EINLEITUNG
von Andreas Hartmann
Der hiermit vorgelegte fünfte Band der Reihe Mythen Europas beschäftigt sich mit Barock und Aufklärung, die sich als Epochenbegriffe schon deshalb nicht klar differenzieren lassen, weil sie ganz unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln entnommen sind – hier die Kunstgeschichte, dort die Literatur- und Philosophiegeschichte. Diese begriffliche Inkonsequenz verweist freilich im vorliegenden Fall auf den interdisziplinären Ansatz der Reihe, die den Spiegelungen von Schlüsselgestalten der europäischen Imagination eben gleichermaßen in Literatur, Bildender Kunst und Musik, aber auch abseits der Elitenkultur etwa in Volksbrauchtum und Flugblattliteratur nachgehen will.
Wie die bereits erschienenen Bände versucht auch dieser, durch die Untersuchung der Vorstellungswelten jener Zeit Schlaglichter auf die sie bedingenden, aber auch von ihnen bedingten historischgesellschaftlichen Kontexte fallen zu lassen.1 Wie sehr solche kulturhistorischen Fragen nach dem Imaginären mittlerweile auch im Mainstream der geschichtswissenschaftlichen Forschung angekommen sind, zeigt die Tatsache, dass sich im Herbst des Jahres 2006 der 46. Deutsche Historikertag in Konstanz – immerhin einer der weltweit größten Wissenschaftskongresse überhaupt – mit dem Thema „Geschichtsbilder“ beschäftigte, worunter die meisten Beteiligten eben nicht optische Bilder und Visualisierungen, sondern mehr oder minder imaginative Vorstellungen von und Erzählungen über Vergangenheit verstanden.
Die im Folgenden vorgestellten Figuren gehören in die Zeitspanne von 1600 bis 1789 – eine Zeit also, in der in vielerlei Hinsicht die Grundlagen dessen gelegt wurden, was sich im 19. Jahrhundert zur „Moderne“ entwickelte. Dies gilt in besonderer Weise für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, die der Historiker Reinhart Koselleck deshalb mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts unter dem Begriff der „Sattelzeit“ zusammenfasste.2 Nicht von ungefähr ist daher bei der Auswahl der Figuren auch ein gewisser Schwerpunkt auf diese Jahrzehnte gelegt. Vieles Wichtige musste übergangen werden: Man denke etwa an ein für die Zeit so charakteristisches Phänomen wie die Hexenverfolgung, die hier aus rein pragmatischen Gesichtspunkten deshalb ausgeklammert bleibt, weil „die Hexe“ als Typus bereits in einem früheren Zyklus der diesem Band zugrunde liegenden Eichstätter Wintervortragsreihe behandelt wurde.3 Es bleibt die Hoffnung, wenn schon keine repräsentative, dann doch eine instruktive Auswahl getroffen zu haben, die Einsichten in einige zentrale Aspekte der behandelten Zeitspanne zu geben vermag.
Das einschneidende politische Ereignis des 17. Jahrhunderts stellt zweifellos der Dreißigjährige Krieg dar, der das Auseinanderbrechen der universalen mittelalterlichen Christianitas in unterschiedliche christliche Konfessionen blutig besiegelte. Wenn es der Schwedenkönig GUSTAV II. ADOLF ist, dem Bernhard R. Kroener den ersten Beitrag des Bandes widmet, dann vor allem deshalb, weil sich hier einmal ein subliterarischer, gerade deshalb aber extrem breitenwirksamer „Vertriebskanal“ politischer Propagandamythen studieren lässt: die Bildpublizistik. Die Umsetzung auch komplexer politischer Zusammenhänge in bildliche Formen mittels Personifikation und Allegorie ist uns weitgehend fremd geworden, ebenso die typologische Deutung der eigenen Gegenwart als Antitypus mythologischer bzw. biblischer Vorbilder. Die Darstellung des charismatischen Gustav Adolf in der hoch entwickelten protestantischen Bildpublizistik bietet diesbezüglich reiches Anschauungsmaterial. Die katholische Seite hatte dem nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Es wird freilich auch deutlich, wie die messianische Übersteigerung der schwedischen Propaganda zunehmend in Widerspruch zu der unerbittlichen Wirklichkeit des Krieges geriet. So gesehen verhinderte nur der frühe Tod des Königs in der Schlacht einen Kollaps der aufgebauten Erwartungshaltungen und Projektionen.
Im Gegensatz zu Gustav Adolf gehört JOHANNES VON NEPOMUK zu jenen Gestalten, die ihre entscheidende imaginative Ausgestaltung erst lange nach ihrem Tod in einer späteren Epoche erfuhren: Als historische Gestalt gehört Nepomuk noch dem Mittelalter an, doch als Heiliger ist er ganz wesentlich ein Produkt der Barockzeit. Franz Matsche verfolgt zunächst den Lebenslauf des Johannes von Nepomuk und analysiert die Ursachen seiner Tötung, die tatsächlich im Rahmen kirchenpolitischer Auseinandersetzungen zwischen König Wenzel IV. und dem Prager Erzbischof zu suchen sind. Diese Realität wird freilich bald von einer wuchernden Legendenbildung verdeckt, die losgelöst von den historischen Tatsachen einen Musterheiligen der katholischen Reform kreiert, der als Verteidiger des Beichtgeheimnisses und Marienverehrer, als gelehrter Prediger, Almosenspender und Wundertäter hervorragt. Als Patron gegen die Gefahren des Wassers und gegen üble Nachrede vermag Nepomuk zudem bis dahin bestehende Lücken im Kreis der himmlischen Nothelfer zu füllen.
