Der Fall Millerand bildet die erste interne Frage der sozialistischen Bewegung eines Landes, die allgemeines internationales Interesse beansprucht und zum Gegenstand der Beratungen eines Internationalen Sozialistischen Kongresses wurde. Leider hat der Pariser Kongreß seine Aufgabe mehr als Theoretiker denn als praktischer Politiker aufgefaßt und der allgemeinen theoretischen Beantwortung der neunten Frage seiner Tagesordnung nicht eine ausdrückliche Stellungnahme zum Falle Millerand hinzugefügt. Jede Resolution allgemeinen Charakters gibt, ob sie mehr oder weniger glücklich gefaßt ist, Deutungen und Auslegungen Raum. So haben sich denn auch gleich nach dem Kongreß Jaurès in Frankreich und Bernstein in Deutschland beeilt, den Ausgang des Pariser Kongresses als einen für Millerand günstigen hinzustellen, endlich tritt auch Vollmar in dem Dezemberheft der Sozialistischen Monatshefte auf, um Kautskys Kompetenz in der Auslegung der Kautskyschen Resolution zu bestreiten und letztere als einen Sieg Millerands auszulegen. Insofern v. Vollmar seiner eigenen Begeisterung über die Ministerschaft Millerands und ihre gesegneten Folgen für den Sozialismus Ausdruck gibt und mit einem Seufzer erklärt, daß die deutsche Sozialdemokratie leider sehr weit hinter den Fortschritten des französischen Sozialismus zurückgeblieben ist, so liegt darin nichts Besonderes. Wir haben nie gezweifelt, daß es auch in unseren Reihen schöne Helenas gibt, die wohl in ähnlichen Verhältnissen bereit wären, wenn nur der Paris auf sie ein gnädiges Auge wirft, sich von ihm entführen zu lassen, und wir können auch sagen, wie seinerzeit der kluge Itzig, als man ihn fragte, ob so ein französisches Panama wohl in seiner Heimat Galizien möglich wäre: „Die Leute – die würden sich schon finden, bloß der Kanal fehlt.“ Der Vollmarsche Artikel sagt uns also in dieser Beziehung nichts Neues. Auch in seiner sachlichen Beweisführung zugunsten Millerands gibt er nur die bekannten, in Frankreich oft von Jaurès und anderen wiederholten Argumente wieder. Im folgenden werden wir Gelegenheit haben, uns mit der Jaurèsschen Auffassung in einigen Artikeln zu befassen, woraus sich unter anderem auch die Beleuchtung der Vollmarschen von selbst ergeben wird. Sein Artikel erfordert erst da eine besondere Entgegnung, wo er außer der Darlegung der eigenen Ansichten Vollmars es unternimmt, die Deutschen über die Tatsachen in Frankreich und die Franzosen über die Meinungen in Deutschland, und zwar in gleichmäßig falscher Weise, zu informieren.
Es handelt sich um zwei Fragen, die bei der Beurteilung des Falles Millerand von kardinaler Bedeutung sind. Erstens um die Frage, ob Millerand mit oder ohne Genehmigung der französischen Sozialisten seinen Ministerposten übernahm, und zweitens um die Feststellung, welches Urteil über den Eintritt Millerands ins Ministerium der Internationale Kongreß im allgemeinen und die deutsche Sozialdemokratie im besonderen durch die Annahme der Kautskyschen Resolution ausgesprochen hat.
Das deutsche Publikum wird nämlich vor allem belehrt, daß Kautsky es aus Mangel an Vorsicht arg hinters Licht geführt habe, als er in seinem Artikel in der Neuen Zeit, Nr. 2 , den Eintritt Millerands in die bürgerliche Regierung als einen eigenmächtigen, ohne Vorwissen der sozialistischen Partei getanen Schritt darstellte. Vollmar, der nicht ein Windbeutel wie Kautsky ist, hat sich in Paris „sehr eingehend über die Sache erkundigt“ und sich „von allerbest unterrichteter Seite“ einen „genauen Bericht“ von dem Hergang des Eintritts Millerands ins Ministerium erstatten lassen, den er nun mit viel Behagen zum besten gibt.
Demnach steht Millerand vor uns als der brave Knabe da, der sofort nach der Aufforderung Waldeck-Rousseaus eine Sitzung der sozialistischen Kammerfraktion einberufen ließ und sich an die Genossen mit der Bitte um Direktiven wendete, hier aber nicht nur eine allgemeine Zustimmung zum Eintritt in die Regierung fand, sondern ganz besonders von den Guesdisten und Blanquisten, namentlich von Vaillant und Sembat, sozusagen unter Freudentränen für seine Tat gesegnet wurde.
Wäre dem so, wie Vollmar es schildert, dann erfährt zwar nicht die Bewertung der Teilnahme von Sozialisten an bürgerlichen Regierungen im allgemeinen, wohl aber die bisherige Bewertung der Handlungsweise Millerands wie andererseits der inneren Parteikämpfe der französischen Sozialisten eine völlige Verschiebung. Erscheint dabei Millerand als der legitime Vertreter der sozialistischen Partei, die auch die Verantwortlichkeit für ihn trägt, so wird dafür die schroffe Opposition der französischen Arbeiterpartei und der Fraktion Vaillant ganz unverständlich, und sie erscheinen wirklich als jene Störenfriede der sozialistischen Einigkeit, als die sie Vollmar so angestrengt darstellen möchte.
