Historische Einführung
An Migräne leidet eine beträchtliche Zahl von Menschen, sie tritt in allen Zivilisationen auf und ist bekannt, seit Geschichte schriftlich überliefert wird. Geißel, aber auch Antrieb nach Auffassung Caesars, Pauls, Kants und Freuds, ist sie tägliches Faktum im Leben von Millionen anonymer Menschen, die im verborgenen und schweigend leiden. Ihre Formen und Symptome sind, wie Burton dies über die Melancholie schreibt, «keiner Regel unterworfen, dunkel und unverständlich, vielfältig und so zahllos, Proteus selbst kann nicht vielgestalter sein». Ihr Wesen und ihre Ursachen stellten Hippokrates vor Rätsel und sind seit zweitausend Jahren Diskussionsthema.
Die wesentlichen klinischen Merkmale der Migräne – ihr periodisches Auftreten, ihr Zusammenhang mit Charakter und Lebensumständen, ihre körperlichen und emotionalen Symptome – sind seit dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gut bekannt. So beschreibt sie der griechische Arzt Aretaios aus Kappadokien unter dem Namen Heterokranie wie folgt:
Und in bestimmten Fällen schmerzt der ganze Kopf, und der Schmerz ist manchmal auf der rechten Seite und manchmal auf der linken Seite, oder in der Stirn oder der Fontanelle; und solche Attacken ändern ihren Ort während desselben Tages … Man nennt dies Heterokranie, eine keineswegs leichte Krankheit … Sie verursacht quälende, schlimme Symptome … Übelkeit; Erbrechen galliger Stoffe; Zusammenbruch des Patienten … es gibt viel Starrheit, Schwere des Kopfes, Angst; und das Leben wird zur Last. Denn die Kranken fliehen das Licht; die Dunkelheit lindert ihre Leiden; sie können es auch nicht ohne weiteres ertragen, etwas Angenehmes zu sehen oder zu hören … Die Patienten sind des Lebens überdrüssig und möchten sterben.
Während sein Zeitgenosse Pelops die sensorischen Symptome schildert und benennt, die einer Epilepsie vorausgehen können (die Aura), beobachtete Aretaios die analogen Symptome, die bestimmte Migräneformen einleiten: «Blitze purpurner oder schwarzer Farben vor den Augen, oder alles miteinander vermischt, wie um das Erscheinen eines am Himmel ausgespannten Regenbogens darzustellen».
Vierhundert Jahre liegen zwischen den Beobachtungen von Aretaios und den Abhandlungen des Mediziners Alexander von Tralles. Während dieser langen Zeitspanne bestätigten und verfeinerten wiederholte Beobachtungen die einfache und klare Beschreibung des Aretaios, wobei man die Theorien der Antike über das Wesen der Migräne ungeprüft übernahm. Viele Jahrhunderte bestanden die Bezeichnungen heterocrania, holocrania und hemicrania rivalisierend nebeneinander; hemicrania verdrängte die Rivalen und entwickelte sich schließlich über viele Transliterationen zum heutigen Begriff Migräne (engl. migraine oder megrim).
Seit Hippokrates haben zwei theoretische Konzepte das medizinische Denken über das Wesen der Migräne dominiert. Beide gaben noch Ende des achtzehnten Jahrhunderts Anlaß zu ernsthaftem Disput, und beide nehmen sie, inzwischen vielfach umgewandelt, auch heute eine breite öffentliche Zustimmung für sich in Anspruch. Es ist also keineswegs überflüssig, sondern im Gegenteil von größter Wichtigkeit, der Entstehung und Entwicklung dieser beiden klassischen Theorien nachzuspüren. Wir werden sie hier die humoralpathologische und die sympathetische Theorie nennen.
Ein Übermaß an gelber oder schwarzer Galle, so nahm man an, verursache nicht nur allgemeines Unwohlsein, schlechte Laune oder eine verbitterte Lebenseinstellung, sondern auch das gallige Erbrechen und die Magenbeschwerden bei starken Kopfschmerzen. Den Kern dieser Theorie und die Art der Behandlung, die sie nahelegt, finden wir in präziser Formulierung bei Alexander von Tralles: «Wenn der Kopfschmerz, wie dies häufig vorkommt, von dem Überfluß an Galle herrührt, so verordne man Mittel, welche die Galle abführen oder zu beseitigen vermögen.»
Reinigen und Abführen der Gallenflüssigkeit – darin liegt die historische Rechtfertigung zahlloser abgeleiteter Theorien und zum Teil bis heute praktizierter Behandlungsformen. Möglich, daß Magen und Darm überschwemmt sind mit Gallenflüssigkeit: daher seit undenklichen Zeiten die Verabreichung von Brech- und Abführmitteln jeglicher Art. Fettes Essen zieht Galle in den Magen, also muß die Ernährung des Migränekranken spärlich und asketisch sein. Folglich hielt Fothergill, sittenstreng und sein Leben lang an Migräne leidend, folgende Nahrungsmittel für besonders gefährlich: «geschmolzene Butter, fettes Fleisch, Gewürze, heißer gebutteter Toast und starkes, gehopftes Bier …»
Ähnlich glaubte man seit alters und glaubt es immer noch, daß Verstopfung (und somit das Zurückhalten von Galle im Darm) einem Migräneanfall vorausgehen oder ihn auslösen kann. Möglicherweise, so dachte man auch, werde Galle in zu geringen Mengen von der Leber erzeugt (noch heute werden bei Migräne «Leberpillen» jeglicher Art empfohlen) oder in dem Maße reduziert, wie sich ihre Konzentration im Blut erhöhe (Aderlaß war insbesondere im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert als Form der Migränebehandlung en vogue). Es ist keineswegs abwegig, heutige biochemische Herleitungen der Migräne als intellektuelle Ableger des alten Humoralmodells zu betrachten.
