2.Der Höhlenmensch von nebenan
Bevor unsere Vorfahren vor 11000 Jahren damit begannen, sesshaft zu werden, Häuser zu bauen sowie Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben, lebten sie 200000 Jahre als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen in den Savannen der Erde an offenen Lagerplätzen. Die Evolutionspsychologie ist sich sicher, dass die genetische Anpassung an die Lebensbedingungen der Urzeit auch noch unser heutiges Verhalten mitbestimmt.
Allerdings versetzt uns unser Gehirn durchaus in die Lage, uns auch flexibel an unsere heutige Umwelt anzupassen beziehungsweise diese selbst zu gestalten. Doch viele Elemente des täglichen Lebens in der menschlichen Entwicklung sind so »neu«, dass wir mit ihnen noch gar nicht richtig umgehen können. Dazu gehören nicht nur Dinge wie zum Beispiel Geld, sondern auch das Zusammenleben mit fremden Menschen auf vergleichsweise engem Raum.
Ein Haus oder die Wohnung als Ersatz für die Wohnhöhle der Urzeit zu definieren ist falsch. Auch wenn wir gern die Menschen der Steinzeit als Höhlenmenschen bezeichnen, lebten sie damals nicht in Höhlen. Wie die Wissenschaft bewiesen hat, wurden diese allenfalls als Kultstätten genutzt. Die Vorstellung, dass diese Menschen damals in Höhlen gelebt haben, entstand im 19. Jahrhundert und hat sich, etwa durch Comicfiguren wie zum Beispiel Fred Feuerstein, bis in die Gegenwart gehalten.
Mehr als nur ein Dach über dem Kopf
Wohnen ist aus sozialpsychologischer Sicht eine höchst komplexe und komplizierte Angelegenheit. Das liegt unter anderem daran, dass dabei nicht nur unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinandertreffen, sondern auch Denkmuster, Verhaltensweisen und Werte, die ihren Ursprung in der Frühzeit des Menschen haben.
Wahrscheinlich haben die Menschen schon sehr früh bestimmte Territorien oder Reviere abgesteckt, die sie exklusiv zum Jagen und Sammeln nutzten. Für andere Menschen war der Zutritt entweder ganz verboten oder nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Wir kennen dieses territoriale Verhalten alle aus den Wildwestfilmen, wenn es hieß: »Hier beginnt das Land der Apachen. Seid jetzt besonders wachsam.«
Es gibt übrigens zwei Arten von Wildwestfilmen. Die einen spielen vor 1873, als der Westen noch ein freies Land von unendlicher Weite war, und die anderen in den Jahren danach. 1873 wurde nämlich der Stacheldraht erfunden, um die riesigen Rinderweiden einzuzäunen. Danach war es vorbei mit der Freiheit. Die ersten Auseinandersetzungen um Zäune und Grundstücksgrenzen begannen. Der Name der Indianer für Stacheldraht war übersetzt »Teufelsschnur« (englisch Devil’s Rope). Stacheldraht wird auch heute noch gern eingesetzt, wenn es um Streitigkeiten zwischen Hausnachbarn geht, auch wenn er vielerorts verboten ist.
Revierkämpfe
Sein eigenes Revier abzustecken, zu verteidigen und vielleicht selbst auszuweiten, indem man seine Nachbarn überfiel und sie umbrachte, mag in der Steinzeit sinnvoll und vielleicht sogar notwendig gewesen sein, um das eigene Leben zu sichern. Heute ist dieses Revierdenken die Hauptursache für Nachbarschaftsstreitigkeiten. Hausbesitzer stecken ihr Revier mit Zäunen, Hecken, Mauern oder Sichtschutzpalisaden ab, und wehe, es wächst auch nur eine Wurzel über diese Grenze. Sie wird gnadenlos herausgerissen.
Oft herrscht ein Nulltoleranzprinzip.
Wer sich etwas zivilisierter gibt, handelt mitunter unnachgiebig nach dem Motto »Wehret den Anfängen«, was im Endeffekt aber auf das Gleiche herauskommt: Kompromisse? Fehlanzeige. Die Angst, dass die Nachbarn den Respekt vor einem verlieren und ihre »Übergriffe« immer dreister werden, lässt viele Hausbesitzer zu unverhältnismäßigen Verteidigungsmaßnahmen greifen. So mancher würde vielleicht gern Selbstschussanlagen installieren, wenn diese nicht verboten wären.
So behilft man sich mit anderen Maßnahmen der Grenzsicherung, wie Videoüberwachung oder mit an Bewegungsmelder gekoppelten Scheinwerferbatterien, die schon bei der kleinsten Annäherung an die Grenze des eigenen Territoriums das Nachbarhaus in gleißendes Licht tauchen.
Es sind nicht nur Pflanzen, die bei ihrem Wachstum die Grenzen verletzen. Es können auch Bienen sein, die zu den Blumen des eigenen Gartens fliegen, sowie akustische Beeinträchtigungen und Gerüche. Selbst optische Eindrücke, wie die Farbe einer neu gestrichenen Wand, können als Übergriff gedeutet werden und heftige Gegenreaktionen hervorrufen. Andererseits ist derjenige, der sich bedroht fühlt, durchaus bereit, sein eigenes Revier bis zur Grenze auszuweiten oder am liebsten auch noch ein ganz klein wenig darüber hinaus. Ein paar Zentimeter vom Nachbargrundstück zu nutzen ist für ihn dann so, als hätte er einen neuen Kontinent erobert.
