"Kapitel 3.3.1, Das Germanic Europe Cluster:
Das Germanic Europe Cluster besteht aus den Ländern Österreich, den Niederlanden, dem deutschsprachigen Teil der Schweiz und Deutschland. Letzteres wurde in zwei Subkulturen untergliedert. Die Bundesländer der früheren DDR bilden die Subkultur Ostdeutschland, während die alten Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland die Subkultur Westdeutschland bilden.
Die Länder des Clusters zeichnen sich durch ihre Nähe in der geographischen Lage, Sprachähnlichkeiten und einem gemeinsamen historischen Hintergrund aus. So gilt holländisch als Sprache mit germanischer Wurzel, die durch andere Sprachen im Laufe der Jahrhunderte beeinflusst wurde.
Gerade Deutschlands Geschichte zeichnet sich durch viele Konflikte in Europa aus, insbesondere die beiden Weltkriege, die von Deutschland ausgelöst wurden, stürzten den Kontinent in ein Chaos. Nach dem Sieg der Alliierten wurden Wirtschaft und Wiederaufbau durch den Marshall-Plan stimuliert, allerdings existierte eine Konkurrenz zwischen den beiden Systemen Amerikas und Russlands. Im Zuge des Konfliktes zwischen Kommunismus und den westlichen Mächten wurde im „kalten Krieg“ Deutschland geteilt. Die Bundesrepublik Deutschland wurde in das westliche ökonomische System eingebettet, während die Deutsche Demokratische Republik Teil des sowjetisch kommunistischen Systems wurde. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die DDR 1990 mit der BRD wieder vereint. Das neue Deutschland stand und steht noch immer vor einer gewaltigen ökonomischen Aufgabe, um die Wirtschaft in den östlichen Bundesländern wieder aufzubauen. Noch immer bestehen kulturelle und soziale Unterschiede zwischen Ost und West, so dass das Expertenteam von GLOBE Deutschland in zwei Subkulturen unterteilte.
Die Schweiz ist sehr auf ihre Unabhängigkeit bedacht. So ist sie kein Mitglied der EU, allerdings bestehen zahlreiche Vereinbarungen und Verflechtungen ökonomischer Natur mit der Union.
Österreich hatte sich ökonomisch und politisch oft an Deutschland gebunden. So stand Österreich im zweiten Weltkrieg zum großen Teil auf der Seite des deutschen Nazi-Regimes, doch auch vorher bestanden schon zahlreiche Verflechtungen zwischen der österreichischen Kaiserfamilie und den Königen des Vielvölkerstaates Deutschland.
Wie Frankreich und Großbritannien kann auch Holland auf eine Geschichte großer Eroberungen in der „neuen“ Welt zurückblicken. So waren es Holländer, die in Amerika die Stadt New Amsterdam gründeten. Heute ist diese Stadt besser unter dem Namen New York bekannt.
Die Länder des Germanic Europe Clusters gehören zu den wohlhabendsten Nationen der Welt. Zusammen erwirtschafteten sie in 2002 ein Bruttonationaleinkommen von US-$ 3000 Milliarden. Deutschland repräsentiert Europas stärkste Industriekraft und war wiederholt Exportweltmeister. Zudem sind die Niederlande trotz ihrer relativ kleinen Landesgröße auf Platz 15 der größten Weltwirtschaften.
Deutschland ist nicht nur die stärkste Wirtschaftskraft in der EU, sondern hat mit 82 Millionen Einwohnern auch die höchste Bevölkerungszahl. Somit stellt Deutschland ca. 75 % der Einwohner des Germanic Europe Clusters, das ungefähr 113 Millionen Menschen umfasst.
Wenn die Unsicherheitsvermeidungswerte von GLOBE näher betrachtet werden, so fällt auf, dass die Ist-Werte zu den höchsten der gesamten Studie zählen (siehe Tabelle 4: Unsicherheitsvermeidungswerte des Germanic Europe Clusters).
