EINLEITUNG
von Betsy van Schlun
Der sechste Band der Mythen Europas gilt dem 19. Jahrhundert. Diese Epoche, die in etwa den Zeitraum von 1789 bis 1918 umfasst – also ihren Anfang in den Umbrüchen der Französischen Revolution nimmt und ihren Auslauf in den Wirren des Ersten Weltkrieges findet –, ist ein Spannungsfeld von Gegensätzen: Revolution gegen Konterrevolution, Eroberungs- gegen Befreiungskriege, Verstand gegen Phantasie, Wissenschaft gegen Kunst, Technologie gegen Natur, die Masse gegen das Individuum. Die Freiheitsbestrebungen und Demokratisierungsprozesse, die ihren Ausgang in der Französischen Revolution hatten, waren gleichzeitig auch immer wieder verbunden mit Regressionen, Tyrannei und Diktatur. Weiterhin rückte die Wissenschaft ins Zentrum, eine Wissenschaft, die sich seit dem 18. Jahrhundert zunehmend in separate Fachwissenschaften spezialisierte. Wachsende Industrialisierung, urbane Ballungsräume und die Massengesellschaft mit ihrer Anonymität schienen den natürlichen Bedürfnissen des Menschen entgegenzulaufen. Schon Jean-Jacques Rousseau hatte in der zunehmenden Zivilisierung eine Gefahr für die menschliche Moral gesehen: Nur in seinem naturverhafteten Urzustand bleibe der Mensch menschlich. Diese Idee lenkte den Blick dann auch auf Völker, die man noch in diesem ursprünglichen Einklang mit der Natur vermutete, auf die exotischen ‚Wilden‘ der Neuen Welt.
Andrerseits eröffneten neue technische Erfindungen wie Dampfmaschine, Eisenbahn, Gaslaterne, Telegraph und Telephon ganz neue Möglichkeiten. Sie überwanden Distanzen und ließen die Welt enger zusammenwachsen – dem wirkte wachsender Nationalismus allerdings gleichzeitig wieder entgegen. Die Maschinen und Apparate machten das Leben komfortabler. Sie beschleunigten aber auch die menschlichen Erfahrungs- und Wahrnehmungsprozesse und führten zu einem neuen Raum- und Zeitverständnis. Jahrhundertealte Traditionen wurden so umgehend hinweggeräumt.
Schreibmaschine und Telephon eröffneten den Arbeitsmarkt für den weiblichen Teil der Bevölkerung und mit den ersten Emanzipationsansätzen veränderte sich auch das Bild der Frau. Die emanzipierte Frau, vor allem die sexuell emanzipierte, wirkte bedrohlich. Im Gegenzug zu diesem neuen Frauenbild verkörperte das Bild der tugendhaften Hausfrau und Mutter die traditionellen Werte. Eine Dominanz männlicher Schlüsselfiguren ist im vorliegenden Band nur allzu offensichtlich. Dass weibliche Figuren wie Salomé, Judith, Lilith, Medusa, Pandora, Venus oder die Vampirin, die einen prägenden Einfluss auf die Epoche ausübten, hier nicht in ihrer individuellen Eigenständigkeit gewürdigt werden, liegt daran, dass sie unter dem Motiv der femme fatale zusammengefasst wurden – eine programm-strategische Überlegung, die es ermöglichte, einige Figuren mehr aufzunehmen als der begrenzte Rahmen der Reihe es üblicherweise zulässt. Ob diese Erklärung das Ungleichgewicht rechtfertigt, mag dahingestellt bleiben.
Das 19. Jahrhundert läutete die so genannte „Moderne“ ein, eine Zeit, welche die Lebensumstände der Menschen entscheidend veränderte und teilweise zu einer tiefen Zerrissenheit und Entfremdung führte. Viele der hier behandelten Schlüsselfiguren vereinen in sich Gegensätze und wirken so in sich gespalten. Hier deutet sich ein ‚Zerbrechen‘ in der modernen Zeit an, das sich bis ins 20. Jahrhundert hin noch steigern sollte.
Barbara Beßlich zeigt, wie NAPOLEON zu einer europäischen Größe hochstilisiert wurde. Sie spannt den Bogen der deutschen Mythisierung von der Zeit der Befreiungskriege und dem Vormärz bis hin zum Dritten Reich und enthüllt dabei ein Napoleonbild, das zwischen revolutionärem Heros und Dämon, Heiland und Höllensohn, schöpferischem Genie und „Weltzertreter“, Symbolfigur des Liberalismus und machtgierigem selbstgekröntem Kaiser wechselt. Für ihre Untersuchung stützt sie sich in erster Linie auf die Literatur, von Hölderlins Unsagbarkeitstopos über die napoleonfeindlichen Schriften von Arndt, Fichte, Kleist und Hoffmann bis hin zu Heines verklärender Ballade von den beiden Grenadieren und schließlich Nietzsches Invertieren des vormärzschen Napoleons zum Anti-Bürger. Dabei zeigt sie, wie das Medium Literatur „Teil der kulturellen Sinnproduktion“ einer Gesellschaft und ihres nationalen Selbstverständnisses ist.