Gleichzeitig mit den humoralpathologischen Theorien entstand eine Vielzahl «sympathetischer» Theorien. Sie behaupteten, Migräne entstehe peripher in einem oder mehreren der verschiedenen Bauchorgane (im Magen, Darm, Uterus etc.), von wo aus sie sich dann mittels einer besonderen Form innerer, viszeraler Kommunikation im Körper ausbreite. Diese verborgene Form der Kommunikation, unterhalb der Bewußtseinstätigkeit ablaufend, nannten die Griechen «sympathia» und die Römer «consensus»; ihr schrieb man eine besonders wichtige Rolle bei der Verbindung von Kopf und Eingeweiden zu («mirum inter caput et viscera commercium»).
Thomas Willis erweckte die klassischen Vorstellungen von Sympathie zu neuem Leben und gab ihnen eine exaktere Form. Willis verwarf die hippokratische Vorstellung von der Hysterie als Folge eines unmittelbar physischen Einflusses der Gebärmutter und vermutete statt dessen, daß der Uterus die hysterischen Phänomene über unzählige winzige Bahnen in den Körper ausstrahle. Er erweiterte dieses Konzept auf die Übertragung einer Migräne durch den Körper und auf viele andere mit Anfällen einhergehende Störungen.
Vor dreihundert Jahren veröffentlichte Willis sein Buch ‹De anima brutorum›, in dem er den gesamten Bereich der nervösen Störungen im Überblick darstellte, und ein Abschnitt dieses Werkes («De cephalalgia») muß als die erste moderne Abhandlung über Migräne und auch als der erste entscheidende Fortschritt seit Aretaios gelten. Er sammelte und ordnete eine ungeheure Menge zum großen Teil aus dem Mittelalter stammender Beobachtungen und Spekulationen über Migräne, Epilepsie und andere anfallartige Störungen und ergänzte sie um eigene klinische Beobachtungen von außerordentlicher Genauigkeit und Sachlichkeit. So stammt von ihm die folgende unvergleichliche Beschreibung der Migräne:
Vor einigen Jahren ließ eine höchst vornehme Dame nach mir schicken, die seit mehr als zwanzig Jahren zunächst in Abständen, dann fast ständig an Kopfschmerzen litt … sie war mit dieser Krankheit aufs äußerste gestraft. Von einem Fieber genesen, bevor sie zwölf geworden, befielen sie Kopfschmerzen, die manchmal ganz von selbst und häufiger nach sehr geringfügigem Anlaß auftraten. Das Leiden war nicht auf eine Stelle des Kopfes beschränkt, sondern plagte sie manchmal auf der einen Seite, manchmal auf der anderen, und durchdrang oft den ganzen Kopf. Während des Anfalls (der selten vor Ablauf eines Tages und einer Nacht endete und oft zwei, drei oder vier Tage andauerte) waren ihr Licht, Sprechen, Geräusche und jegliche Bewegung unerträglich. Sie saß aufrecht im Bett, das Zimmer war abgedunkelt, sie sprach mit niemandem, schlief nicht und nahm keinerlei Nahrung zu sich. Gegen Ende des Anfalls schließlich legte sie sich zu einem schweren, unruhigen Schlaf nieder, aus dem erwacht sie sich besser zu fühlen pflegte … Zunächst traten die Anfälle nur hin und wieder auf, und selten war der Abstand kürzer als zwanzig Tage eines Monats, doch später wurden sie häufiger, und in letzter Zeit ist sie selten ohne Beschwerden.
Die Erörterung dieses Falls zeigt, daß Willis die zahlreichen prädisponierenden, erregenden und untergeordneten Ursachen derartiger Attacken genau kennt: « … eine schlechte oder schwache Konstitution … zuweilen angeboren und ererbt … eine Irritation in einem der Gliedmaßen oder in den Eingeweiden … Wechsel der Jahreszeiten, Witterungsverhältnisse, die großen Aspekte von Sonne und Mond, heftige Leidenschaften und falsche Ernährung». Er wußte auch, daß die Migräne ein zwar oft unerträgliches, aber gutartiges Leiden ist:
… Doch obwohl diese Unpäßlichkeit der vornehmen Dame seit mehr als zwanzig Jahren arg zusetzte … ihre Zelte an den Zinnen des Gehirns aufgeschlagen, seine königliche Festung so lange belagert hatte, war es ihr doch nicht gelungen, sie einzunehmen; denn da die Dame nicht zu Vertigo, Schwindel, Krämpfen noch irgendwelchen Anzeichen von Bewußtseinstrübung neigte, waren die wichtigsten Bereiche ihrer Seele durchaus gesund.
Die andere klassische Vorstellung, die Willis wiederbelebte, war die der Idiopathie, der Tendenz zu periodischen und plötzlichen «Explosionen» im Nervensystem....