Einleitung
Ein Fußballplatz mitten in Hamburg. Eine Gruppe von Jugendlichen jongliert mit dem Ball, einige machen Dehnübungen, andere stehen herum und plaudern miteinander. Der Trainer kommt mit den Trikots aus der Kabine, er wird respektvoll mit Handschlag begrüßt. Eine kurze Ansprache, dann drehen die Jungen ein paar Runden zum Warmmachen. Einer sticht aus der Mannschaft heraus, er scheint etwas älter zu sein.
»Das ist Mehdi«, erklärt der Trainer Diarra, »ein feiner Junge, ist ein guter Fußballer. Die anderen mögen ihn auch.« Diarra, Mitte 30 und schon seit einigen Jahren als Übungsleiter aktiv, hat den Jungen seit Kurzem in seine Mannschaft aufgenommen. Mindestens die Hälfte der 16-Jährigen hat ausländische Wurzeln, ist aber in Hamburg aufgewachsen. Auch Diarra stammt von der Elfenbeinküste. Eine bunte Mischung, wie so oft im Fußball.
Mehdi ist ein sogenannter unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der unter der Obhut des Jugendamtes in einer Jugendwohnung lebt. Er ist im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen – und seit vier Wochen kann er in der Mannschaft mitspielen. Eine Betreuerin aus seiner Jugendwohnung stellte den Kontakt zum Fußballklub Eimsbütteler TV her. Nach den ersten Trainingseinheiten schreibt sie in einer Mail, Mehdi sei ganz glücklich, fühle sich sehr wohl und frage, ob er bleiben könne. Kein Problem für ETV-Trainer Diarra.
Mehdi kann sich schon ganz gut mit den anderen Jugendlichen verständigen. Beim Sport oder in der Musik funktioniert Kommunikation glücklicherweise nicht so sehr über Sprache.
Solche Begegnungen ereignen sich täglich hundertfach in Deutschland – und es werden immer mehr. Hiesige und Geflüchtete treiben miteinander Sport, sie verhandeln, sie lernen, sie arbeiten und spielen zusammen. Eine Art Alltag kehrt ein. Aber vieles funktioniert auch (noch) nicht: Asylanträge stocken, der Wohnungsbau geht nicht voran, Arbeitsplätze sind für Flüchtlinge schwer zugänglich.
Im vergangenen Jahr kamen über eine Million Menschen zu uns. In aller Eile wurden Container angemietet, Zeltstädte errichtet, Turnhallen für den Schulsport gesperrt und zu riesigen Bettenlagern umfunktioniert. Alle mussten untergebracht sein, bevor der Winter einbrach. Unzählige professionelle und ehrenamtliche Helfer kümmerten sich darum, sie improvisierten und sorgten für die Neuankömmlinge.
Ein Jahr später sieht alles schon wieder anders aus. Gerade gebaute Unterbringungen sind geschlossen, Überkapazitäten werden heruntergefahren. In diesem Jahr kommen wohl »nur« 300.000 Flüchtlinge und damit weit weniger Menschen als ursprünglich prognostiziert – nicht zuletzt weil es durch das EU-Türkei-Abkommen und die Schließung der Balkan-Route für die Fliehenden sehr viel schwerer geworden ist, nach Deutschland zu gelangen.
Auch deshalb können wir uns jetzt dem Aufbau nachhaltiger Strukturen zuwenden. Viele, die letztes Jahr gekommen sind, müssen wieder gehen. Aber ca. 600.000 Menschen werden auf absehbare Zeit bei uns bleiben, bleiben müssen, etwa weil in ihrer Heimat Krieg herrscht. Für sie müssen sich Perspektiven eröffnen. Daher geht es jetzt darum, die Flüchtlinge mit dem Leben in Deutschland vertraut zu machen. Mehr qualifizierten Deutschunterricht anzubieten, Plätze in Kindergärten und Schulen für die Kinder und Praktikumsplätze für die (jungen) Erwachsenen bereitzustellen, Wohnmöglichkeiten für alle zu schaffen. Eine Herkulesaufgabe. – Von ihr handelt dieses Buch.
Das Deutschland, in das sie kommen, hat eine lange Erfahrung mit Einwanderung. Nicht erst seit die »Gastarbeiter« in die Industriestandorte gezogen sind. – Aber diese Einwanderungsgeschichte wird gern verdrängt. Sie ist nie Teil der kollektiven Identität geworden. Migranten müssen sich ihren Platz in unserer Gesellschaft – wie in anderen Ländern auch – immer noch hart erkämpfen. Damit werden sich auch die Geflüchteten auseinandersetzen müssen.
Ob Integration gelingt, ob Zuwanderung als Erfolgsgeschichte gelesen werden kann, lässt sich an drei wesentlichen Kriterien bestimmen: Wie ist die Wohnsituation der Geflüchteten und Zuwanderer? Wie nehmen sie am Bildungssystem teil? Und wie ist ihr Zugang zum Arbeitsmarkt?
Diese drei Indikatoren zeigen, ob zwischen Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft Chancengerechtigkeit besteht – was wiederum die Voraussetzung gelingender Integration ist. Natürlich muss man zugestehen, dass die Geflüchteten in so großer Zahl erst seit kurzer Zeit in Deutschland sind. Viele befinden sich überhaupt noch in der behördlichen Warteschleife zur Klärung ihres Aufenthaltsstatus – fern von allen Integrationsangeboten. Viele beginnen aber auch, in der deutschen Gesellschaft heimisch zu werden.
