»In Kindern erlebst du
Gott auf frischer Tat.«
Erstes Kapitel
in dem wir mit ansehen müssen, wie der kleine Martinus von Eltern und Lehrern geschlagen und geschunden wird. Gleichzeitig erkennen wir seine Wissbegierde und ahnen, dass Vater Hans Luder der eigentliche Auslöser für die Reformation gewesen sein könnte.
Die Wurzeln des Lebens liegen in der Kindheit. Das ahnt Martinus auch, als er am Ende seines Lebens zurückblickt: »Im Jahre 1483 bin ich, Martin Luther, geboren von meinem Vater Johannes Luther und meiner Mutter Margaretha. Mein Vaterland war Mansfeld. Ich bin eines Bauern Sohn, mein Vater, Großvater, Ahnherr sind rechte Bauern gewesen. Danach ist mein Vater gen Mansfeld gezogen und daselbst ein Berghauer geworden […] Die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken zusammengetragen, also haben sie uns erzogen.« Die äußeren Daten mögen stimmen – sein inneres Erleben jedoch spiegelt die spröde Notiz nicht. Denn als Kind hat Martinus vieles erleben und erleiden müssen, was seinen Lebensweg prägte. Aber der Reihe nach.
Am 10. November 1483 wird Martinus geboren; schon am nächsten Tag bringt der Vater seinen Sohn zum Pfarrer Bartholomäus Rennbrecher. Die Kindersterblichkeit ist hoch –deshalb lassen Eltern ihre Säuglinge schnell taufen. Schließlich gilt nur die Taufe als Garant dafür, dass die Kinder im Fall des Todes in den Himmel kommen. Das damalige Ritual ist dramatisch: Noch vor der Kirche nimmt der Priester einen Exorzismus am Täufling vor. Nase und Ohren werden mit einem Gemisch aus Speichel und Erde beschmiert, das soll böse Geister vertreiben. Dann geht es in die Kirche zum Taufstein. Es ist der 11. November, Tag des heiligen Martin. Dessen Namen soll das Baby tragen. Martin. Martin Luder.
Schon bald steht ein Umzug an: Die kleine Familie zieht ins nahe Mansfeld. Der Vater arbeitet als Hüttenmeister, hat es zu bescheidenem Wohlstand gebracht. Hier, am Ostrand des Harzes, leben viele Menschen vom Bergbau. Seine Eltern hätten »harte Arbeit ausgestanden, dergleichen die Welt jetzt nicht mehr ertrüge«, schreibt Martinus später. Hans Luder ist gut im Geschäft. Zwei Häuser an der Hauptstraße kauft er. Große Erzvorkommen gibt es hier. Aus dem Gestein wird Kupfer gewonnen – ein Metall, das in riesigen Mengen benötigt wird. Kupfer aus Sachsen schimmert auf den Dächern von Kirchen und Palästen. Für den Bau von Kanonen wird es gebraucht. Buchdrucker verwenden es für die Lettern. Ein weiteres, noch edleres Metall verbirgt sich im Erz: Silber. Um in diesem Geschäft mitmischen zu können, braucht Hans Luder Geld. Er leiht es sich von der Familie seiner Frau; damit kann er Hüttenfeuer kaufen, in denen er die kostbaren Metalle aus dem Gestein herausschmilzt. Von der Ausbeute bleibt nicht viel übrig für Hans Luder: Der Pächter, also der Graf von Mansfeld, verlangt seinen Tribut. Die Kredite wollen abgezahlt werden. Doch die Geschäfte florieren. Das hängt auch mit der wachsenden Nachfrage nach Silbermünzen zusammen. Kurfürst Friedrich der Weise freut sich über die neuen Silberreserven. Die Münzen verschaffen ihm Unabhängigkeit vom Kaiser.
Hans Luder wird unentbehrlich für den Mansfelder Grafen, berät ihn auch und wird Mitglied des Magistrates.
