sie Anstalten machen, in Hamm auszusteigen, schenke ich den Kindern ein paar Ostereier, vorsichtig, weil ich nicht weiß, wie sie reagieren werden. Sie bedanken sich artig, geben mir die Hand, auch das Mädchen, und lächeln, wie die Mutter. Ich sehe ihnen nach und habe dabei nur einen, einen einzigen Gedanken: Es soll ihnen gutgehen, es soll ihnen, verdammt noch mal, gutgehen!
Dieser Wunsch liegt allem, aber auch restlos allem zugrunde, was ich über Migration und Integration in der Öffentlichkeit gesagt und geschrieben habe oder je sagen und schreiben werde. Es gibt darin nichts, was gegen die Interessen von Ayşe und Bassam gerichtet wäre.
Zu Hause angekommen, bewegen das Erlebnis und seine Assoziationen mich dazu, den PC anzuwerfen und zu schreiben, eine Art »Charta«:
Es bleibt die Ehre der Nation, jeden Eingewanderten, Fremden oder Ausländer gegen die Pest des Rassismus und seine Sympathisanten zu schützen. Gleichzeitig aber ist es bürgerliche Pflicht, sich gegen Muslime zu wehren, die jenseits von Lippenbekenntnissen den freiheitlichen Errungenschaften des demokratischen Verfassungsstaates feindlich gegenüberstehen.
Deshalb Schluß mit der deutschen Feigheit, Kritik am inflationären Bau von Großmoscheen, an der Politik fundamentalistischer Verbandsfunktionäre oder gar am Islam selbst zu üben! Schluß vor allem mit dem niederträchtigsten aller niederträchtigen Totschlagargumente der Political Correctness: »Wer sich kritisch äußert, macht die Sache der Nazis von heute.« Umgekehrt wird ein Schuh draus: Haben doch gerade die deutschen Multikulti-Illusionisten, Dauerumarmer, Gutmenschen vom Dienst, Sozialromantiker, xenophilen Einäugigen und Beschwichtigungsapostel jene unerträglichen Zustände in der Migrantenszene geschaffen, auf die sich die Rassisten berufen.
Es sind diese professionellen Kreidefresser, die in die Misere der gescheiterten Integration gesteuert haben, jene total verfehlte Immigrationspolitik, die aus Furcht, ausländerfeindlich geschimpft zu werden, die berechtigten Eigennutzinteressen des Aufnahmelandes sträflich außer acht ließ.
Zur Lösung der Probleme gehört eine klare, furchtlose Sprache.
Hier stoßen zwei Kulturkreise von höchst unterschiedlichem Entwicklungsstand zusammen – der judäo-christliche, der in den letzten fünfhundert Jahren mit Renaissance, Aufklärung, bürgerlichen Revolutionen und ihrer Fortschreibung einen gewaltigen Sprung nach vorn getan hat, während der andere, der islamische Orbit nach kulturellen Höchstleistungen, die Europa nur beschämen konnten, seither auf verstörende Weise stagniert.
Es liegt im innersten Interesse der türkisch dominierten muslimischen Minderheit in Deutschland, sich von allen integrationsfeindlichen Kräften zu distanzieren und sie zu überwinden, Voraussetzung für eine Eingliederung, die diesen Namen verdient hätte.
Migration, Integration – sie sind längst zur Schicksalsfrage der deutschen Geschichte des 21. Jahrhunderts geworden.
Mein Standort in dieser Auseinandersetzung noch einmal: Es soll Ayşe, es soll Bassam gutgehen! Es soll ihnen, verdammt noch mal, gutgehen!
Und wer dagegensteht, ob von deutscher oder muslimischer Seite, der kriegt es mit mir zu tun.
15. April 2009, Köln
Im Fernsehen läuft die Verfilmung von Marcel Reich-Ranickis Autobiographie »Mein Leben«.
Ich stelle das Telefon ab, da darf nichts stören, nichts unterbrochen werden.
Und schrecke zusammen, als deutsche Soldaten in Warschau die Juden aus den Häusern holen – dieses Brüllen und Schreien, Laute, die einem das Trommelfell sprengen wollen. Bei ähnlichen Szenen in anderen Filmen habe ich oft gedacht: »Werden Zuschauer von heute, neue Generationen mit größerer Distanz zum Tatgeschehen, nicht sagen: »Ist das nicht übertrieben? Haben sich deutsche Soldaten wirklich so benommen?«
»Mein Leben« läßt keinen Zweifel an der Antwort.
Ein glaubwürdiger Film, weil er sich an die Glaubwürdigkeit des Marcel Reich-Ranicki hält.
Persönliche Gründe, ihm Kränze zu flechten, habe ich nicht. Er hat sich nie um meine Bücher gekümmert, ausgenommen ein einziges, gleich nach dem Erscheinen im Frühjahr 1982, und das höchst negativ – »Die Bertinis«. Das Buch hat nach seinem kometenhaften Aufstieg in eine internationale Longseller-Laufbahn bis heute eigentlich nur eine wirklich schlechte Kritik erfahren – eben die in der F.A.Z. Zwar hat sie ein anderer geschrieben, aber das unter Reich-Ranickis redaktionellem Zepter. Weil Heinrich Böll damals gerade im »Spiegel« eine...