Die Revolution weist den Weg
Zwischen Demokratie und Theokratie
»So, Ahmad. Die Namen der Kandidaten habe ich schon mal. Jetzt sag mir die dazugehörigen Codes. Aber langsam, damit ich bloß nichts durcheinanderbringe.« Ahmad räuspert sich kurz, nimmt den vor ihm liegenden Handzettel mit der Liste der Kandidaten in die Hand und liest seinem Kumpel leise, aber deutlich vor:
»6492 für Aref.«
»Chob!«
»1965 für Oladeghabad.«
»Chob!«
»2148 für Badamtchi.«
»Chob!«
»2846 für Djalali.«
»Chob!«
Am Ende der Liste angekommen, hat Ahmad 46 Codes und die dazugehörigen Nachnamen vorgelesen und sein Kumpel 46 Mal »Chob!« – »Okay!« gesagt. Dann wechseln sie die Rollen, und Ahmad lässt sich Namen und Codes von seinem Freund diktieren.
Es ist der 26. Februar 2016. Die beiden befinden sich in einem Wahllokal im Teheraner Stadtteil Gisha. Sie nehmen an den parallel stattfindenden Wahlen für das Parlament und den sogenannten Expertenrat teil. Aus der mit Abstand bevölkerungsstärksten Provinz Teheran können bis zu 30 Kandidaten ins Parlament und 16 in den Expertenrat gewählt werden. Auf den entsprechend riesigen Wahlzetteln muss jeder Wähler alle Namen handschriftlich eintragen sowie den dazugehörigen vierstelligen Code eines jeden Kandidaten. »Das ist echt ’ne Menge Arbeit, wenn wir wählen gehen«, sagt Emad Chonsari. »Damit zeigen wir, wie wichtig uns Wahlen sind.« Schmunzelnd fügt der frisch verheiratete Politikstudent hinzu, dass in vielen Ländern Wähler dagegen »einfach nur Kreuze machen oder einen Knopf drücken müssen«. Dass bei Wahlen in Iran lange Schlangen vor den Wahllokalen entstehen, liege also nicht nur an der stets hohen Beteiligung, sondern auch daran, »dass die Stimmenabgabe 10 bis 15 Minuten pro Wähler dauert«.
Gewählt wird in Iran in Schulen und Moscheen. Anders als z.B. in Deutschland können sich Wähler aussuchen, in welchem Wahllokal sie ihre Stimme abgeben. Man muss nur in der eigenen Provinz bleiben. Natürlich ist auch in Iran die Wahl geheim, aber die Szene in einem Wahllokal gleicht eher einem Besuch auf dem Basar. Überall liegen kleine Flugblätter und Wahllisten herum. Viele legen ihr Smartphone oder Tablet vor sich, um die Namen und Codes abzuschreiben. Auf diese Weise ist natürlich auch für andere ersichtlich, wer für wen seine Stimme abgibt. Wahlbeobachter laufen zwar durch die Räume, doch sie räumen nur hin und wieder die Tische auf, werfen Flugblätter weg, bevor die nächsten Wähler wieder welche mitbringen und liegen lassen – teilweise mit Absicht, um Unentschlossene bei der Stimmabgabe zu beeinflussen.
* * *
Seit der Gründung der Islamischen Republik Iran 1979 haben 34 Wahlen stattgefunden. Doch was bedeuten Wahlen in einem politischen System wie dem der Islamischen Republik? Ist der Gottesstaat, wie er häufig genannt wird, nun eine Theokratie oder eine Demokratie? Ist das System islamisch oder republikanisch? Was bedeutet eine Wahlbeteiligung von meist über 60 Prozent für eine Theokratie? Häufig hört man, die Wahlen in Iran hätten keine Bedeutung, weil sie nicht demokratisch seien. Aber warum überraschen die Ergebnisse dann immer wieder? Wenn die Wahlen in Iran jedoch demokratisch, also geheim und frei sind, warum werden dann so viele Kandidaten nicht zur Wahl zugelassen und manche Präsidentschaftskandidaten seit mehreren Jahren unter Hausarrest gestellt?
All diese Widersprüchlichkeiten entstehen, weil das politische System der Islamischen Republik theokratische und demokratische Eigenschaften in sich vereint. Es existieren in ihr direkt gewählte, demokratisch legitimierte Institutionen neben solchen, die von staatlichen Stellen legitimiert werden und Einfluss auf die vom Volk gewählten Einrichtungen ausüben. Zwar gibt es in jedem politischen System gewählte und nicht gewählte Institutionen. Auch in Demokratien wird weder die Führung der Justiz noch die des Militärs von der Bevölkerung gewählt. Der Einfluss nicht gewählter Institutionen auf die Arbeit der demokratisch legitimierten Regierung ist in Iran jedoch vergleichsweise groß. So können vor allem die Justiz und der Sicherheitsapparat (Militär, Geheimdienste, Polizei etc.) die Regierungsarbeit konterkarieren. Man unterscheidet in Iran zwischen der Regierung und der sogenannten Systemelite, die aus den etwa 30 bis 40 einflussreichsten Akteuren in Politik, Geistlichkeit und Militär besteht. Manche sind derzeitige Amtsträger in offizieller Funktion, andere waren früher im Staatswesen tätig und sind aufgrund ihrer Autorität weiterhin politisch relevant. Für jede Regierung in der Islamischen Republik ist es daher wichtig, ein gutes Verhältnis zu den wichtigsten Personen der Systemelite zu pflegen. Denn neben dem Rückhalt in der Bevölkerung braucht die Regierung auch deren Unterstützung.