Elterliche Strenge
Martinus spürt: Der Vater ist angesehen. Der seinerseits plant seinen Stammhalter fest in das Familienunternehmen ein. Martinus soll Jurist werden. Verträge müssen aufgesetzt, Schürfrechte verhandelt, bisweilen auch Prozesse geführt werden. Hier einen vertrauenswürdigen Compagnon zur Seite zu haben, wäre nützlich.
Vielleicht ist es dieser feste Lebensplan für seinen Sohn, der Hans Luder zu rüden Erziehungsmethoden greifen lässt. Körperliche Züchtigung gehört dazu. Oft muss Martinus vor der Rute seines Vaters fliehen. Bei der Mutter Margarethe findet er keine Sicherheit. »Meine Mutter schlug mich einmal um einer einzigen Nuss willen, dass das Blut hernach floss.« Die Eltern hätten es »herzlich gut« gemeint, redet Martinus sich die erlittene elterliche Gewalt als Erwachsener schön und gewinnt ihr sogar pädagogischen Sinn ab, denn »die Strafe haftet viel fester als die Wohltat«. Auf den Ölporträts, die Lucas Cranach 1527 von den Eltern während ihres Wittenbergbesuches malt, ist ihnen die Strenge anzusehen: Hans Luder blickt bestimmt und unnachgiebig drein, die Stirn ernst und zweifelnd zusammengezogen. Stolz trägt er einen Pelzkragen, Insignie des wohlhabenden bürgerlichen Lebens. Mutter Margarethe hingegen blickt mit zusammengekniffenen Lippen etwas traurig nach unten. Martinus’ Freund Georg Spalatin behauptet später, »Dr. Martin« ähnele seine Mutter »an Körperbau und Gesichtszügen«. »Mir und dir ist niemand hold, das ist unser beider Schuld«, soll Margarethe dem kleinen Martinus oft vorgesungen haben. Das klingt nach Schwermut. Kein Wunder bei den täglichen Strapazen und Sorgen, die sie wohl oft alleine ertragen muss. Denn während Vater Hans sich zum Manager in Sachen Bergbau entwickelt, gebiert Mutter Margarethe viele Kinder. Sieben oder acht Geschwister kommen zur Welt, nur vier überleben ihre Kindheit: Jacob und Margaretha, Elisabeth und Dorothea. Martinus lernt den Tod schon früh aus nächster Nähe kennen.
Stockmeister, fromme Brüder und gute Lehrer
Zu Hause lehrt das Leben – in der Schule stehen Grammatik und Logik auf dem Programm. Direkt neben dem Neubau der St.-Georg-Kirche steht das Schulgebäude, Martinus kann den Fortgang der Bauarbeiten an der Kirche beobachten. Sein »guter alter Freund Nikolaus Oemler« trägt Martinus manchmal Huckepack zur Schule. Die Lehrer verbreiten ein ähnliches Schreckensregiment wie sein Vater. Die Kinder dürfen nur lateinisch reden, spricht einer Deutsch, setzt es Schläge mit der Rute. »Grausam wie die Henker« sind die Lehrer, sie führen sich wie »ungeschickte Tyrannen und Stockmeister« auf. Martinus erlebt den Unterricht als »Hölle und Fegefeuer, darinnen wir gemartert sind«. Die Lehrer installieren ein ausgefeiltes Spitzelsystem: Jeder Schüler muss die Sünden der Kameraden aufschreiben; einmal in der Woche gibt es die Strafe dafür: Schläge mit der Rute. Auch stellen die Lehrer ihre Schüler bloß: Wer nicht pariert, bekommt eine Eselsmaske aufgesetzt und muss isoliert auf der Eselsbank sitzen. Die »strenge Zucht« der Schule, noch mehr die der Eltern, habe ihn in die »Möncherei« getrieben, schreibt Martinus später: »Ihr ernst und gestreng Leben, das sie mit mir führten, verursachte mich, dass ich zuletzt in ein Kloster lief; wiewohl sie es herzlich gut gemeint haben, wurde ich doch allzu erschrockenen Gemüts.«
