Im Bereich der möglichen Bedingungen von Schulschwäche können laut Bleidick (1985, nach Lanfranchi 1995) vier sich teilweise konkurrierende Erklärungsansätze unterschieden werden. Bleidick unterscheidet zwischen
Individuumorientierten Ansätzen, die hauptsächlich von einem medizinischen Modell ausgehen, wobei von einem in der individuellen Person lokalisierten „Defekt“ ausgegangen wird. Auch lerntheoretische Ansätze sind letztlich individuumzentrierte Herangehensweisen und beruhen auf Stimulus-Response-Theorien und Theorien des Modelllernens;
Schulsoziologischen Ansätzen, welche Schulschwäche als Konsequenz der Schule als soziale Institution und ihrer Funktionen in der Gesellschaft sehen;
Interaktionistischen Herangehensweisen, welche in Schulschwierigkeiten das Resultat von sozialen Zuschreibungsprozessen und etikettierenden Interaktionen sehen, und dem
Ökosystemischen Ansatz, dem eine mehrperspektivistische Betrachtungsweise zugrundeliegt.
Kronig et al. (2000) sprechen von individuumzentrierten und interaktionistischen Erklärungen sowie von Erklärungen aus Eigengesetzlichkeiten des Schulsystems, aber auch von Erklärungen, die auf gesellschaftlicher Ungleichheit beruhen. Letztere beziehen sich vor allem auf den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg, der bis heute nicht widerlegt werden konnte, und speziell auf Immigrantenkinder bezogen auf die Überlagerung der Variablen „Schicht“, „ethnische Herkunft“ und „Nationalität“. Auch Kronig et al. (ebd.) gehen aber von einer multifaktoriellen Bedingtheit von Schulschwäche bzw. Schulmisserfolg aus, was der oben angesprochenen ökosystemischen Erklärungsweise entspricht.
Gomolla und Radtke (2002) unterscheiden zwischen zwei Perspektiven. Die erste, die ätiologische Perspektive, ist bemüht, die Ursachen für das Schulversagen wie bei einer Krankheit zu ermitteln. Die früher eher biologistische Herangehensweise ist heute durch Sozialisationstheorien ersetzt worden, die „das sozialisatorische Umfeld der Familie, das soziale Milieu, auch die nationale Kultur auf Determinanten des Schulerfolgs oder –misserfolgs absuchen“ (ebd., S. 22). Die zweite Perspektive misst entweder der Eigenlogik und Eigenrationalität von Organisationen oder den Entscheidungsträgern innerhalb dieser Organisationen eine grosse Bedeutung bei der Herstellung von Differenz bezüglich des Schulerfolgs bei. Gefragt wird hier nach der Rolle der Schule als Organisation und nicht nach Faktoren, die ausserhalb der Schule in den familiären Lebensumständen liegen.
In Anlehnung an obige Unterteilungen werde ich die Erklärungsansätze zum schulischen Misserfolg von Immigrantenkindern analytisch in sechs Abschnitte unterteilen, im Bewusstsein, dass sich die einzelnen Begründungsansätze manchmal nicht trennscharf dem einen oder dem anderen Abschnitt zuordnen lassen und sich deshalb Überschneidungen ergeben können. Ich werde deshalb zwischen der individuumorientierten, interaktionistischen, soziokulturellen, organisationsbezogenen bzw. schulsoziologischen und der multifaktoriellen Betrachtungsweise unterscheiden. Es ist aber notwendig, zunächst auf einen Ansatz einzugehen, der den mangelnden Schulerfolg von Immigrantenkindern demographischen Faktoren zuschreibt. Die grundlegenden Fragen sind hier folgende: Lässt sich die Zunahme der ausländischen Kinder in Sonderklassen aus der Zunahme ihrer absoluten Anzahl erklären? Und: Lässt sich die Zunahme der ausländischen Kinder in Sonderklassen durch Veränderungen in der Zusammensetzung der Population erklären?
Wie aus Tabelle 3 ersichtlich wird, haben die Anteile der ausländischen Schüler und Schülerinnen in Sonderklassen innerhalb von 35 Jahren um rund acht Prozent zugenommen, die der Schweizer jedoch sind sich gleich geblieben. Die Erklärung für diese Entwicklung wird oft in der Zunahme der absoluten Anzahl der ausländischen Kinder gesucht. Kronig (1996) hat jedoch in einer statistischen Überprüfung der gesamtschweizerischen Zahlen festgestellt, dass eindeutig nicht von einem kausalen Zusammenhang der Anzahl der ausländischen Kinder in Primarschulklassen und der der ausländischen Kinder in Sonderklassen für Lernbehinderte gesprochen werden kann. Obwohl nämlich in den Jahren 1980-1987 die Anzahl der ausländischen Primarschüler und –schülerinnen sogar rückläufig war, stiegen die Zahlen in den Sonderklassen im gleichen Zeitraum ungebremst weiter. Im Jahr 1991, in dem der Anteil der ausländischen Kinder in den Primarschulen wieder gleich hoch war wie 1980, „hat sich die Zahl dieser Kinder in den Kleinklassen bereits fast verdoppelt“ (ebd., S. 66).
