Prolog
Chalk One
Eine Minute vor Erreichen des Ziels schob der Crew Chief des Black Hawk die Luke auf und hielt einen Finger in die Höhe.
Ich konnte ihn kaum erkennen – die Nachtsichtbrille verdeckte seine Augen. Dann sah ich, wie meine SEAL-Teamkameraden das Zeichen durch den Hubschrauber weitergaben.
Die Kabine war vom Dröhnen der Maschinen und dem Geräusch der Rotoren erfüllt, die über uns die Luft durchschnitten. Der Wind zerrte an mir, als ich mich hinauslehnte und in der Hoffnung, einen Blick auf die Stadt Abbottabad zu erhaschen, auf das dunkle Land unter uns hinunterschaute.
Eineinhalb Stunden zuvor hatten wir unsere zwei MH-60-Black Hawks bestiegen und waren in eine mondlose Nacht aufgestiegen. Der Flug von unserer Basis im afghanischen Dschalalabad bis zur pakistanischen Grenze war nur kurz, und von dort aus war es nochmals eine gute Stunde bis zu dem Ziel, das wir seit Wochen auf Satellitenaufnahmen studiert hatten.
Abgesehen von den Lichtern aus dem Cockpit herrschte in der Kabine völlige Dunkelheit. Ich hatte den Flug mit dem Rücken gegen die linke Tür gelehnt gesessen und konnte meine Beine nicht ausstrecken. Um Gewicht zu sparen, hatten wir die Sitze aus dem Hubschrauber ausgebaut, und so saßen wir entweder auf dem Boden oder auf kleinen Campingstühlen, die wir vor unserer Abreise in einem Sportgeschäft gekauft hatten.
Jetzt nutzte ich die Gelegenheit, meine eingeschlafenen Beine durch die offene Tür auszustrecken, damit das Blut wieder zirkulieren konnte. Insgesamt drängten sich in unserer Kabine und der des zweiten Hubschraubers, mich mitgezählt, 24 Angehörige der Naval Special Warfare Development Group, kurz DEVGRU. Ich hatte mit diesen Männern schon Dutzende Operationen durchgeführt. Manche kannte ich seit zehn oder mehr Jahren. Ich vertraute allen vollkommen.
Fünf Minuten zuvor war die Kabine unvermittelt zum Leben erwacht. Wir hatten unsere Helme herausgeholt, die Funkgeräte geprüft und unsere Waffen einem letzten Check unterzogen. Meine Ausrüstung wog dreißig Kilogramm, bis auf das letzte Gramm sorgfältig für diese spezielle Operation ausgewählt, über ein Dutzend Jahre und Hunderte ähnlicher Einsätze hinweg verbessert und angepasst.
Das Team, zu dem ich gehörte, war handverlesen, zusammengestellt aus den erfahrensten Männern unseres Squadron. In den letzten achtundvierzig Stunden schien der Marschbefehl immer wieder unmittelbar bevorzustehen, doch er wurde ein ums andere Mal verschoben. Wir hatten unsere Ausrüstung gecheckt und gecheckt und nochmals gecheckt. Mit anderen Worten, wir waren mehr als bereit für diese Nacht.
Das hier war der Einsatz, von dem ich geträumt hatte, seit ich in meiner Kasernenstube auf Okinawa die Angriffe vom 11. September 2001 im Fernsehen mitverfolgt hatte. Ich war gerade vom Training zurückgekehrt und noch rechtzeitig in die Unterkunft gekommen, um zu sehen, wie das zweite Flugzeug in das World Trade Center krachte. Ich konnte den Blick nicht abwenden, als der Feuerball auf der anderen Seite des Gebäudes herausschoss und dichter Rauch aus dem Turm in die Höhe quoll.
Wie viele Millionen Amerikaner zu Hause stand ich da und starrte fassungslos und mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und Verzweiflung auf die Bilder. Ich konnte mich den ganzen Tag nicht vom Bildschirm lösen, während mein Kopf unablässig versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was da passiert war. Ein Flugzeug, das ins World Trade Center stürzte, konnte vielleicht noch ein Unfall sein. Aber die Nachrichten, die dann kamen, bestätigten, was mir in dem Moment klar geworden war, als das zweite Flugzeug auf dem Bildschirm auftauchte. Ein zweites Flugzeug war ein Angriff, da gab es keinen Zweifel. Ausgeschlossen, dass so etwas zufällig passieren konnte.
Am 11. September 2001 befand ich mich auf meinem ersten Einsatz als SEAL, und als der Name Osama bin Laden fiel, ging ich davon aus, dass meine Einheit am nächsten Tag den Befehl zum Aufbruch nach Afghanistan erhalten würde. Die vorangegangenen eineinhalb Jahre hatten wir für unseren ersten Einsatz trainiert. Wir hatten in Thailand trainiert, auf den Philippinen, auf Osttimor und, in den letzten paar Monaten, in Australien. Als ich nun die Bilder von den Anschlägen sah, wünschte ich mir nur noch eines: nicht mehr hier in Okinawa herumzuhocken.
Ich wollte in die Berge von Afghanistan aufbrechen, Jagd auf die al-Qaida-Kämpfer machen und es ihnen heimzahlen, so gut ich konnte.
Doch der Befehl kam nicht.
Ich war frustriert. Ich hatte nicht so lange und so hart trainiert, um ein SEAL zu werden und mir dann den Krieg im Fernsehen anzuschauen. Meiner Familie und meinen Freunden, die mir schrieben und wissen wollten, ob ich nach Afghanistan ginge, erzählte ich natürlich nichts über meine Enttäuschung. Ich war ein SEAL, und für sie war es nur logisch, dass man uns so schnell wie möglich nach Afghanistan schicken würde.
