In diesem Kapitel ist es das Ziel, ein Konzept der Ernährung herauszuarbeiten, welches es ermöglicht, Ernährung als ein Wissensgeflecht zu denken, das sich vor allem sprachlich manifestiert und dadurch einer linguistischen Untersuchung zugänglich wird. Diese Theoretisierung der Ernährung als ein wissenssoziologisches Konzept stellt somit den ersten Schritt zur Beantwortung der methodischen Leitfrage dar. Dabei interessiert zuerst, welche Wirklichkeit gemeint ist, wenn es um eine Ernährungs-Wirklichkeit gehen soll (2.1.1). Sodann muss der Frage nachgegangen werden, in welchem sprachtheoretischen Rahmen eine solche Wirklichkeit diskurslinguistisch gefasst werden kann (2.1.2) und schließlich, wie der Zusammenhang zwischen sprachlich konstituiertem, gesellschaftlichen Wissen und der Ernährungs-Wirklichkeit gedacht werden könnte (2.1.3).
Für die Zwecke dieser Arbeit erscheint mir die Wissenssoziologie, wie sie Berger / Luckmann (2010) begründet haben, als zielführend, weil ihre Grundannahme ist, wie es der Titel ihres Buches bereits verrät, dass Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist und zwar in Form von Wissen, denn Wissen wird „in gesellschaftlichen Situationen entwickelt, vermittelt und bewahrt […].“ (Berger / Luckmann 2010: 3) Dieses Wissen und die Prozesse, die diese Wirklichkeit konstituieren, sind beschreibbar. Bei diesem Ansatz handelt es sich um keine Ideologiekritik, wie sie Karl Marx oder Karl Mannheim betrieben haben, sondern ist er ein deskriptiv-analytischer, in dem Wissenssysteme untersucht werden – das Wissen in seiner empirischen Vielfalt und in seiner Genese sowie in den Ursachen der Genese (Berger / Luckmann 2010: 18).
Nun soll es in dieser Arbeit um das Wissen um Ernährung gehen bzw. im späteren Verlauf in exemplarischer Form um das Wissen um Milch und man kann fragen, auf welcher Ebene der Wirklichkeit Ernährung anzusiedeln ist? Bereits in der Einleitung wurde betont, dass Ernährung etwas ist, das uns alltäglich beschäftigt und in seiner Wirklichkeit als sehr wahr wahrgenommen wird. Und so bietet es sich an, sie in der Wirklichkeit der Alltagswelt zu verorten – als der „obersten Wirklichkeit“, wie sie Berger / Luckmann (2010: 24) bestimmen, die unter allen anderen Wirklichkeiten eine Vorrangstellung hat. Die Anspannung des Bewusstseins ist in der Alltagswelt am stärksten, sie
installiert sich im Bewußtsein in der massivsten, aufdringlichsten, intensivsten Weise. In ihrer imperativen Gegenwärtigkeit ist sie unmöglich zu ignorieren, ja, auch nur abzuschwächen. […] Dieser vollwache Zustand des Existierens in und des Erfassens der Wirklichkeit der Alltagswelt wird als normal und selbstverständlich von mir angesehen, das heißt, er bestimmt meine normale, ‚natürliche‘ Einstellung. (Berger / Luckmann 2010: 24)
In diesem Zitat deutet sich etwas an, das im weiteren Verlauf der Arbeit und in Zusammenhang mit Mentalitäten von zentraler Bedeutung werden wird: Die Selbstverständlichkeit des Alltagswissens, welches unbewusst und unhinterfragt von einer Gesellschaft (oder präziser für unseren linguistischen Fokus: Sprachgemeinschaft) sowohl gewusst als auch immer wieder (vor allem durch Sprachhandlungen) konstituiert wird. Und hierin zeigt sich bereits die Anschließbarkeit einer so konzipierten Wissenssoziologie an die (linguistische) Mentalitätsgeschichte, in der es darum geht, eben jenes selbstverständliche Wissen, das sich in selbstverständlich gewordenen Denk-, Fühl- und Wollensweisen zeigt, zu beschreiben.
Die Alltagswelt wird durch „jedermanns Gedanken und Taten“ und als „wirklicher Hintergrund subjektiv sinnhafter Lebensführung von jedermann hingenommen.“ (Berger / Luckmann 2010: 21–22) Sie stellt sich als intersubjektive Welt dar, die Menschen miteinander teilen. Eben jene Intersubjektivität trennt die Alltagswelt scharf von den anderen Wirklichkeiten. In meiner Traumwelt beispielsweise bin ich alleine und sie ist eben traumhaft, aber meine Alltagswelt, dessen bin ich mir sicher, ist für andere ebenso wirklich wie sie es für mich ist (Berger / Luckmann 2010: 25). Die Alltagswelt bedarf in ihrer Selbstverständlichkeit keiner Verifizierung, wenngleich es sich auch beim Alltagswissen um gesellschaftliche Aushandlungsprozesse handelt und ein Feld des vertretbaren Sprechens mit gesellschaftlich akzeptablen und inakzeptablen Diskurspositionen aufgebaut wird. Dieses Wissen formt die Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkweisen, den Habitus, ohne, dass es sich hierbei um einen bewussten Prozess handeln muss. Die Wissenssoziologie „darf ihr Interesse nicht nur auf die empirische Vielfalt von ‚Wissen‘ in den menschlichen Gesellschaften richten, sondern sie muß auch untersuchen, auf Grund welcher Vorgänge ein bestimmter Vorrat von ‚Wissen‘ gesellschaftlich etablierte ‚Wirklichkeit‘ werden konnte.“ (Berger / Luckmann 2010: 3) Auch hier ist der Anschluss an eine Linguistische Mentalitätsgeschichte als Diskursgeschichte recht problemlos, da diese in ihrem diskurslinguistischen Analyseansatz das zeitliche und räumliche Erscheinen von Aussagen im Sinne einer „Positivität“, wie es Foucault genannt hat, untersucht und die Frage nach den „Möglichkeitsbedingungen“ von Aussagen stellt: „Wie kommt es, das [sic!] eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (Foucault [1969] 1981: 42).