Mit 13 Jahren kann er den Eltern zum ersten Mal entfliehen. Immer das Berufsziel Jurist vor Augen, schickt Vater Hans seinen Sohn Ostern 1497 auf die Schule nach Magdeburg. Achtzig Kilometer Wegstrecke liegt vor Martinus, Freund Hans Reinicke begleitet ihn. Aus der Ferne sehen die beiden den Dom in den Himmel ragen, mehr als hundert Meter hoch. Den beiden Jungs wird klar: Die Enge und Provinzialität von Mansfeld lassen sie gänzlich hinter sich. Magdeburg ist eine Weltstadt. Am Elbhafen herrscht reges Treiben. So viele neue Eindrücke! Auch hier liegt die Schule neben der Kirche, dem Dom. Die »Brüder vom gemeinsamen Leben« unterrichten hier, eine klosterähnliche Gemeinschaft, die eine tief verinnerlichte Frömmigkeit lebt, jedoch ohne ein Gelübde abzulegen. Mystik ist ihnen wichtiger als die Teilnahme an der Messe oder an Andachten. Der Blick auf das Leiden Christi steht im Mittelpunkt. Zwar sind die Brüder der Kirche treu ergeben, doch eigentlich suchen sie die direkte Beziehung zu Gott ohne den Umweg über Rituale oder kirchlichen Gehorsam. Die Frömmigkeit der sognannten »Nullbrüder« prägt Martinus.
Bald jedoch steht wieder ein Schulwechsel an. Vielleicht ist die Magdeburger Schule Vater Hans zu fromm für seinen Sohn? Er soll schließlich kein Theologe, sondern Jurist werden! Nun hat der Vater die Eisenacher Schule im Blick. Sie hat einen guten Ruf, hier drücken die Söhne der angesehensten Familien die Schulbank. 1498 beendet Martinus also sein Magdeburger Zwischenspiel und zieht nach Eisenach, seine »gute, liebe Stadt«. In der Tat sind die Lehrer hier besser ausgebildet, das Lernniveau ist hoch und nicht auf stupides Auswendiglernen zugeschnitten wie in Mansfeld. Die Lehrer demütigen die Schüler nicht, sondern ziehen zur Begrüßung sogar respektvoll den Hut, »weil Gott manchen von diesen zu einem Bürgermeister, Kanzler, Doktor oder Regenten bestimmt haben könnte«.
Unterkunft findet Martinus bei den Familien angesehener Eisenacher Bürger. Auch der Priester Johannes Braun gehört zu seinem neuen Bekanntenkreis – er entfacht in Martinus die Freude am Musizieren. So große Lust am Singen hat Martinus, dass er bald als Kurrendesänger von Haus zu Haus zieht und die Herzen so mancher Eisenacher erreicht, namentlich das der Bürgersfrau Ursula Cotta. Die Zuneigung ist beiderseitig – oft sitzt Martinus im vornehmen Hause Cotta zu Tisch und lernt Manieren. Von ihr merkt er sich einen Spruch, den er später zitiert: »Es ist kein lieber Ding auf Erden denn Frauenliebe.«
In die Lebensfreude mischt sich aber auch Unheimliches. Zum Beispiel sitzt hinter den Mauern des Dominikanerklosters ein alter Theologe in Haft. Der Franziskaner Johannes Hilten hatte die Kirche scharf kritisiert, ihr Verweltlichung vorgeworfen, Sünde und Verfall. Außerdem hatte Hilten wie ein Prophet seltsame Dinge vorhergesagt. Zum Beispiel, dass im Jahr 1516 ein Mann kommen werde, der die Kirche erneuere. Dafür wurde ihm der Prozess gemacht, nun sitzt der alte Mann hinter Gittern. Erstaunlich, wundert sich...