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E-Book

Mein litauischer Führerschein

Ausflüge zum Ende der Europäischen Union

AutorFelix Ackermann
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl260 Seiten
ISBN9783518751176
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

Was hält Europa heute noch zusammen? Was haben die Litauer in einem Vierteljahrhundert aus ihrer neu gewonnenen Freiheit gemacht? Und wie funktioniert die Europäische Union an ihren östlichen Außengrenzen? Statt diese Fragen theoretisch zu erörtern, verlässt Felix Ackermann 2011 mit seiner Familie Berlin, um Gastwissenschaftler an einer weißrussischen Exiluniversität in der litauischen Hauptstadt Vilnius zu werden. Seine Kinder lernen Litauisch und werden zu kleinen Patrioten erzogen. Seine Frau bringt eine Tochter zur Welt, die sogleich einen litauischen Personencode erhält. Und Felix Ackermann macht endlich seinen Führerschein in einer Kleinstadt namens Utena.
In Ton, Witz, Kurzweiligkeit an Steffen Möllers Viva Polonia erinnernd, erzählt der Osteuropahistoriker und Journalist Felix Ackermann vom Leben in einem Land, in dem postsowjetische Verhaltensweisen, nationale Selbstfindung und europäische Träume koexistieren. Und das durch die negative Haltung gegenüber den Flüchtlingen aus dem Nahen Osten einerseits, der Angst vor einem aggressiv erstarkenden Russland andererseits ganz neu herausgefordert wird.



<p>Felix Ackermann, geboren 1978, wuchs in Berlin Mitte auf, promovierte 2008 in Frankfurt/Oder bei Karl Schl&ouml;gel &uuml;ber die heute belarussische Stadt Grodno und lehrte von 2011 bis 2016 an der Europ&auml;ischen Humanistischen Universit&auml;t in Wilna. Zurzeit erforscht er am Deutschen Historischen Institut Warschau die Geschichte des Gef&auml;ngniswesens im geteilten Polen-Litauen.</p>

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Leseprobe

2
Wilna – Nidden – Klaipėda


 

 

Das Gemüseorchester der Europäischen Humanistischen Universität bei der Eröffnung des Kunstprojekts Mythos-Grill am 30. Juni 2013. Am Tag darauf übernimmt Litauen die EU-Ratspräsidentschaft. Nachts wird das Graffiti von der Stadtverwaltung übermalt.

Von Marx zu Heidegger


In Wilna werden die Tage bereits im frühen Herbst schnell kürzer. Die Dunkelheit ragt wie ein langer Schatten über die folgenden Monate und scheint sich auch auf die Gemüter vieler Einwohner zu legen, die auf dem Weg von der Arbeit mit versteinerter Miene im Trolleybus sitzen. Das dicht bebaute mittelalterliche Zentrum der litauischen Hauptstadt sieht völlig anders aus als die Architektur im belarussischen Minsk, das mit breiten, stets angestrahlten Prospekten für den Stalinismus wirbt. Doch die Sprachlosigkeit der Menschen im öffentlichen Verkehr ähnelt sich in diesen Monaten hier wie dort. Die Dunkelheit endet erst, wenn im Mai plötzlich der Frühling ausbricht und alle ihre Wohnungen verlassen, um ein neues Leben zu beginnen.