Ich erinnere mich noch, dass ich zu der Zeit eine E-Mail an meine Freundin schickte, in der ich meinen Frust mit einem Witz zu überspielen versuchte. Wir unterhielten uns über das Ende meines Einsatzes und waren dabei, Pläne für meinen Heimaturlaub vor meiner nächsten Entsendung zu schmieden.
»Ich habe noch ungefähr einen Monat«, schrieb ich. »Ich werde also bald zu Hause sein, es sei denn, ich muss zuerst noch Osama Bin Laden erledigen.« Ein Witz, den man damals oft hörte.
Während die Black Hawks sich unserem Ziel näherten, ließ ich nochmals die letzten zehn Jahre Revue passieren. Seit dem Tag der Anschläge hatte jeder, der meine Uniform trug, davon geträumt, an einer Operation wie dieser teilzunehmen. Der Anführer von al-Qaida verkörperte alles, wogegen wir kämpften. Er hatte Männer mit dem Wunsch beseelt, Flugzeuge voller unschuldiger Zivilisten in Gebäude voller unschuldiger Zivilisten zu steuern. Ein derartiger Fanatismus ist erschreckend, und noch während ich die Türme in New York einstürzen sah und die ersten Berichte über den Angriff auf Washington D. C. und die abgestürzte Maschine in Pennsylvania hörte, wusste ich, dass wir uns im Krieg befanden, und zwar in einem Krieg, den wir uns nicht selbst ausgesucht hatten. Wie ich hatten viele tapfere Männer viele Jahre dem Ziel geopfert, in diesem Krieg zu kämpfen, ohne zu wissen, ob wir jemals die Gelegenheit bekommen würden, zu einer Mission wie in dieser Nacht berufen zu werden.
Ein Jahrzehnt nach den Anschlägen und nach acht Jahren, in denen wir al-Qaida-Führer gejagt und getötet hatten, trennten mich nur noch ein paar Minuten von dem Moment, in dem ich mich in das Anwesen Bin Ladens abseilen würde.
Als ich nach dem Seil griff, das an dem Galgen des Black Hawk fixiert war, fühlte ich, wie endlich Blut durch meine Zehen strömte. Der Scharfschütze neben mir nahm seinen Platz ein; ein Bein hing aus dem Hubschrauber, das andere war angewinkelt aufgestellt, sodass in der engen Luke mehr Platz blieb. Er schwenkte den Lauf seiner Waffe auf der Suche nach Zielen über dem Anwesen. Sein Job war es, die Südseite des Anwesens zu decken, während die Mitglieder des Assault Teams sich in den Hof des Haupthauses abseilten und sich dort entsprechend den ihnen zugewiesenen Aufgaben aufteilten.
Noch vor einem Tag hatte keiner von uns zu hoffen gewagt, dass Washington die Freigabe für die Mission erteilen würde. Aber jetzt waren wir, nach endlosen Wochen des Wartens, weniger als eine Minute von Bin Ladens Versteck entfernt. Alle geheimdienstlichen Informationen bestätigten, dass unsere Zielperson sich hier aufhielt, und ich selbst war auch davon überzeugt, aber vor Überraschungen war man nie gefeit. Wir hatten schon ein paar Mal geglaubt, ihm direkt auf den Fersen zu sein.
2007 hatte ich eine Woche damit verbracht, Gerüchte über Bin Ladens Aufenthaltsort zu verifizieren. Wir hatten Berichte erhalten, denen zufolge er aus Pakistan nach Afghanistan zurückkehren wollte, um nochmals in die Kämpfe einzugreifen. Eine Quelle behauptete, in den Bergen einen Mann in »wehenden weißen Roben« gesehen haben. Doch nach einer Woche der Vorbereitungen entpuppte sich das Ganze als ein aussichtsloses Unterfangen. Dieses Mal hatte ich ein ganz anderes Gefühl. Vor unserem Aufbruch hatte die CIA-Analystin, deren Arbeit wir die Spur nach Abbottabad vor allem verdankten, gesagt, sie sei sich hundertprozentig sicher, dass Bin Laden dort sei. Ich hoffte, dass sie recht behielt, aber meine Erfahrung hatte mich gelehrt, kein Urteil zu fällen, bevor die Mission vorüber war.
So oder so, jetzt war das nicht mehr wichtig. Wir befanden uns nur noch ein paar Sekunden von dem Haus entfernt, und wer immer dort auch lebte, hatte eine höchst unerfreuliche Nacht vor sich.
Wir hatten ähnliche Angriffe unzählige Male erfolgreich abgeschlossen. In den letzten zehn Jahren war ich im Irak, in Afghanistan und am Horn von Afrika im Einsatz gewesen. Wir hatten 2009 an der Mission zur Rettung von Richard Phillips teilgenommen, dem Kapitän des von somalischen Piraten entführten Containerschiffs Maersk Alabama, und wir hatten auch in Pakistan schon etliche Operationen durchgeführt. Taktisch gesehen unterschied sich der Einsatz heute Nacht nicht groß von anderen Operationen; was seine historische Bedeutung anging, hoffte ich, dass dies ganz anders sein würde.
In dem Moment, in dem ich das Seil ergriff, breitete sich Ruhe in mir aus. Wir alle hier hatten die »Eine Minute bis zum Ziel«-Ansage schon unzählige Male zuvor gehört, und in diesem Moment war dies eine Operation wie jede andere. Von der Luke des Hubschraubers aus konnte ich erste Orientierungspunkte auf dem Boden ausmachen, die ich mir beim Studium der...