Für die jeweiligen Identitätskonstruktionen einer Gesellschaft stets besonders aufschlussreich sind die Bilder vom Anderen, die als positive oder negative Folie dienen können, vor der sich Stärken und Schwächen des Eigenen besonders plastisch darstellen lassen. Die Entstehung der europäischen Kolonialreiche und die Aktivitäten der Handelskompanien gaben genügend Anlass zu solcher Auseinandersetzung. Verena Dolle behandelt in diesem Zusammenhang die Darstellung der Eroberung Mexikos – fokussiert auf das Zusammentreffen zwischen dem Eroberer HERNÁN CORTÉS und dem Aztekenherrscher MOCTEZUMA – in der Literatur des 18. Jahrhunderts, insbesondere auch den Opernlibretti dieser Zeit. Damit ist auch eine Kunstgattung berührt, die eine der genuinsten Leistungen des Barock darstellt. Gerade der freie Umgang mit den historischen Fakten lässt die jeweiligen Intentionen der Autoren deutlich hervortreten. Zwar wird die Person des Cortés vielfach von Schuld reingewaschen, doch wird das Thema durchaus zu einer deutlich auf die Werke der Aufklärer zurückgreifenden Auseinandersetzung mit dem Problem des Kulturkontakts im Allgemeinen, sowie dem Alleinvertretungsanspruch des Katholizismus im Besonderen genutzt. Schon in ihren Titeln, die stets auf die Gestalt Moctezumas Bezug nehmen, zeigen diese Werke, dass die Perspektive des als „edler Wilder“ aufgefassten Opfers eingenommen wird. Erst Spontinis Cortés bricht zu Beginn des 19. Jahrhunderts unter den Vorzeichen des napoleonischen Empire mit dieser Tradition – und weist in seiner Perhorreszierung der aztekischen Opferpraktiken und der damit einhergehenden Stilisierung des Cortés zum zivilisatorischen Kulturbringer auf die imperialistischen Ideologeme der folgenden Jahrzehnte voraus.
In eine ähnliche Richtung weist auch die Vorstellung JAMES COOKS als Heros der Aufklärungszeit durch Karl-Heinz Kohl. Was ihn vor allem zu einem Faszinosum für seine Zeitgenossen werden ließ, waren weniger seine beachtlichen, aber doch ihre Parallelen findenden nautischen Leistungen, sondern die Tatsache, dass er, der aus kleinen Verhältnissen mit unerschütterlichem Fleiß und Disziplin aufgestiegen war, dem aufstrebenden Bürgertum als eine ideale Identifikationsfigur dienen konnte. Abrücken von überkommenen Traditionen, Pragmatismus und Humanität waren die als bürgerlich empfundenen Tugenden, die Cook in den Augen seines Biografen Forster vor allem auszeichneten. Tatsächlich bedeutete die Bekämpfung des Skorbut durch Mitführung von Sauerkraut als Proviant einen erheblichen Fortschritt für die Seefahrt. Sicher verklärt die Darstellung Forsters im Rückblick manches, doch insgesamt hat Cook als Typus des Entdeckers wenig mit den Kolonialheroen des 19. Jahrhunderts gemein.
Dieselben Werte verkörperte, wie der Beitrag von Oliver Lindner zeigt, auch ROBINSON CRUSOE. Wie sehr Defoe mit dieser Gestalt den Zeitgeist getroffen hatte, zeigt der enorme Erfolg des Werkes im Buchhandel ebenso wie die zahlreichen Nachahmungen. Was Robinson von den zahlreichen Helden anderer Abenteuerromane und Seefahrerberichte unterschied, war seine ausgeprägte Leistungsethik, die es ihm erlaubt, die Insel, auf der er gestrandet ist, in eine Welt im Kleinen umzugestalten. Allein dieses Inseldasein Robinsons hielt auch Rousseau für pädagogisch wertvoll und trug so wesentlich dazu bei, dass der zweite und dritte Teil der Robinson-Trilogie aus dem literarischen Kanon verschwanden. Neben der geradezu obsessiven Fokussierung Robinsons auf materiellen Erwerb, der den Wertkanon einer bürgerlichen Mittelschicht reflektiert, spiegelt der Roman ein kolonialistisches Paradigma, in dem es zwar in Gestalt des Freitag auch einen „edlen Wilden“ gibt, die Wilden aber ansonsten ihrem Namen alle Ehre machen und schließlich der verdienten Vernichtung anheimfallen. Selbst die uralte chinesische Hochkultur findet vor den Augen Robinson/ Defoes keine Gnade mehr.
Die Aufklärung findet sich repräsentiert durch die Gestalt des aufgeklärten Monarchen, speziell diejenige der Zarin KATHARINA DER GROSSEN. Ihre im vorrevolutionären Frankreich verbotene Große...