1.
Vermeintlich irrelevante Faktoren
Schon früh in meiner Laufbahn als Hochschullehrer gelang es mir, die meisten meiner Studenten in meinem Mikroökonomik-Kurs unabsichtlich gegen mich aufzubringen, und ausnahmsweise hatte es mal nichts mit dem zu tun, was ich im Unterricht sagte. Das Problem wurde durch eine Klausur in der Mitte des Semesters verursacht.
Ich hatte die Prüfungsfragen so zusammengestellt, dass sie die Studenten in drei Gruppen einteilen sollten: die Stars, die den Stoff wirklich beherrschten; die mittlere Gruppe, die die Grundbegriffe verstand; und die Nieten, die es einfach nicht kapierten. Um dieses Ziel zu erreichen, musste die Prüfung einige Fragen enthalten, die nur die besten Studenten richtig beantworten würden, was bedeutete, dass sie schwer war. Tatsächlich erfüllte die Klausur ihren Zweck – es gab eine breite Streuung von Punkten –, aber als die Studenten die Ergebnisse erhielten, begehrten sie auf. Sie beklagten vor allem, dass die durchschnittliche Punktzahl nur 72 von möglichen 100 Punkten betrug.
Das Seltsame an dieser Reaktion war die Tatsache, dass die durchschnittliche numerische Punktzahl bei der Prüfung sich in keiner Weise auf die Verteilung der Zensuren auswirkte. An der Universität wurde in der Regel ein Notensystem verwendet, in dem die Durchschnittsnote eine B oder B+ (»Zwei«) ist, und nur eine sehr geringe Zahl von Studenten erhielt eine Zensur unter einer C (»Drei«). Ich hatte mit der Möglichkeit gerechnet, dass eine niedrige numerische Punktzahl in dieser Hinsicht für einige Verwirrung sorgen würde. Und so hatte ich erläutert, wie ich die Punkte in Noten umrechnen würde. Jeder, der mehr als 80 Punkte erhielt, würde eine A oder A – (»Eins«) bekommen, Punkte über 65 würden einer B entsprechen, und nur diejenigen, die weniger als 50 Punkte hatten, liefen Gefahr, eine Note unter C zu bekommen. Die resultierende Verteilung von Noten unterschied sich nicht von einer normalen Verteilung, aber diese Ankündigung heiterte die Stimmung der Studenten nicht auf. Sie hassten meine Prüfung noch immer, und auch mit mir waren sie nicht sonderlich zufrieden. Als ein junger Professor, dem daran gelegen war, seine Stelle zu behalten, war ich entschlossen, dem Abhilfe zu schaffen, aber ich wollte meine Klausuren nicht leichter machen. Was sollte ich tun?
Schließlich kam mir eine Idee. Bei der nächsten Klausur erhöhte ich die Gesamtzahl der erreichbaren Punkte von 100 auf 137. Diese Klausur erwies sich als etwas schwieriger als die erste; die Studenten beantworteten im Schnitt nur 70 Prozent der Fragen richtig, aber die durchschnittliche Punktzahl betrug erfreuliche 96 Punkte. Die Studenten waren begeistert! Durch diese Umstellung änderte sich nicht eine Note, aber alle waren glücklich. Von da an vergab ich jedes Mal, wenn ich diesen Kurs hielt, bei Klausuren maximal 137 Punkte. Diese Zahl wählte ich aus zwei Gründen. Erstens führte sie zu einer durchschnittlichen Punktzahl deutlich über 90, und einige Studenten erhielten sogar über 100 Punkte, was eine Reaktion auslöste, die an Verzückung grenzte. Zweitens, weil es nicht leicht war, die erreichte Punktzahl im Kopf durch 137 zu dividieren, schienen sich die meisten Studenten nicht die Mühe zu machen, ihre Punkte in Prozente umzurechnen. Damit Sie nicht denken, ich hätte die Studenten irgendwie getäuscht: In den folgenden Jahren habe ich diese Erläuterung, in Fettdruck, in den Lehrplan meines Kurses aufgenommen: »Bei Klausuren sind, statt der üblichen 100, maximal 137 Punkte zu erreichen. Dieses Punktesystem wirkt sich nicht auf die Zensur aus, die Sie in dem Kurs erhalten, aber es scheint Sie zufriedener zu machen.« Und tatsächlich hat sich nach dieser Umstellung niemand mehr beschwert, meine Klausuren seien zu schwer.
Für das Verhalten meiner Studenten verwendete ich den Begriff »misbehaving« (auf Deutsch etwa »sich ungezogen benehmen«). Damit meine ich, dass ihr Verhalten nicht dem idealisierten Verhaltensmodell entsprach, das die Grundlage der konventionellen Wirtschaftstheorie bildet. Ein Ökonom ist der Meinung, dass sich niemand mehr über 96 von 137 Punkten (70 Prozent) freuen sollte als über 72 von 100 Punkten, aber meine Studenten taten genau das. Und nachdem ich dies erkannt hatte, konnte ich die Klausuren so konzipieren, wie ich es wollte, und trotzdem dafür sorgen, dass die Studenten nicht murrten.