Daraus entsteht ein Spannungsfeld zwischen den politischen Kräften, die die demokratisch legitimierten Einrichtungen der Islamischen Republik stärken wollen, und jenen, die die unantastbare Position nicht gewählter Institutionen befürworten. Die Islamische Republik Iran befindet sich so in einem ständigen Tauziehen zwischen Demokratie und Theokratie.
Die Verfassung Irans sieht vor, dass vier politische Institutionen vom Volk direkt gewählt werden: der Staatspräsident, das Parlament, der Expertenrat und die Kommunal- und Stadträte. Die Kommunal- und Stadträte (shora-ye shahr) stellen auf lokaler Ebene die unterste Stufe des politischen Systems Irans dar. Ihre Geschichte reicht bis an den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück, als im Zuge der Konstitutionellen Revolution 1905 bis 1907 das erste Parlament im Nahen und Mittleren Osten entstand. Seither wurde die Funktion dieser Räte mal ausgesetzt, mal abgeschafft, erneut ins Leben gerufen und so fort. So hat man während des Iran-Irak-Krieges (1980–88) die Kommunal- und Stadtratswahlen ausgesetzt, sie aber 1998 wieder eingeführt.
Alle vier Jahre werden lokale Politiker in diese Räte gewählt. Als Kommune gilt etwa ein einzelnes Dorf oder aber der Bezirk einer größeren Stadt. Ähnlich wie in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden kümmern sich diese Räte um lokale Angelegenheiten wie Bildung, Infrastruktur, Gesundheitswesen, Kultur und Regionalwirtschaft. In einem großflächigen Vielvölkerstaat wie Iran mit seinen unterschiedlichsten geografischen Gegebenheiten ist diese lokale Entlastung für eine Zentralregierung sicherlich notwendig. Bemerkenswert ist dabei, dass die iranische Verfassung der Zentralregierung untersagt, Verantwortlichen eines Kommunalrats in lokalen Angelegenheiten Anweisungen zu geben. Im Gegenteil: Die Regierung in Teheran muss sich in regionalen und lokalen Belangen den Kompetenzen der Kommunalräte beugen. Dieser föderale Ansatz bietet den Bürgern die Chance, die Verantwortung für Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, wie z.B. Schulen, Krankenhäuser, Lebensmittelversorgung etc., jenen lokalen Politikern zu übertragen, die mehrheitlich ihre Interessen vertreten, was für ein zentral regiertes Land wie Iran überrascht.
Im Gegensatz zu anderen repräsentativen Institutionen des Systems werden Kandidaten der Kommunal- und Stadträte aber nicht vorher vom Wächterrat geprüft, d.h., zentralstaatliche Stellen haben keinerlei Einfluss darauf, wer kandidieren darf und gewählt werden kann. Bei allen anderen Wahlen auf nationaler Ebene kann der Wächterrat indes Kandidaten ablehnen.
Das Parlament der Islamischen Republik Iran wird offiziell madjles-e shora-ye eslami1 oder kurz madjles genannt. Aus den 31 Provinzen des Landes werden insgesamt 290 Abgeordnete für eine vierjährige Amtszeit in das Parlament gewählt. Entsprechend ihrer Bevölkerungsgröße werden aus den Provinzen mindestens drei (z.B. aus der kleinen Provinz Ilam) und maximal 30 Abgeordnete (aus der bevölkerungsreichsten Provinz Teheran) entsandt. Zwar vertreten die Parlamentarier die Belange ihrer Wahlkreise, es ist jedoch ihre Pflicht, als Abgeordnete des Parlaments nationale Angelegenheiten prioritär zu behandeln. Für die anerkannten religiösen Minderheiten – Juden, Christen und Zoroastrier – werden fünf Sitze im Parlament reserviert, da sie aufgrund ihrer geringen Anzahl an der Gesamtbevölkerung sonst Gefahr laufen würden, nicht genügend Stimmen für ihre Repräsentanten zu erhalten.
Klassische Parteien weisen eine klare innere Struktur auf und verfügen über ein Parteiprogramm. Beides fehlt iranischen Parteien. Der Sprecher des Parlaments, Ali Laridjani, hat dies wiederholt beklagt, wie zuletzt auf einer Pressekonferenz am 1. Dezember 2015, in der er hervorhob, dass die Parlamentswahlen zu sehr auf einzelne Abgeordnete statt auf Parteien fokussiert seien.
Das iranische Parlament besteht somit in erster Linie aus Einzelpersonen, die politischen Strömungen angehören, aber keine gemeinsame und verbindliche Struktur als Parlamentsfraktion haben. Die Regierung kann sich also nicht auf eine Fraktionsdisziplin, wie man sie aus Deutschland kennt, verlassen. Vielmehr muss sie in jeder Frage die Mehrheit der Abgeordneten neu gewinnen. Dem Parlament werden hierbei laut Verfassung vier Funktionen zugesprochen. Bei der Ausübung dieser Funktionen und der Zusammenarbeit mit der Regierung kommt der eigentliche politische Einfluss des Parlaments zur Geltung. Erfolg oder Misserfolg einer jeden amtierenden Regierung hängt also davon ab, ob sich das Parlament bei der Ausübung seiner vier Parlamentsfunktionen regierungsfreundlich oder eher regierungskritisch verhält.
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