VORWORT
MERKEL – EIN SCHEINRIESE
»Sie kennen mich« – mit diesem Satz warb Angela Merkel vor vier Jahren für ihre Wiederwahl. Doch wer ist Merkel wirklich? Was sind ihre Überzeugungen, was ist Opportunismus? Die Kanzlerin ist eine verschlossene Politikerin, sie bleibt vielen Beobachtern rätselhaft. Was sie denkt, wissen nur wenige Vertraute. Über ihre frühe Biographie ist kaum etwas bekannt. 1989 tauchte sie scheinbar aus dem Nichts auf der politischen Bühne auf, machte eine Blitzkarriere, die sie ins wichtigste Regierungsamt der Republik geführt hat. In ihrer Partei gilt sie heute als »alternativlos«. Doch was sind ihre Verdienste, was waren ihre größten Fehler? Die Meinungen darüber gehen weit auseinander.
Merkels politische Karriere erscheint im Rückblick unglaublich. Geboren wurde sie 1954 in Hamburg als Angela Kasner, Tochter eines Pfarrers, der mitsamt Familie in die DDR überwechselte. Dort konnte sie Physik studieren und arbeitete an der Akademie der Wissenschaften. Im Wendejahr 1989 wurde Merkel auf die politische Bühne katapultiert. 1990 trat sie in die CDU ein, schon zwei Jahre später saß sie als Kohls »Mädchen« im Bundeskabinett. Ende 1999 hat Merkel in der Spendenaffäre den politischen Ziehvater vom Sockel gestoßen, ist kurz darauf an die Spitze der CDU aufgestiegen. Seit 2005 amtiert Merkel als Bundeskanzlerin. Schon fast zwölf Jahre lang sitzt sie nun im Kanzleramt. Kein anderer Regierungschef der westlichen Welt hat sich in der stürmischen Zeit seit der Finanz-, Schulden- und Euro-Krise so lange halten können. Wird sie im September 2017 wiedergewählt, könnte Merkel an die 16 Jahre Amtszeit Kohls heranreichen. Adenauer hätte sie an Amtsjahren übertroffen.
Für ihre Fans ist Merkel eine Lichtgestalt. Sie sei die »letzte Verteidigerin des liberalen Westens«, schrieb die New York Times nach der Wahl Donald Trumps. Die Brüsseler Ausgabe des Internetmagazins Politico verstieg sich zur Überschrift, Merkels neuer Job sei »global savior« (globaler Heiland). Solch überzogene Erwartungen sind gefährlich, denn zwischen Schein und Sein klafft eine Lücke. Je mehr man Merkels politisches Wirken näher untersucht, desto brüchiger wird der Heiligenschein, desto mehr schrumpft die Riesengestalt. Merkel ist ein Scheinriese, eine gewiefte, aber überschätzte Politikerin.
Lässt man die Merkel-Jahre Revue passieren, findet man reihenweise planlose, undurchdachte Entscheidungen und abrupte, opportunistische Wenden – mit gravierenden Konsequenzen für Deutschlands gesellschaftliche Stabilität und Wohlstand. Das von ihren Spin Doctors gezeichnete Bild einer Kanzlerin, die alle Dinge »vom Ende her denkt«, die quasi kühl-naturwissenschaftlich die Konsequenzen, Chancen und Risiken abwägt, ist Fiktion. Vielmehr hat Merkel in entscheidenden Phasen – in der Euro-Krise, bei der Energiewende und in der Asylkrise – ohne Plan gehandelt. Sie fuhr in der Euro-Krise »auf Sicht« und hat sich verirrt. Bei der Energiewende hat sie sich von Ängsten in Medien und Bevölkerung leiten lassen. Und nicht zuletzt bei der Migrationskrise hat sie kopflos gehandelt und ganz Europa ein gewaltiges Problem aufgeladen.
In diesem Buch nähern sich renommierte Wissenschaftler und Publizisten dem Phänomen Merkel in seinen verschiedenen Facetten. Es ist eine differenzierte, ehrliche Analyse ihres Wirkens. Die Autoren entstammen einem liberal-konservativen intellektuellen Milieu, sind eigentlich Sympathisanten einer bürgerlichen Regierung, einige sind CDU-Mitglieder. Doch ihre Irritation ist groß. Durch abrupte Kehrtwenden und die Verschiebung der Union weit nach links hat Merkel zur Entfremdung weiter Teile des klassischen Bürgertums von der CDU beigetragen. Die vorliegende Merkel-Bilanz ist somit auch ein Dokument der Enttäuschung der konservativen und liberalen Kreise über ihre Kanzlerin.
Der Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz befasst sich im ersten Text des Bandes mit dem politischen Stil der Kanzlerin. Ihre modische Unauffälligkeit, ihre kolportierte Uneitelkeit, ihr Fleiß und intelligenter Opportunismus, die Rolle als »Mädchen« in Kohls Kabinetten, das von allen Konkurrenten unterschätzt wurde, die Merkel-Raute als Erkennungszeichen, die vage Rhetorik, das »Schweigen als Waffe«, der Mythos der Naturwissenschaftlerin – all dies sind für Bolz Elemente des merkelschen Erfolgsrezepts. Er zeigt, dass die Kanzlerin einen autoritären Politikstil betreibt, der nicht auf einem offenen, demokratischen Diskurs beruht, sondern auf der Verweigerung von Debatten.