Seit 40 Jahren – seit meiner Studienzeit – interessieren mich derartige Geschichten, die zeigen, dass wirkliche Menschen (»Humans«) sich in vielfältiger Weise von den fiktionalen Geschöpfen unterscheiden, die die herkömmlichen Wirtschaftsmodelle bevölkern. Mir ging es nie darum, zu behaupten, dass etwas mit den Leuten nicht stimmt; wir alle sind nur Menschen – Homo sapiens. Problematisch ist vielmehr das von den Volkswirten verwendete Modell, das Homo sapiens durch ein erfundenes Geschöpf ersetzt, den Homo oeconomicus oder »Econ«, wie ich ihn abgekürzt nenne. Verglichen mit dieser fiktionalen Welt der Econs, verhalten sich reale Menschen vielfach ungezogen, und das bedeutet, dass ökonomische Modelle viele falsche beziehungsweise ungenaue Vorhersagen machen, was viel schwerwiegendere Folgen haben kann, als eine Gruppe von Studenten zu verärgern. So gut wie kein Wirtschaftswissenschaftler sah die Finanzkrise von 2007/2008 kommen,b und noch schlimmer, viele dachten, sowohl der Crash als auch seine Nachwirkungen seien Dinge, die schlichtweg nicht passieren könnten.
Ironischerweise sind formale Modelle, die auf dieser verfehlten Konzeption des menschlichen Verhaltens beruhen, der Grund dafür, dass die Volkswirtschaftslehre als die einflussreichste Sozialwissenschaft gilt – einflussreich in zweierlei Hinsicht. Zum einen haben Volkswirte von allen Sozialwissenschaftlern unbestreitbar den stärksten politischen Einfluss. Tatsächlich besitzen sie praktisch ein Monopol in Bezug auf politische Beratung. Bis vor Kurzem wurden andere Sozialwissenschaftler nur selten dazugebeten, und wenn man sie einlud, dann wurden sie sozusagen an den Kindertisch bei der Familienfeier verbannt.
Zum anderen gilt die Volkswirtschaftslehre auch als die einflussreichste Sozialwissenschaft in einem intellektuellen Sinne. Dieser Einfluss rührt von der Tatsache her, dass die Volkswirtschaftslehre über eine einheitliche Basistheorie verfügt, aus der fast alles Weitere folgt. Wenn man von »Wirtschaftstheorie« spricht, wissen die Leute, was man meint. Keine andere Sozialwissenschaft besitzt eine ähnlich solide theoretische Grundlage. Tatsächlich dienen Theorien in anderen Sozialwissenschaften tendenziell bestimmten Zwecken – sie sollen erklären, was unter bestimmten Rahmenbedingungen geschieht. Ökonomen vergleichen ihr Fachgebiet auch gern mit der Physik, wie die Physik basiert auch die Volkswirtschaftslehre auf einigen wenigen Kernprämissen.
Die Kernprämisse der Wirtschaftstheorie lautet, dass Menschen sich so entscheiden, dass sie ihren Nutzen optimieren. Unter all den Gütern und Dienstleistungen, die eine Familie kaufen könnte, wählt sie das/die beste, das/die sie sich leisten kann. Außerdem wird angenommen, dass Econs keine verzerrten Entscheidungen treffen. Das heißt, wir treffen unsere Entscheidungen auf der Grundlage dessen, was Ökonomen »rationale Erwartungen« nennen. Wenn Menschen, die ein Unternehmen gründen, in der Regel glauben, dass ihre Erfolgschancen 75 Prozent betragen, dann sollte dies eine gute Schätzung für die tatsächliche Zahl erfolgreicher Gründungen sein. Econs sind nicht übertrieben optimistisch.
Diese Prämisse der Optimierung unter Nebenbedingungen, das heißt der Auswahl des Besten unter Berücksichtigung begrenzter finanzieller Mittel, wird mit der zweiten Grundannahme der Wirtschaftstheorie, der des Gleichgewichts, verknüpft. Auf Wettbewerbsmärkten, auf denen sich Preise frei nach oben und unten bewegen können, schwanken diese Preise in einer Weise, dass das Angebot gleich der Nachfrage ist. Etwas vereinfacht ausgedrückt, können wir sagen: Optimierung + Gleichgewicht = Wirtschaftstheorie. Dies ist eine mächtige Kombination, und andere Sozialwissenschaften haben nichts Vergleichbares zu bieten.
Allerdings gibt es ein Problem: Die Prämissen, auf denen die Wirtschaftstheorie beruht, sind fehlerhaft. Erstens sind die Optimierungsprobleme, denen sich gewöhnliche Konsumenten gegenübersehen, oftmals so schwierig, dass sie sie nicht lösen können beziehungsweise einer Lösung nicht einmal nahekommen. Schon bei einem Einkauf in einem Lebensmittelgeschäft mittlerer Größe haben Käufer die Wahl zwischen Millionen von Kombinationen von Artikeln, die sie sich leisten können. Wählen sie wirklich die beste aus? Und selbstverständlich sind wir in unserem Leben mit sehr viel bedeutenderen Problemen als einem Lebensmitteleinkauf konfrontiert: der Wahl eines Berufs oder eines Ehegatten, der Aufnahme eines Hypothekendarlehens. In Anbetracht der Misserfolgsquoten in all diesen Bereichen ließe sich nur schwerlich behaupten, all diese Entscheidungen seien optimal.
Zweitens sind die Überzeugungen, auf deren Grundlage Menschen ihre Entscheidungen treffen, nicht unverzerrt. »Selbstüberschätzung« mag nicht zum Wortschatz eines Ökonomen gehören, aber sie ist erwiesenermaßen ein menschlicher Wesenszug, und es gibt zahlreiche weitere Verzerrungen, die von Psychologen dokumentiert wurden.
Drittens gibt es zahlreiche Faktoren, die das Optimierungsmodell unberücksichtigt lässt, wie das oben beschriebene Beispiel einer Klausur mit 137 Punkten verdeutlicht. In einer Welt der Econs gibt es eine lange Liste von Dingen, die vermeintlich belanglos sind. Kein Econ würde eine besonders große Portion des Abendessens...