Da der absolute Anstieg der Anzahl der ausländischen Kinder als Grund für die Zunahme derselben in Sonderklassen somit ausscheidet, wird eine weitere demographische Ursache angenommen: nämlich die markante Verschiebung der Immigrationsanteile aus jeweils verschiedenen Regionen.
Wie aus den Abbildungen 2 und 3 ersichtlich ist, haben im Kanton Zürich vor allem die Schüler und Schülerinnen italienischer Staatsangehörigkeit seit 1985 sehr stark abgenommen, dafür hat sich der Anteil der Kinder aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens fast verdoppelt. Die naheliegende Begründung für die Zunahme der ausländischen Schüler und Schülerinnen in Sonderklassen ist nun folgende: Immigranten aus dem ehemaligen Jugoslawien zeichnen sich durch eine grössere „kulturelle Distanz“ bezüglich der Schweiz aus als beispielsweise solche aus klassischen Einwanderungsländern wie Italien und bekunden somit grössere Mühe mit dem hiesigen Schulsystem, oder – dies wird aber nur selten so ausgesprochen – sie sind schlicht weniger intelligent.
Quelle: Volkschulstatistik des Kantons Zürich
Abb. 3:
Verteilung ausländischer Volksschüler und –schülerinnen im Kanton Zürich nach Nationalitäten 1985
Quelle: Schulstatistik des Kantons Zürich
Abb. 4:
Verteilung ausländischer Volksschüler und -schülerinnen im Kanton Zürich nach Nationalitäten im Schuljahr 1999/2000
Unter der Annahme, dass nun den Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien der Erfolg in unserem Schulsystem aufgrund der erschwerten Integration besonders schwer fällt, wäre es logisch, dass ihre Anzahl in den Sonderklassen parallel zu ihrer Anzahl in den Regelklassen ansteigt. Um diese Hypothese zu erhärten, müssten laut Kronig (ebd.) aber bereits früher Kinder aus dieser Region vermehrt in Sonderklassen beschult worden sein und ihr prozentualer Anteil an der Gesamtheit der Ex-Jugoslawischen Kinder müsste sich gleich geblieben sein.
Dies trifft aber so nicht zu. Kronig (ebd.) zeigt, dass Kinder aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens im Vergleich mit anderen Nationen im Jahr 1980 keineswegs einen höheren Anteil in Sonderklassen aufwiesen. Auch blieb der prozentuale Anteil aller Schüler und Schülerinnen aus dem ehemaligen Jugoslawien, die eine Sonderklasse besuchen, nicht gleich, sondern erhöhte sich innerhalb von 14 Jahren (1980-1994) um den Faktor 2.7. Dies bedeutet, dass auch Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien im Vergleich zu früher vermehrt ausgesondert werden. Kronig (ebd., S. 68) folgert deshalb, dass „das Ausmass der Intensivierung von Kleinklassenüberweisungen ausländischer Kinder (...) bislang nicht in direkten Zusammenhang mit der Verschiebung der Immigrationsanteile oder mit der Anwesenheit neuer Kulturen in den Primarklassen gebracht werden“ kann.
Allerdings könnte eingewendet werden, dass die heute eingewanderten Kinder und Jugendlichen aus dem ehemaligen Jugoslawien tatsächlich schulschwächer bzw. weniger intelligent seien als die früher eingewanderten. So behauptet beispielsweise Lanfranchi (1995, S. 35), dass die massive Zunahme der Anteile ex-jugoslawischer Kinder in Sonderklassen und in der Sekundarschule C respektive ihre Abnahme in der Sekundarschule A „nicht primär mit der quantitativen Zunahme der absoluten Zahl einreisender ex-jugoslawischer Kinder zu tun (hat, A. Z.), sondern mit deren qualitativen ethnischen Diversifizierung“. Die seit 1991 in die Schweiz immigrierten Kinder aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens seien mehrheitlich (bildungsferne) Albanischsprachige aus den südlichen Regionen Kosovo und Mazedonien, die sich durch eine höhere „sprachlich-kulturelle Distanz“ (ebd., S. 41) auszeichnen als die davor eingewanderten, die mehrheitlich aus den nördlichen Regionen stammten. Zur Überprüfung dieses Einwandes haben Kronig et al. (2000) in ihrer Untersuchung zur Wirkung integrierender und separierender Schulformen die schulsprachliche Leistung dieser Kinder mit der der übrigen Immigrantenkinder aus ihrer Stichprobe verglichen. Sie konnten zeigen, dass „sich die Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien nicht ausschliesslich im unteren Leistungssegment befinden, sondern dass sie ziemlich gleichmässig über die...