In Mehrfamilienhäusern liegt die Kampfzone in der Regel auf den Balkons, im Treppenhaus oder in den Kellerräumen. Seinen Balkon durch Glasscheiben zum Ganzjahressitzplatz aufzurüsten gilt ebenso als Ausweitung des eigenen Territoriums wie die Dekoration des Treppenhauses mit Bildern und Pflanzen oder das Aufstellen eines Schuhregals. Im Keller beansprucht man mehr Raum, indem man Fahrräder, Kinderwagen oder Kinderspielzeug auf den Allgemeinflächen abstellt. Das Revierverhalten ist im Prinzip eine Sonderform des Besitzdenkens.
Ich bin, was ich habe
Das Besitzdenken ist nicht auf Grund und Boden beschränkt. Es zieht sich durch unser ganzes Leben und bestimmt auch unser Denken und Handeln im Zusammenhang mit dem Wohnen. Dabei geht es nicht nur um Eigentum und um die Verletzung von Eigentum, sondern ganz wesentlich auch um Status, Sicherheit und Angst vor Verlusten und Einbußen.
Den eigenen Status für andere Menschen sichtbar zu machen und ihn nach Möglichkeit noch zu verbessern ist eine ganz wesentliche menschliche Triebkraft. Ausgelöst wird sie vom Belohnungssystem, einer Hirnregion, die uns immer dann mit guten Gefühlen versorgt, wenn wir etwas geleistet oder ein Ziel erreicht haben. Im Prinzip ist das Belohnungssystem eine gute Einrichtung, die das Lernen und die Leistungsbereitschaft fördert. Sie hat aber auch ihre dunklen Seiten, wenn es um Gier, Neid oder um eine übersteigerte Selbstwahrnehmung geht.
Die Kehrseite des Besitzdenkens ist die Verlustangst. Wenn wir etwas besitzen, schätzen wir es deutlich wertvoller ein, als wenn es uns nicht gehören würde. Die Angst, es zu verlieren, kann uns zu ziemlich irrationalen Verhaltensweisen treiben.
Der Wunsch, fair behandelt zu werden
Seit Urzeiten in der Natur des Menschen verankert sind nicht nur egoistische Verhaltensweisen, sondern auch der Wunsch nach Fairness. Das Belohnungssystem gibt uns gute Gefühle, wenn wir uns fair verhalten, wenn wir fair behandelt werden und auch dann, wenn wir unfaire Mitmenschen für ihr Verhalten altruistisch bestrafen. Altruistisches Bestrafen heißt, dass wir selbst Nachteile in Kauf nehmen oder Zeit und Geld einsetzen, um das Verhalten eines anderen zu korrigieren. Zu diesem Mittel greifen wir auch, wenn wir uns von unseren Nachbarn oder vom Vermieter unfair behandelt fühlen.
Dieses altruistische Bestrafen hat den Zweck, die Funktion sozialer Gruppen zu erhalten und Normen durchzusetzen, die das Zusammenleben stärken.
Allerdings kann es auch hier zu Fehlinterpretationen und Fehlverhalten kommen. Besonders schwierig wird es, wenn Menschen Kränkungen oder Verletzungen des Selbstwertgefühls erfahren müssen. Dabei ist es gleichgültig, ob diese nur subjektiv wahrgenommen werden oder tatsächlich objektiv vorhanden sind und dann zu unvorhersehbaren und unkalkulierbaren Reaktionen führen, die jedes Maß aller Dinge überschreiten.
Viele Menschen glauben, dass sie heute alle Konflikte und Probleme auf juristischem Wege lösen können. Das ist jedoch ein Irrtum. Recht und Gesetz beziehen sich immer nur auf Fakten und nicht auf die dahinterliegenden Gefühle und Emotionen. Irrtümer darüber, was erlaubt und verboten ist, und erst recht, was erlaubt oder verboten sein sollte, gibt es zur Genüge. Problematisch wird es immer dann, wenn jemand Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen möchte und Regeln aufstellt, die bevorzugt für andere zu gelten haben.
Die alltägliche Irrationalität
In nahezu allen Konfliktfällen zwischen Vermietern, Mietern und Nachbarn argumentieren und verhalten sich die Beteiligten so, als wenn es um objektiv überprüfbare Fakten gehe, die auf sachlich rationaler Ebene zu klären wären. Tatsächlich spielen aber kognitive Verzerrungen bei der Wahrnehmung des Kontrahenten und bei der Entscheidung über das eigene Vorgehen in mindestens 80 Prozent aller Fälle eine entscheidende Rolle. Schauen wir uns die Fehlerquellen an, die uns selbst dazu bringen, Konflikte in Gang zu setzen und eskalieren zu lassen.
Übersteigertes Selbstvertrauen
Viele Menschen glauben, dass das, was sie selbst für gut und richtig befinden, auch von allen anderen so gesehen wird. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Jemand, der zu sich selbst auf Distanz gehen kann, ist eher die Ausnahme. Mir sagte einmal ein Nachbar: »Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.« Damit wollte er andeuten, dass er sich durchaus bewusst war, dass die Gartenzwerge in seinem Garten nicht jedem gefallen.
Gartenzwerge werden von den Gerichten zu den »ästhetischen Immissionen« gezählt. Das sind optische Eindrücke außerhalb des eigenen Grundstücks, die das ästhetische...