Mein erstes längeres Treffen mit Anatoli Michailow fällt in diese Phase des Wartens auf Licht. Ich laufe von der Trolleybus-Haltestelle durch den Gedimino prospektas, über den Kathedralplatz zur Pilies gatvė und bereite mich innerlich auf das Gespräch mit dem belarussischen Philosophen vor. Während ich durch die Gassen der Altstadt renne, um nicht zu spät zu kommen, wird Michailow in einem Dienstwagen vorgefahren. Der hochgewachsene Mann mit weißem Haar und Brille begrüßt mich fast überschwänglich mit einem kräftigen Händedruck am Eingang des Restaurants »Saint-Germain«. Nachdem wir ein Fischgericht ausgewählt haben, diskutieren wir über den politischen Kontext, in dem die Europäische Humanistische Universität in Wilna heute funktionieren muss. Ich stimme mit dem Rektor meiner neuen Hochschule überein, dass Russland im Westen unterschätzt wird – nicht nur wegen der militärischen Streitmacht, die es noch immer darstellt, sondern wegen der strategisch und taktisch gezielt durchdachten Aktivitäten im »nahen Ausland«, wie die ehemaligen Sowjetrepubliken, die seit 1991 souveräne Staaten sind, aus Moskauer Sicht immer noch heißen. Wir sind uns darin einig, dass die Politik der Östlichen Partnerschaft der Europäischen Union keine ausreichende Antwort auf diese Herausforderung darstellt. Sie lädt zwar zur Zusammenarbeit ein, aber sie bietet den ehemals sowjetischen Gesellschaften, die 2004 nicht Mitglied der Europäischen Union geworden sind, keine klare Perspektive. Aufgrund anderer Prioritäten und der inneren Krise der EU kommt die Östliche Partnerschaft auch in Belarus nur zögernd voran. Alexander Lukaschenko spielt die Vertreter des Westens regelmäßig gegeneinander aus. Je nach Situation sucht er den realen Schulterschluss mit Moskau oder eine symbolische Hinwendung in Richtung EU, um möglichst viel für sein eigenes Regime herauszuholen.

Anatoli Michailow ist vor allem von Deutschland enttäuscht, dem Land, das so große Philosophen wie Martin Heidegger hervorgebracht habe. Er deutet an, die Verantwortlichen in Berlin hätten in den neunziger Jahren rein gar nichts verstanden. Michailow hat 1967 in Jena über Martin Heideggers Begriff der Kehre promoviert und verfügt dank eines mehrjährigen Forschungsaufenthalts in der DDR über genügend Sprachgefühl, um im persönlichen Gespräch auf Deutsch nur Anspielungen zu machen. Sie klingen so, als ginge der beklagenswerte Zustand der belarussischen Demokratie eigentlich auf die Unentschlossenheit und die Inkompetenz deutscher Stellen im Umgang mit den Regimen in Minsk und Moskau zurück. Doch der Philosoph spricht seine Vorwürfe nie direkt aus.

Während wir französischen Weißwein trinken, klagt Michailow über den Zustand Europas. Er zitiert Hannah Arendt: »Der menschliche Verstand hat aus mysteriösen Gründen aufgehört, richtig zu funktionieren.« Mit den Worten der berühmten Heidegger-Schülerin erklärt er, der moderne Mensch lebe in einer Welt, in der seine Sinne und seine Denktraditionen nicht mehr in der Lage sind, die richtigen, bedeutsamen Fragen zu stellen, ganz zu schweigen von ihrer Beantwortung in der ihnen eigenen Komplexität. Michailow zitiert Heidegger, um auf die Gefahr hinzuweisen, »dass eine Denkweise dominiert, die durch abstrakte Prinzipien von der Lebenswelt des Einzelnen entfremdet« ist.

Diese Diagnose bildete den Ausgangspunkt für die Gründung einer neuen Universität. Der Entschluss, 1992 in Minsk die EHU auf den Weg zu bringen, war das Ergebnis einer geistigen Suchbewegung, die Jahrzehnte zurückreicht. Michailow hatte sich schon im Studium den Philosophen des Deutschen Idealismus zugewandt. Er und seine Kommilitonen waren in der Hegel-Lektüre geschult, kannten also die Herleitung der offiziellen Interpretation des Marxismus-Leninismus, der in der Sowjetunion als Grundlage der philosophischen Ausbildung diente. Michailows Verdienst war es, dass er über diese Lektüre hinaus sehr früh gemeinsam mit russischen und ukrainischen Philosophen die Schriften von Heidegger und Husserl in einem sowjetischen Kontext entdeckte. Das phänomenologische Versprechen der Besinnung auf das Sein hatte im Einparteienstaat eine besondere Relevanz. Es ging um die Suche nach Wahrheit in einer Umgebung, in der die Sprache zur Schablone verkommen war: Wahrhaftigkeit gab es nur jenseits der offiziellen Sprache, denn unter der Herrschaft der Bolschewiki hatte sich eine Gesellschaft entwickelt, in der die Wahrheit immer nur zwischen den Zeilen, in der Küche oder im Gedicht ausgesprochen werden konnte. In der Phänomenologie sahen die jungen Philosophen einen Ausweg aus dem Sprachgefängnis der Partei.