Wie aber wird Wissen zur gesellschaftlich selbstverständlichen Wirklichkeit? Die Wirklichkeit der Alltagswelt konstituiert sich für den Einzelnen durch „Objektivationen“ (Berger / Luckmann 2010: 22ff.). Das sind Vergegenständlichungen subjektiv sinnvoller Vorgänge, aus denen die intersubjektive Welt entsteht – womit im Grunde die gesellschaftliche Herstellung von Sinn gemeint ist: Man hat den Eindruck, dass die Wirklichkeit ist und zwar für alle. Ein besonders wichtiger Fall von Objektivation ist die Sprache als Zeichensystem. Sie ermöglicht eine gewisse Dauer durch die Versprachlichung von Objektivationen, entkoppelt den Ort, aber auch die Zeit und das konkrete Erlebnis, indem man über etwas sprechen kann, das man selbst nicht erlebt hat:
Das menschliche Ausdrucksvermögen besitzt die Kraft der Objektivation, das heißt, es manifestiert sich in Erzeugnissen menschlicher Tätigkeit, welche sowohl dem Erzeuger als auch anderen Menschen als Elemente ihrer gemeinsamen Welt ‚begreiflich‘ sind. Objektivationen durch Ausdruck sind mehr oder weniger dauerhafte Indikatoren subjektiver Empfindungen. Sie ermöglichen deren ‚Begreifbarkeit‘ über die Vis-à-vis-Situation, in welcher sie unmittelbar erfaßt werden können, hinaus. (Berger / Luckmann 2010: 36–37)
Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist durchdrungen von Objektivationen bzw. sie ist nur aufgrund dieser Objektivationen wirklich, denn sie ist vor allen anderen Wirklichkeiten leben mit und mittels der Sprache und so ist das Verständnis des Phänomens Sprache „entscheidend für das Verständnis der Wirklichkeit der Alltagswelt.“ (Berger / Luckmann 2010: 39) Hierin zeigt sich erneut die Relevanz für die (kulturanalytische) Linguistik, die in einem solchen Verständnis qua definitionem über das Handwerkzeug verfügt, dazu beizutragen, (Sprach)Wirklich-keiten besser zu verstehen. Indem die Sprache das Hier und Jetzt transzendieren kann, ist sie in der Lage, die verschiedenen Zonen der Alltagswelt zu überbrücken und sie zu einem sinnhaften Ganzen zu integrieren: „Kurz gesagt, durch die Sprache kann eine ganze Welt in einem Augenblick ‚vorhanden‘ sein.“ (Berger / Luckmann 2010: 41) Umgekehrt, so lässt sich ergänzen, kann sie aber auch ganze Welten verschwinden lassen bzw. unsichtbar machen, indem absichtlich sprachlich nicht objektiviert wird. Die Summe der Objektivationen um ein Thema, eine Tätigkeit usw. bildet ein semantisches Feld, das die Routineereignisse sinnhaft ordnet. In solchen semantischen Feldern wird der gesellschaftliche Wissensvorrat gespeichert und weitergegeben und ermöglicht somit „die ‚Ortsbestimmung‘ des Individuums in der Gesellschaft und seine entsprechende ‚Behandlung‘.“ (Berger / Luckmann 2010: 43)
Sicherlich gilt das nicht nur für das Individuum, sondern hat für alle Lebewesen und auch Dinge Gültigkeit, indem beispielsweise das semantische Feld um Milch die Behandlung von Kühen festschreibt und ihren Ort, der in den Industrienationen heute fast vollständig in Tierfabriken liegt, die, wie es Foucault (1976) für das Gefängnis beschrieben hat, allein schon geographisch aus der Alltagswelt vollständig ausgegliedert sind und selbst bei größter Anstrengung ist es so gut wie unmöglich, diesen Ort zu besichtigen.[5] Die Produktionsprozesse der Milch und auch die Tatsache, dass es sich um eine tierische Flüssigkeit handelt, scheinen in der Wirklichkeit der Alltagswelt immer weniger sprachlich objektiviert zu werden. So kommt es zu einer Entkopplung von Kuh und Milch, zur Entkörperlichung und Entfremdung: Die säuberlich eingeräumte Milchpackung im Supermarkt mit ihren verschiedenen Fettgehalten und Haltbarkeiten erinnert kaum mehr an die Kuh – der Ort der Kuh liegt innerhalb des...