Europa, Deutschland und ihre Partei gespalten
Ein Dauerbegleiter von Merkels Kanzlerschaft war und ist die Euro-Krise. Das Projekt der europäischen Einigung hat tiefe Risse bekommen. Dazu hat die deutsche Regierungschefin maßgeblich beigetragen. Die Bundesrepublik ist de facto Zahlmeister, wird aber im Süden der EU wie ein Zuchtmeister wahrgenommen. Noch folgenreicher war Merkels Alleingang in der Flüchtlingskrise. Er hat nicht nur Europa gespalten, wie mehrere Autoren dieses Buches kritisieren, sondern auch das Brexit- Lager in Großbritannien zum Erfolg geführt, wie der Londoner Politikwissenschaftler Anthony Glees zeigt. Mit dem Brexit verliert Deutschland in Europa einen seiner wichtigsten Verbündeten. Während Merkel auf Dutzenden Gipfeltreffen darum kämpfte, das kleine, periphere Griechenland an Bord zu halten, zeigte sie den Briten die kalte Schulter.
Die Flüchtlingskrise 2015/2016 ist die eigentliche Zäsur ihrer Kanzlerschaft. Von »Merkel-Dämmerung« war plötzlich die Rede. Die CDU hat danach in mehreren Landtagswahlen Niederlagen erlitten. Schon zuvor hat es Merkel zugelassen, dass eine Partei rechts der Union aufsteigt: Die AfD gründete sich als Protestpartei gegen Merkels Euro-Politik, den richtigen Schub bekam sie aber erst durch ihre Flüchtlingspolitik. Dadurch zeichnet sich eine langfristige tektonische Verschiebung der parteipolitischen Landschaft ab, analysiert der Politologe Werner Patzelt.
Mit ihrer Politik der anfangs unbegrenzten Aufnahme von Migranten hat Merkel nicht nur Deutschland und die Unionsparteien, sondern ganz Europa gespalten, wie die Journalisten Andreas Unterberger und Boris Kálnoky beschreiben. »Merkel, die bis dahin als nüchterne, gefühllose Pragmatikerin gegolten hatte, wurde in Mittelosteuropa zum Inbegriff überheblich moralisierender Inkompetenz am Steuer des mächtigsten Landes in Europa«, schreibt Kálnoky. Während die Balkanländer die Hauptroute der Migranten schlossen, was Merkel kritisierte, fädelte sie etwas später den umstrittenen Deal mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Erdoğan ein. Seither ist Deutschland abhängig von einem autoritären Neo-Sultan.
It’s the economy, stupid
Wahlen werden oft mit Wirtschaftsthemen gewonnen oder verloren. »It’s the economy«, sagte einmal ein Berater des früheren amerikanischen Präsidenten Bill Clinton. Auch die CDU verweist im Wahljahr 2017 auf die angeblich bärenstarke Wirtschaftsbilanz der Kanzlerin. Wir leben in einer »Boomdesrepublik Deutschland«, schrieb die »Bild«-Zeitung im April. Anders als im Rest Europas ist die Arbeitslosenquote hierzulande niedrig. Deutschland gleicht einer Insel der Seligen inmitten eines Meeres von Schulden, Arbeitslosigkeit und stagnierenden Einkommen. Die Stärke Deutschlands wird im Ausland bewundert – und gefürchtet. Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron nannte sie im Wahlkampf »unerträglich«.
Nur ist die Frage, was an dieser starken Wirtschaftslage Merkels Verdienst ist. Henning Klodt und Stefan Kooths vom Kieler Institut für Weltwirtschaft zeigen, dass Merkel vor allem von der Arbeit der Vorgängerregierung profitierte. Das »Beschäftigungswunder« ist größtenteils den Reformen ihres Vorgängers, der »Agenda 2010« Gerhard Schröders, zu verdanken, der dafür mit dem Amtsverlust bezahlte. Hinzu kommt die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Die Nullzins- und inzwischen sogar Negativzinspolitik gibt der Konjunktur einen Extraschub, den Sparern aber bringt sie jedes Jahr Milliarden-Einbußen.
Die Euro-Krise ist zudem längst nicht überstanden, wie der britische Währungsexperte David Marsh schreibt. Griechenland bleibt das Sorgenkind des Euroraums. Bei realistischer Betrachtung wird ein Großteil der an das Land vergebenen Hilfskredite abzuschreiben sein. Das kostet Deutschland einen zweistelligen Milliardenbetrag. In der Krise hat sich der Charakter der Währungsunion schleichend gewandelt: zu einer Haftungsunion.
Als die widerstrebenden Deutschen von Kanzler Helmut Kohl in die Währungsunion geführt wurden, beschwor man das »No-Bailout«-Prinzip als Sicherung gegen eine Schulden- und Transferunion: »Was kostet uns der Euro?«, hieß es auf einem inzwischen legendären CDU-Wahlplakat zur Europawahl 1999. »Muss Deutschland für die Schulden anderer Länder aufkommen? – Ein ganz klares Nein.« Aufgrund der Maastricht-Stabilitätskriterien könnten »die Euro-Teilnehmerstaaten (…) auf Dauer ohne Probleme ihren Schuldendienst leisten«. Soweit das Versprechen. Heute kann man darüber nur lachen – oder weinen.
Die Kanzlerin leistete in der Euro-Krise zwar Lippenbekenntnisse zum »No-Bailout«-Prinzip. Faktisch hat es aber doch eine Vergemeinschaftung der Schulden gegeben, wie David Marsh schreibt. Zum einen über die Rettungskredite, zum anderen über das Target-Zahlungssystem, eigentlich ein bloßes Zahlungsabwicklungssystem der Notenbanken, das aber seit Ausbruch der Euro-Krise für gigantische Überziehungskredite der Südländer genutzt wird. Im Frühjahr 2017 überstiegen die Target-Schulden der Krisenländer mehr als eine Billion Euro, die deutschen Target-Forderungen belaufen sich auf mehr...