Kapitel 2 Warum nicht einmal anders
Die Schwierigkeit, wenn man etwas anders machen will, besteht schon darin, dass wir nie so genau wissen, was eigentlich das ist, was wir gerade machen.
Das hört sich paradox an. In Wahrheit aber stecken hinter allem, was wir denken und sprechen können Wertvorstellungen und Denkvoraussetzungen, die wir einfach annehmen. Warum wir das tun, ist oft in Vergessenheit geraten. Nur einige Beispiele:
- Warum ist beispielsweise Mobilität wichtig?
- Was eigentlich ist Gesundheit?
- Warum müssen Unternehmen und die Wirtschaft als Ganzes wachsen?
- Warum sind uns Individualität so wichtig?
- Warum ist es uns wichtig Zeit zu sparen?
Das sind Fragen, deren Sinn nur mit genauer Kenntnis der historischen und kulturellen Zusammenhänge greifbar wird. Man stellt erstaunt fest, dass andere Kulturen zu anderen Lösungen gekommen sind und dass es ihnen damit auch nicht schlecht geht. Hier der Versuch von Antworten auf diese Fragen:
- Mobilität ist einer der Grundwerte der Industriellen Revolution. In nahezu sämtlichen anderen bestehenden und vergangenen Kulturen stellt eher Sesshaftigkeit einen Wert dar. Sogar die Tuareg, jene Nomaden, welche die längsten Wanderbewegungen durchführen, verwenden nur 8 % ihrer Zeit für Mobilität. Bereits in den siebziger Jahren berichtete Ivan Illich, dass der durchschnittliche amerikanische Städter nahezu die Hälfte seiner Zeit für Mobilität verwendete! Illich rechnete sowohl die Reisezeit, als auch jene Zeit, die für die Ermöglichung der Mobilität notwendig ist, mit hinein. Dazu zählt er unter anderem die Zeit, die man braucht, um den Preis für ein Auto oder ein Kamel mit all seinen Nebenkosten zu beschaffen.
- Gesund zu sein hieß im Mittelalter, sich am sozialen Prozess beteiligen zu können. Eine bettlägerige Großmutter, die ihren Kindern etwas erzählen konnte, galt nicht wirklich als krank. Gesund war, wer etwas für andere leisten konnte. Das hat sich mehrfach in den letzten Jahrzehnten geändert. War „gesund“ in den 70er Jahren noch mit „arbeitsfähig“ gleichgesetzt, so änderte sich der Begriffsinhalt in den Achtzigern zu „fit“. Damals hechelten überall Menschen durch das Gehölz und sprangen über Baumstämme, weil sie gesund sein wollten. Das entwickelte sich weiter zur „Belastungsfähigkeit“ die man nachweisen musste, indem man nach der Arbeit noch in der Lage war, Squash oder mindestens Tennis zu spielen. Herzinfarkte bei Managern während des Laufens nahmen zu und auch Bill Clinton brach beim öffentlichen Morgenjogging zusammen. Später lockerten sich die Zügel und es wurde unter dem Begriff „gesund“ so etwas wie „freizeitfähig“ verstanden, bis schließlich das „spaßfähig“ der Eventkultur daraus wurde.
- Die universelle Bedeutung des Wachstums ist ebenfalls ein Kind der Industriellen Revolution. Es gibt keine andere Kultur, die Wachstum ohne Rücksicht auf Verluste als einen ihrer höchsten Werte angesetzt hätte. Wirtschaftliche Gegenwerte anderer Kulturen sind beispielsweise „allgemeiner Wohlstand“ oder „Gemeinschaft“. Wir kennen diese Werte natürlich auch, aber sie haben real einen geringeren Stellenwert.
- Der Individualismus ist eine genuin abendländische Denkform. Sie entstand nach der Eiszeit, als sich in Europa dichte Wälder ausbreiteten, die das Jagen in Gruppen weniger erfolgreich machten, als in der Tundra. Der Wald konnte nur wenige Menschen ernähren. Individuelle große Jäger und Krieger waren nun gefragt. Dieser hohe Wert des Individualismus ist anderen Kulturen unbekannt. Beispielsweise auch dem Islam, was derzeit zu einem großen Teil der aktuellen interkulturellen Probleme beiträgt. Nur: von innen heraus gesehen ist Individualismus für uns so selbstverständlich, dass wir uns anderes weder vorstellen können, noch es anderen erlauben wollen.
- Die lineare Vorstellung der Zeit ist uns ebenso selbstverständlich, aber wesentlich jünger. Erst mit dem Aufkommen der Eisenbahn wurde die Zeitvorstellung homogenisiert und linear gedacht, wegen der Fahrpläne! Die Idee, dass Zeit etwas sei, was man sparen könne, war dann die Konsequenz des folgenden Geschwindigkeitsrausches. In anderen Kulturen denkt man Zeit als Eigenschaft von Dingen, wie wir es auch noch rudimentär in Sprüchen wie „gut Ding braucht Weile“, oder „alles hat seine Zeit“ vorfinden. Die Griechen sprachen noch von KAIROS, womit sie die Qualität der Zeit meinten. Wir haben nicht einmal mehr ein solches Wort.