Gegen den Willen seiner Eltern verließ Michailow Minsk 1980 erneut in Richtung Westen. Sieben Jahre lang vertrat er Belarus an einem geisteswissenschaftlichen Forschungsinstitut der Vereinten Nationen in New York und Wien. Die Belarussische und die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik hatten neben der UdSSR schon seit der Gründung der Vereinten Nationen einen eigenen Sitz in der UN-Vollversammlung. Von Michailows Kontakten und Erfahrungen aus der New Yorker und der Wiener Zeit profitiert die Europäische Humanistische Universität bis heute. Ihr späterer Rektor hatte schon vor dem Ende der Sowjetunion etwas Wichtiges verstanden: Der Westen ist überlegen, aber schwach. Mit seinem hervorragenden Deutsch und Englisch sowie einer langen Reihe von philosophischen Zitaten überzeugte Michailow seither Diplomaten und Politiker aus ganz Europa und den USA, dass die EHU für die Zukunft der belarussischen Demokratie steht.

Das geschah zu einer Zeit, als auch in Litauen die politische Neugründung mit der Übersetzung philosophischer Texte begann. George Soros hatte in Wilna schon 1990 die Stiftung Offenes Litauen ins Leben gerufen. Sie ließ Dutzende geisteswissenschaftliche Bücher aus dem Englischen, Französischen und Deutschen übersetzen, um einen neuen Kanon zu etablieren, junge Verlage zu unterstützen und ein anderes Denken zu stimulieren. In Minsk und Wilna teilte man die Idee, dass sich das sowjetische System nur überwinden ließe, wenn der Einzelne sich von dessen geistigen Fesseln, den Schranken im Kopf befreit. Am Anfang stand das Wort. In den ersten Jahren der Euphorie, als die Übersetzung als Technik der Transformation entdeckte wurde, war es keineswegs ausgemacht, dass Litauen ein Jahrzehnt später der EU beitreten und Belarus zur »letzten Diktatur Europas« werden würde.

Anatoli Michailow trat 1992 in Minsk mit der Vision an, das Selbstverständnis der belarussischen Gesellschaft verändern zu können, indem eine ganze Generation von Studierenden sich auf die Texte von Martin Heidegger, Hannah Arendt und Hegel stürzte. Er gewann zwei einflussreiche Mitstreiter für die Gründung der EHU: den Physiker und damaligen Parlamentspräsidenten Stanislau Schuschkewitsch sowie Filaret, den Metropoliten der russisch-orthodoxen Kirche in Minsk und Sluzk. Noch war die EHU ohne Lehrgebäude. Schuschkewitsch schlug dem Metropoliten vor, im Gegenzug zur Gründung der ersten theologischen Fakultät in Belarus Räume des Konsistoriums zur Verfügung zu stellen. Dessen Gebäude war erst kürzlich vom Staat an die orthodoxe Kirche zurückgegeben worden. Gemeinsam mit einer Vielzahl von Wissenschaftlern errichteten Michailow, Filaret und Schuschkewitsch eine blühende Universität mit acht Fakultäten. Es gab an der Minsker EHU eine französischsprachige Politologie und einen aktiven Kreis von jungen, deutschsprechenden Philosophen.

Der 1939 geborene Michailow gesteht im Gespräch ganz offen, dass die Hoffnungen der frühen neunziger Jahre sich nicht erfüllten. Schon 1994 wurde Alexander Lukaschenko als Präsident der Republik Belarus gewählt. Er ist es bis heute. Lukaschenko gewann die Wahlen mit Korruptionsvorwürfen – unter anderem gegen Stanislau Schuschkewitsch, der umgehend seinen politischen Einfluss verlor. Die deutsche Sprache, für die Michailow eine besondere Rolle bei der Transformation von Belarus vorgesehen hatte, verlor ihre Bedeutung ebenso wie die Philosophie als Leitwissenschaft, von der zentrale Impulse für andere Disziplinen ausgehen sollten. Inzwischen ist der Philosoph mit seinem Glauben an die heilende Wirkung der Texte Heideggers fast allein. Er gehört zu den wenigen in Europa, die noch an die Möglichkeit glauben, mit Hilfe von Wahrnehmung,...

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