Den Künstler-Mythos BEETHOVEN verfolgt Angelika Corbineau-Hoffmann von der Französischen Revolution bis in die Wirren des Ersten Weltkrieges. Sie entwickelt ihn aus Beethovens Musik heraus, genauer aus der Fünften Symphonie, der so genannten Schicksalssymphonie: In dieses Werk habe Beethoven sein persönliches Schicksal hineinkomponiert – die Schicksalsschläge wie deren Überwindung, den leidenden Menschen wie den trotzenden Künstler. Die Komposition als solche definiert die Autorin als Imagination, und die Imagination als „die Fähigkeit zur andersartigen Anordnung des Vorgefundenen“, als die Fähigkeit, Einzelteile zu einem Ganzen neu zusammenzufügen. Somit wird dann auch der Mythos Beethoven in letzter Konsequenz zu einer ‚Komposition‘ der Fakten seines Lebens und seines Schaffens, die zu einem neuen Bild zusammengefügt und bis ins Göttliche überhöht werden.
An der Figur FRANKENSTEIN zeichnet Joachim Schummer die Evolution des Topos vom „verrückten Wissenschaftler“ (mad scientist) nach, vom Alchemisten bis zu Mary Shelleys Romanhelden. Er ergründet den literarischen Topos exemplarisch quer durch die europäische Literatur hindurch: durch die Werke Chaucers, Godwins, Goethes, Turgenews, Balzacs und Dumas’, bis hin zu den amerikanischen Romantikern Poe und Hawthorne. Er deckt aber auch auf, dass Frankenstein die Wissenschaftsgeschichte verkörpert: die Entwicklung der Epochen der Wissenschaft, von den Alchemisten über Descartes bis hin zum modernen, empirischen Chemiker.
Als ein Mythos der Freiheit bewegt sich GARIBALDI vorzugsweise zwischen Italien und Südamerika. Als „Apostel der Freiheit“ hatte er gegen die Fürsten eines politisch zersplitterten Italiens revoltiert und für ein geeintes republikanisches Italien gekämpft; anschließend kam er als Flüchtling nach Brasilien. Hier wurde er zur Symbolfigur der Freiheit und Unabhängigkeit der Völker. Doch der Befreier gerät zeitweise auch zum Unterdrücker derer, die er eigentlich befreien will, und er endet schließlich verbittert und in Abgeschiedenheit. Mythisiert wird Garibaldi schon zu Lebzeiten, sogar seine Niederlagen werden zu Siegen umgedeutet und seine spektakuläre Flucht vor den französischen, österreichischen und bourbonischen Truppen bietet Stoff für einen Heldenroman. Noch zu Lebzeiten wird seine Autobiographie, von seinem Freund Alexandre Dumas romantisch bearbeitet, zu einem Bestseller in Europa. Nach seinem Tod wird der romantische Visionär dann vom italienischen Staat vereinnahmt, zunächst vom Königreich Italien, dann von den Faschisten, Antifaschisten, der Republik und, wie Friederike Hausmann ausführt, bis hin in die Zeit des Irak-Krieges und Libanoneinsatzes.
ARMINIUS mit seinem spektakulären Sieg über die Römer im Teutoburger Wald avanciert schon bei Tacitus zu einer Schlüsselfigur der nationalen Befreiung. Volker Losemann beschreibt die Karriere dieses Freiheitshelden im deutschen kulturellen Gedächtnis. Bei den Frühhumanisten und im Umfeld der Reformation verbinden sich mit der Figur Arminius antirömische Effekte und die Idee einer Befreiung von Rom, also von Papst und katholischer Kirche. Bei Klopstock wiederum wird der Freiheitsheld zum „aufgeklärten Diener seines Volkes“ und im Kontext der napoleonischen Befreiungskriege wird die römisch-germanische Auseinandersetzung mit dem Kampf gegen Napoleon synchron gesetzt. Auch die nationale Kunst des 19. Jahrhunderts greift auf Arminius zurück, wie beispielsweise in dem Großprojekt des Hermanns-Denkmals, und nutzt die Figur als Impuls für die Reichsgründung. Schließlich mündet die Karriere des Freiheitshelden Arminius in seiner Vereinnahmung durch die Völkischen.
Dem Mythos des EDLEN WILDEN geht Karsten Fitz am Beispiel der Indianer nach. In der deutschen Wahrnehmung manifestiert er sich besonders in der Figur Winnetous. Auf frühen Entwürfen Rousseaus fußend und beeinflusst von den Indianer-Bildern Karl Bodmers, welche die Vorstellung einer aussterbenden Reiterkultur propagierten, entwirft Karl May das romantisierte Bild seines Indianerhäuptlings, der als eine Schlüsselfigur der Tugend die deutsche Imagination prägen sollte. Winnetou wie auch andere deutsche Indianerdarstellungen entlarvt Fitz als europäische Projektionsfläche und als zutiefst deutsch. Der berühmte Apache ist gar kein Indianer, er ist vielmehr eine Idee, eine Geburt der nationalen Phantasie, ein „deutscher Traum“. Das Phänomen des „edlen Wilden“ konsolidiert sich durch die Dichter, Schriftsteller und ‚ethnographischen‘ Maler in Text und Bild, es wird nationalisiert und durch die Massenpresse sowie...