In dem ARD-Dokumentarfilm über das Comeback des Motivationstrainers Jürgen Höller erlebt man ihn auf der Bühne als einen, der die wahren Sorgen der Menschen anspricht. Tränen fließen, wenn er einzelne Leute aus dem Publikum ermahnt, endlich aufzustehen, eine Entscheidung zu treffen und ihr Leben zu ändern. Es ist offensichtlich, sämtliche Männer und Frauen im Saal haben eines gemeinsam: Sie haben den sehnlichen Wunsch, eine entscheidende Wende in ihrem Leben herbeizuführen, aber sie haben bisher NICHTS dafür getan. Zumindest kommt es ihnen so vor. Damit endlich etwas geschieht, versprechen sie, weitere Trainingspakete von Höller zu buchen. Einige Teilnehmer sind nach diesem Event bereit, den Dokumentarfilmern Rede und Antwort zu stehen: Mit welchen Erwartungen sind sie gekommen, was hat ihnen besonders gefallen? Jürgen Höller, so die Befragten, habe einfach Themen angesprochen, die ihnen unter den Nägeln brennen, und nun sind sie bereit, ihr Leben zu ändern, doch das Merkwürdige ist: Keiner von ihnen kann angeben, was genau Höller gesagt hat und was genau sie ab morgen anders machen wollen. Sie wissen nur, es muss etwas Grundsätzliches passieren und zwar bald, denn ihr Leben schreitet voran, und ihre Möglichkeiten verstreichen. Alle ungenutzt. Aber was hat sie denn bisher daran gehindert, so zu leben, wie sie leben wollen?
Man muss, so merkwürdig es klingt, vermuten, dass die Teilnehmer davon ausgehen, aus zwei verschiedenen Personen zu bestehen, anders ist ihr Verhalten nicht zu erklären. Und zwar aus einer Person voller Hoffnung und Sehnsucht und leider noch aus einer anderen, die die erste so dermaßen unterdrückt, dass diese nicht nur daran gehindert wird, zu tun, was sie will, sondern dass sie nicht einmal mehr beschreiben kann, was sie sich eigentlich wünscht. Das Ergebnis ist, dass der unterdrückte Persönlichkeitsanteil sich unfrei fühlt und deswegen deprimiert ist. Wie gerne würde er sich motivieren, wenn er sich nur erinnern könnte wofür. Wie es dem dominierenden Persönlichkeitsanteil geht, ist unklar, er ist jedenfalls bei der Gesamtperson nicht sehr beliebt.
Stellen Sie sich nun vor, Sie wären ebenfalls auf diesem Event gewesen. Höller wäre auf einmal von der Bühne gegangen, weil ihn eine plötzliche Übelkeit befallen hat oder er anderweitig verhindert wurde. Das Publikum wartet darauf, dass der Motivator zurückkommt, da kommt Ihnen plötzlich die Idee, Sie könnten Jürgen Höller vertreten. Sie springen auf die Bühne, ergreifen das Mikrofon. Welchen Rat würden Sie den Wartenden geben, außer dem, nach Hause zu gehen? Sie müssen keine Trainingspakete verkaufen, keine Aussage machen, bei denen die Menschen ekstatisch von ihren Stühlen aufspringen, Sie können einfach sagen, was Sie denken: Was müssten die Zuhörer Ihrer Meinung nach tun, damit sie sich wieder frei fühlen?
Je wichtiger man eine Entscheidung nimmt, desto weniger kann man sie treffen
Wir entscheiden, welches Leben wir führen. Doch woher kommt das Gefühl, nicht richtig zu leben? Viele sehnen sich nach einem anderen Lebensgefühl und sind bereit, dafür auch Verantwortung zu übernehmen. Nur: Macht Verantwortung wirklich glücklich?
Mit Entscheidungen gestalten wir die Zukunft und in der soll unser Leben besser, sicherer, lustiger, aufregender oder angenehmer werden. Hätten wir dieses Ziel nicht, ergäbe das Entscheiden wenig Sinn. Welchen Rechner soll ich kaufen, will ich heute Abend lieber ein Buch lesen oder doch auf die Party, soll ich das Büro kündigen, mich von meinem Partner trennen oder ihn heiraten, mit der Diät heute oder erst morgen anfangen, und wann soll ich endlich die große Südamerikareise antreten? Da aber niemand in die Zukunft schauen und mit Sicherheit vorhersagen kann, ob eine Entscheidung am Ende zum erhofften Ergebnis führt, ist jede Entscheidung – und sei sie noch so klein – ein Risiko. Man muss ja nicht nur Wahrscheinlichkeiten abschätzen können (wer kann z. B. mit Sicherheit sagen, ob eine Party toll genug wird, dass es sich dafür lohnt, aus dem Haus zu gehen), sondern auch bedenken, dass manche Dinge nicht einfach so von anderen hingenommen werden. Bei nicht wenigen unserer Entscheidungen ist mit heftigen Gegenreaktionen zu rechnen, was die eigene Situation erst einmal nicht – wie eigentlich bezweckt – schöner, sondern unangenehmer macht. Entscheidet man beispielsweise, dieses Weihnachten einmal nicht mit zu den Schwiegereltern zu fahren, hat man sicher erst einmal kein schöneres Weihnachten als sonst. Und es könnte sogar sein, dass Weihnachten sehr, sehr unschön wird und wir unsere Entscheidung schnell bereuen.
Morgen soll es besser werden, darauf zielt jede Entscheidung ab.