Werte sind also nicht nur die Voraussetzung für jedes Denken und Handeln, sondern auch abhängig von der Kultur, in der sie gelten und sie sind über die Zeit veränderbar. Sie stellen keine absoluten und unveränderlichen Größen dar. Das gilt selbstverständlich genauso für jene Werte, die unser Wirtschaftssystem beherrschen. Dazu gehören neben dem Wachstum Begriffe wie Gewinnoptimierung, Marktpositionierung, Kosten und Größe, sowie jeder beliebige andere Wert, der wirtschaftliches Handeln bestimmt. Dasselbe gilt analog für unsere Leitbegriffe in Politik, Bildung, Religion, usw.
Wenn solche Werte historisch entstanden sind und nicht in Erz gegossen sind, dann ist es auch möglich, sie in Frage zu stellen und sie zu verändern. Mut ist dabei unbedingt nötig. Denn einerseits wandelt derjenige, der mit dem Mainstream schwimmt, immer in der Sicherheit der Gemeinschaft. Andererseits wird jeder Abweichler zunächst immer negativ beurteilt.
Wenn alle der Überzeugung sind, dass die einzige Art Nahrung zu beschaffen die Jagd sei, dann rennen alle dem Wild nach. Was natürlich zur Folge hat, dass das Gedränge groß, das Wild weniger und die Erfolge kleiner werden. Baut sich nun ein einziger eine Angel und hört auf zu rennen, und stellt sich ruhig an den Fluss, dann spart er Energie und wird mehr Erfolg in der Nahrungsbeschaffung haben. Die anderen werden ihn aber möglicherweise für verrückt erklären, ja vielleicht sogar töten.
Dahinter steckt ein eigenartiges psychologisches Phänomen, das der Entscheidungstheoretiker Anton Kühberger „Kognitive Illusion“ genannt hat. Dieses Phänomen besagt, dass Verluste – wie auch vorangehende Verlustängste – für Menschen mehr Bedeutung haben, als zu erwartende Gewinne. Psychologisch wirken sich Verluste bis zu dreimal so stark aus. So kommt es, dass Verlust bringende Aktien länger behalten werden, als Gewinn bringende. Dabei ist es gleich, ob es sich um Aktien der Börse, um eine Ehe, um strategische Entscheidungen in Kriegen oder um „mentale Aktien“ handelt. Wir halten eher an der Hölle fest, die wir kennen, als uns einem Paradies zuzuwenden, das möglich wäre.
Es ist das Schicksal aller Ketzer: sie verlassen die bequemen üblichen Denkfurchen und werden bekämpft. Aber wenn sie durchhalten und mental oder physisch überleben, verändern sie die Welt, weil sie das Denken neu ordnen. Sie treten immer an, um zu gestalten. Ihr Gewinn besteht darin, ihrem Leben Sinn zu verleihen, weil sie etwas schaffen, was ohne sie nicht existieren würde. Und sie bekommen Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Wer dagegen weitermacht wie alle es immer schon gemacht haben, der gestaltet nicht, sondern ist nur eine Marionette n den Händen von Puppenspielern, die er nicht kennt. Er verzichtet darauf, etwas eigenständig zu gestalten und rennt am Lebenssinn vorbei. Seine Arbeit könnte auch durch jeden anderen erledigt werden. So wird das Arbeitsleben hohl und leer. Die massiv zunehmenden Sinnerkrankungen, wie Burnouts, Depressionen und Psychosomatosen sind die Folgen dieser inneren Leere.
Wir leben in einem Epochenbruch. Zu erkennen ist das einerseits am Verlust überkommener Wertestrukturen und am zaghaften und tastenden gleichzeitigen Entstehen neuer Paradigmen. Wollen wir nicht Antworten von gestern in eine veränderte Zukunft fortschreiben, in die sie nicht mehr passen, dann müssen wir die wesentlichen Fragen von vorne stellen, um das Finden von passgenauen Antworten für die neue Situation zu ermöglichen.
Bleiben wir dagegen bei unseren herkömmlichen Reparaturmechnismen, dann wird uns die Zeit überholen. Unseren Versuchen werden die Rahmenbedingungen wegbrechen, unter denen sie Geltung hatten, was zur Folge hat, dass wir nur Pflaster auf Löcher kleben aber keine Risse mehr heilen können.
Warum es also nicht wagen, noch einmal von vorne darüber nachdenken, worum es geht und das Abenteuer einzugehen, auf Antworten zu gelangen, die erfolgversprechender sind, als jene, die man bereits hat?
Es nützt jedoch nichts, wenn nur rhetorische Architekturen gebaut werden, denen keine erlebbare Dimension folgt. Dies ist der Fall, wenn wir den Wert der Freiheit hochhalten und propagieren, gleichzeitig aber in Alltag und Beruf erlebt wird, dass die Methoden der Unterwerfung und Kontrolle immer raffinierter...