Nun, die internationale Sozialdemokratie braucht zum Glücke nicht alles, was bis jetzt über den Fall Millerand gesagt und geschrieben worden ist, auf den Kopf zu stellen, denn Vollmar ist – das passiert offenbar auch den vorsichtigsten Männern – nur zum Opfer eines französischen Spaßvogels geworden, indem ihm seine „allerbest unterrichtete Seite“ einen sicher sehr gutgemeinten Bären aufgebunden hat. Der folgende Brief Vaillants vom 4. Dezember v. J., zu dessen öffentlichem Gebrauch er uns ermächtigt, stellt den Sachverhalt in unzweideutiger Weise fest. Vaillant schreibt:
Ich habe mehrmals Gelegenheit gehabt, die Tatsachen öffentlich darzulegen. Zwei Tage vor der Bildung des Ministeriums, in einer Sitzung der sozialistischen Kammerfraktion, erzählte Millerand als eine „Geschichte, die nunmehr bloß der Vergangenheit angehöre“, daß nach dem Falle des Kabinetts Dupuy man ihm vorgeschlagen habe, in eine ministerielle Kombination einzutreten, und daß er sich an diesen Verhandlungen lediglich unter seiner persönlichen Verantwortlichkeit beteiligt habe, die Partei gänzlich aus dem Spiele lassend. Ich erklärte sofort, daß ich von den Äußerungen Millerands Akt nehme und daß, wenn ähnliche Verhandlungen sich ausnahmsweise wiederholen und erfolgreich werden sollten, ich die Kammerfraktion wie die Partei zu einer Erklärung auffordern würde, um die Partei gänzlich von einem solchen individuellen Akte loszulösen, da die Partei an der Zentralgewalt der Bourgeoisie, am Ministerium, In keiner Weise teilnehmen könne. Millerand machte nach diesen Worten ein Zeichen des Einverständnisses, und wir begaben uns darauf in der Mehrzahl in das Plenum der Kammer. Keiner von uns dachte damals, daß man an den Worten Millerands, wonach die ministeriellen Verhandlungen eine „Geschichte aus der Vergangenheit“ waren, zweifeln sollte.
Ich war demnach am anderen Tage sehr erstaunt, als mir ein Freund, der sich für gut unterrichtet hielt, erzählte, daß das Kabinett Waldeck-Rousseau gebildet sei und Millerand nebst Galliffet enthalte. Ich lehnte es ab, daran zu glauben, und schickte sofort an Millerand einen Rohrpostbrief, in dem ich ihn bat, unverzüglich das Gerücht zu dementieren, das ich für eine Verleumdung hielt, und in dem ich hinzufügte, daß, wäre es wahr, dadurch die von mir in der Fraktionssitzung gesprochenen Worte ihre Gültigkeit verlören. Ich verstand darunter, daß angesichts der Anwesenheit Galliffets im Ministerium es uns nicht mehr genügen würde, zu erklären, Millerand könne durch seinen Eintritt in die Regierung die Partei weder vertreten noch verpflichten, sondern daß wir obendrein mit aller Macht gegen einen Akt protestieren müßten, durch den sich ein Sozialist zum Kollegen des Kommuneschlächters machte.
Als ich deshalb am nächsten Tage zugleich die Zeitungen mit der Nachricht von der Bildung des Kabinetts Waldeck-Millerand-Galliffet und eine Rohrpostkarte von Millerand erhielt, worin er mir schrieb, daß er meinen Brief bekam, als er aus der ersten Sitzung des Ministerrats ging, daß die Sache gemacht sei, daß er seine Pflicht getan zu haben glaube und daß die Zukunft entscheiden würde, da eilte ich zu den Abgeordneten meiner Partei (PSR) und den befreundeten Abgeordneten, und am gleichen Abend brachten die Zeitungen unseren Protest, dem wir noch dadurch positive Sanktion gaben, daß wir uns von der sozialistischen Kammerfraktion trennten und eine sozialistisch-revolutionäre Gruppe bildeten ...
Bei nochmaligem Durchlesen Ihres Briefes sehe ich, daß unsere intimen Feinde auf die Erzählung eines Abgeordneten hin mich und Sembat beschuldigen, eine in der Fraktion in der Sache Millerand vorgeschlagene Resolution abgelehnt zu haben. (Siehe den Artikel Vollmars. – R.L.) Das, was ich Ihnen oben schreibe, genügt, um diese Erzählung zu dementieren, die ich schon einmal gehört habe, die aber deshalb nicht minder falsch ist. Sie ist entweder ein Irrtum oder eine Unwahrheit (une contrevérité).
Die Sache ist also vollkommen klar. Weder hat Millerand eine Sitzung der sozialistischen Kammerfraktion einberufen noch ihr die Möglichkeit seines Eintritts ins Ministerium in Aussicht gestellt, noch auch ihre Zustimmung zum Eintritt erhalten. Im Gegenteil, nach seiner Darstellung konnte die Fraktion nicht im geringsten annehmen, daß es sich um eine aktuelle...