So zu leben, wie man will, ist aus diesen Gründen gar nicht so einfach. Ich kann zwar viele kleine und große Entscheidungen treffen – aber gerade bei den wichtigsten Themen des Lebens lässt sich nämlich nie klären, ob es gut und klug ist, sich so oder ganz anders zu entscheiden. Für jedes Kind, jede Trennung und jeden Jobwechsel sprechen gewichtige Gründe – und immer auch genauso viele dagegen. Würde man sämtliche Argumente auf einer Pro- und Contra-Liste notieren und sorgfältig durcharbeiten, bräuchte man ein ganzes Leben dafür und wäre am Ende dennoch keinen Schritt weiter. Dass die meisten Entscheidungsprobleme ohnehin zu komplex sind, um sie mit einer Pro- und Contra-Liste zu bewältigen, hat als Erstes der Ökonomie-Nobelpreisträger Herbert Simon festgestellt. Schon bei einem relativ schlichten Projekt wie dem Autokauf würde man sich damit verzetteln, denn wer auf einer Pro- und Contra-Liste alle Merkmale sämtlicher Autos, die jemals gebaut wurden, auflisten würde, bräuchte dafür Jahre.
Ob einen die Kinder oder doch die Weltreise glücklicher machen werden, kann man also nicht mit einer Liste herausfinden, sondern erst, wenn man entweder das eine oder das andere erlebt hat.
Dass kein Mensch ernsthaft behaupten könne, er wisse, welche Auswirkungen seine Entscheidungen haben werden, gibt auch der britische ehemalige Minister für den Austritt aus der Europäischen Union, David Michael Davis zu. Im Rahmen der Brexit-Diskussion erinnert er daran, dass es bisher noch bei jeder historischen Entscheidung so war, dass man richtig- oder falschliegen konnte. Doch trotzdem mussten Entscheidungen, wie etwa die Appeasement-Politik gegenüber Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg, getroffen werden. »Große Veränderungen verlangen«, so David Michael Davis, »dass man nicht davonläuft, nur weil man Angst hat, eine Entscheidung zu treffen.«
Auch der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt litt wie jeder intelligente Mensch darunter, dass wichtige Entscheidungen so schwer zu treffen sind und man niemandem versprechen kann, dass danach alles besser wird. Manchmal zauderte er so sehr, dass er tagelang einfach zu Hause blieb, bis sein Staatssekretär Egon Bahr bei ihm klingelte und ihn bat, wieder ins Kanzleramt zum Regieren zu kommen.
Planen kann man vieles, ob dabei herauskommt, was man wollte, ist die Frage:
1965 schloss der Rechtsanwalt Andre-François Raffray mit der damals neunzigjährigen Jeanne Calment einen Vertrag: Er zahlt ihr eine monatliche Rente von 2500 Francs, dafür fällt ihre Wohnung in Arles nach ihrem Tod an ihn, Raffray war zu dieser Zeit 47 Jahre alt. Er sollte jedoch das Ende dieser Zahlungen nicht erleben, als er 1995 mit 77 Jahren an Krebs starb, musste seine Witwe die Zahlungen noch über zwei Jahre fortsetzen, denn Jeanne Calment wurde fast 123 Jahre alt – und ist damit bis heute der Mensch, der bisher am längsten gelebt hat. (Und das, obwohl sie erst mit 119 Jahren das Rauchen aufgegeben hatte, übrigens nicht aus gesundheitlichen Überlegungen, sondern aus Stolz: Sie war nämlich in diesem Alter nicht mehr in der Lage, sich die Zigaretten selbst anzuzünden, und wollte auf keinen Fall jemanden darum bitten.) Am Schluss hatte Raffray den dreifachen Marktpreis für eine Wohnung bezahlt, in die er nie eingezogen ist.
Kein Wunder, dass so viele Menschen zögern, sich für etwas Neues zu entscheiden, selbst wenn es sie noch so sehr nach Veränderung gelüstet. Und auch die Teilnehmer des Events von Jürgen Höller wollen ja nicht etwas Bestimmtes, sie wollen vor allem, dass sich ihr Leben morgen besser anfühlt als heute. Und auch, wenn sie es selber so nicht sagen würden – aber sie könnten mit Leichtigkeit auf Dinge wie Kinder, Reisen, Auto, Haus, die erste Million und den Waschbrettbauch verzichten, wenn sie ganz sicher wären, dass sie das nicht glücklich macht.
Was aber ist zu tun, wenn man sämtliche zur Verfügung stehenden Alternativen immer wieder durchgeht und sich für keine von ihnen so recht begeistern kann? Einer wichtigen Entscheidung scheint man mit keinem noch so klugen Argument beikommen zu können: Aus dem Bauch heraus oder doch lieber vernünftig entscheiden? Andere Meinungen einholen? Je mehr man unternimmt, desto mehr verstrickt man sich in sein Entscheidungsproblem. Denn jeder Ratschlag macht die Angelegenheit nur noch komplizierter: Nun muss ich nicht nur mein eigentliches Problem lösen, sondern auch noch überlegen, welchen der Ratschläge ich auf meine konkrete Entscheidung anwenden soll.
In welcher Situation sollen wir das Neue wagen, wann lieber das Alte zu schätzen wissen, wann einen Kompromiss eingehen und wann lieber alles fordern? Wann sich zusammenreißen, wann lieber lockerlassen, wann auch mal andere Ansichten gelten lassen und wann lieber nur auf unsere eigene Stimme hören? Und wie sollen wir herausfinden, ob für unseren konkreten Fall gerade die Regel die bessere Alternative ist oder doch die Ausnahme? Ob man Bücher, Statistiken, Experten,...