Anhand von konkreten Beispielen, von Geschichten und Begegnungen, aber auch von wissenschaftlichen Analysen will dieses Buch der Frage nachgehen, ob die deutsche Gesellschaft überhaupt bereit ist, den Geflüchteten diese Chancen zu eröffnen. Die kurzen Chroniken am Beginn jedes Kapitels bilden in thematisch-chronologischer Betrachtungsweise die Folie dieser Frage. – Um ein Fazit vorwegzunehmen: Die Bereitschaft ist an vielen Stellen – seien es Einzelpersonen, Initiativen oder Institutionen – sehr groß! Aber nicht immer gelingt die Umsetzung schon. Und jeder weiß: Es gibt auch die negativen Beispiele von Ablehnung und Hass. Dennoch: Ein Jahr nachdem Deutschland sich dem Zuzug Hunderttausender Geflüchteter gegenübersah, haben Mut, Tatkraft und Engagement nicht nachgelassen!
Kapitel 1 lässt die intensive, turbulente Atmosphäre des vergangenen Herbstes noch einmal aufleben, als gerade ehrenamtliche Helfer mit Begeisterung und Improvisationstalent den Geflüchteten die Ankunft in Deutschland erleichterten. Eine große Mehrheit der Deutschen glaubte, dass »es« zu schaffen sei – eine große (und lang anhaltende) Welle von Zuversicht und Hilfsbereitschaft folgte. Aber in die Begeisterung mischten sich auch bittere Töne. Bürgermeister und Verwaltungen suchten in den großen Städten dringend nach Wohnraum – aber wenn es um Flüchtlinge direkt vor ihrer Haustür ging, verließ viele die Willkommenskultur.
Schnell zeigte sich auch: Es ging nicht nur darum, die Flüchtlinge mit Suppe und Sandwiches zu empfangen. Vielmehr mussten die Menschen aus Syrien, Afghanistan, Somalia oder Nigeria registriert werden und einen Asylantrag stellen. Was aussieht wie deutscher Bürokratismus, ist auch Voraussetzung für längerfristige Integrationsangebote. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge drohte zu kollabieren. Die Gründe für diesen Beinahezusammenbruch analysiert das Kapitel 2 und liefert einen Einblick in die Funktionsweise einer riesigen Behörde.
Man wird heute nicht mehr bestreiten können, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Aber viele Menschen tun sich immer noch schwer mit dieser Erkenntnis. Wohl auch weil beide deutschen Staaten sich in ihrer politischen Mehrheit nie als Einwandererstaaten verstanden haben. Völkerfreundschaft wurde in der DDR immer nur proklamiert – konkrete Begegnungen zwischen Deutschen und Vietnamesen oder Mosambikanern aber unterbunden. In der alten Bundesrepublik beäugte man lange Jahre argwöhnisch die Gastarbeiter und ihre Familien und wollte einfach nicht verstehen, dass da Millionen Menschen gekommen waren, um zu bleiben. Kapitel 3 zeigt, dass diese Denkweise schon in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kontraproduktiv war.
Was hat ein Schrebergarten mit dem Krieg in Syrien zu tun? Wie bringt man Menschen Deutsch bei, die in ihrem Leben gerade mal drei Jahre eine Schule von innen gesehen haben? Wie hilft man einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, eine Wohnung zu finden? Und wie hat man bei alldem sogar Spaß? – Kapitel 4 beschreibt die vielen kleinen, konkreten Schritte, die »Integration« ausmachen.
Mancher Manager schwärmte im vergangenen Herbst von einem neuen deutschen Wirtschaftswunder, wähnte die demografischen Probleme unserer alternden Gesellschaft gelöst. Vielleicht nicht ganz falsch, aber vorschnell. Nüchtern betrachtet zeigt sich, dass nicht viele Flüchtlinge auf Anhieb eine feste Stelle gefunden haben und die meisten froh sind, einen Praktikumsplatz zu ergattern. Von verwaltungstechnischen Hürden und intelligenten Arbeitsmarktinitiativen berichtet Kapitel 5.
Kapitel 6 riskiert einen Blick in die Zukunft, die schon begonnen hat. Metropolen in den USA und Europa verändern ihre Strukturen. Der anhaltende Zuzug von Migranten führt dazu, dass sich eindeutige Mehrheitsgesellschaften auflösen. Unter dem Stichwort »Superdiversität« wird gefragt, wie sich die Strukturen von Städten und Stadtteilen verändern und welche Auswirkungen diese Entwicklung auf gesellschaftliche Leitbilder und die Definition von Integration hat.
Schließlich der Versuch einer Bilanz in Kapitel 7: Wo stehen wir nach einem Jahr der vehementen gesellschaftlichen Diskussionen? Wie weit sind wir mit der Trias aus Wohnen, Bildung und Arbeit? – Die Antwort auf diese Fragen ist auch ein Indikator dafür, ob die neue Zuwanderung eine Erfolgsgeschichte werden kann – oder sogar schon geworden ist.
Im vergangenen Herbst habe ich begonnen, mich mit der Situation der Geflüchteten in Deutschland zu beschäftigen. Zunächst im Rahmen des Films »Die Herausforderung« für den NDR, den ich zusammen mit meiner Kollegin und Freundin Nadja Frenz realisiert habe. Nadja hat mir freundlicherweise auch erlaubt, einige ihrer Interviews für dieses Buch zu verwenden. Und sie hat mich in der Folge für...