Somit zeigt das Cluster eine starke Tendenz zur Standardisierung und zu Regelwerken, um potentielle Risiken weitestgehend zu reduzieren. Die Praxis und damit der Ist-Zustand zeugt von einer hohen Risikoaversion.
Genauso bemerkenswert sind aber auch die Soll-Werte. Das Beispiel des Germanic Europe Clusters macht deutlich, dass tägliche kulturelle Praktiken und Wertvorstellungen nicht immer übereinstimmen müssen. Während die tägliche Praxis von Risikoaversion geprägt ist, zeigt sich, dass die Agenten dieses Clusters durchaus etwas mehr Risiko zulassen würden, um mehr Flexibilität zu erhalten.
In der Auswertung wird auch der Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland deutlich. Die Wiedervereinigung war keine kulturelle Fusion zwischen Partnern, vielmehr sollten die ehemaligen Gebiete der DDR das bestehende System der BRD adaptieren. Diese asymmetrische Situation führte zu einem regelrechten Kultur- und Modernisationsschock für die Ostdeutschen mit dem drastische politische und wirtschaftliche Veränderungen einhergingen. Das führte dazu, dass die ostdeutschen Bundesbürger auch in ihren Wertvorstellungen weniger risikobereit sind. Mit 3,94 Punkten haben sie bei den „Should Be“-Werten die höchste Risikoaversion innerhalb des Clusters.
Die hohe Unsicherheitsvermeidung des Germanic Europe Clusters spiegelt sich auch in der Verbreitung der materiellen Mitarbeiterbeteiligung in der Praxis wieder. So beteiligen laut der EPOC-Studie von 1996 lediglich 16 % der deutschen Betriebe ihre Mitarbeiter finanziell am Unternehmen, während die Carnet Studie von 2000 einen Anteil von 25 % ermittelt hat (vgl. Anhang, S. 66, Tabellen 9 und 10). Auch Kluge/Wilke und Volz bescheinigen in ihren Studien, dass die Gewinnbeteiligung in Deutschland mittlere, die Kapitalbeteiligung sogar nur geringe Bedeutung hat (vgl. Anhang, S. 67, Tabellen 11 und 12). Somit zeichnen sich die hohen Ist-Werte der GLOBE-Studie bei der Unsicherheitsvermeidung auch in der Praxis ab.
Doch der erste PEPPER-Bericht fand heraus, dass in Deutschland eine andere Form der Mitarbeiterbeteiligung viel häufiger praktiziert wird. Der Schwerpunkt liegt viel stärker auf Mitspracherechten, die in Kapitel 2.2 als immaterielle Mitarbeiterbeteiligung klassifiziert wurden. Diese Annahme wurde auch in 2004 vom AuS-Projekt (Arbeits- und Sozialrecht) der Universität Köln bestätigt (siehe Tabelle 5: Materielle und immaterielle Mitarbeiterbeteiligung in Deutschland).
Während die materielle Beteiligung insgesamt lediglich 18,2 % ausmacht, bieten fast 60 % der Unternehmen ihren Mitarbeitern Mitspracherechte, über 30 % sind in Betriebsräten organisiert. Somit werden deutsche Arbeitnehmer durchaus am Unternehmen beteiligt, jedoch steht hier die immaterielle Beteiligung im Vordergrund.
Hinzu kommt der Umstand, dass die Verbreitung von materieller Mitarbeiterbeteiligung nicht nur von der Risikoeinstellung der Agenten abhängt. In mehreren Studien wurde festgestellt, dass die staatliche Politik, die Einstellung und der Einfluss der Sozialpartner, die Größenstruktur der Unternehmen und auch die Kapitalmarktstruktur in einem Land einen großen Einfluss auf die Diffusion von Mitarbeiterbeteiligungsmodellen haben.
In Deutschland üben diese Faktoren eher eine hemmende Wirkung aus. Auch wenn die deutsche Politik eine stärkere finanzielle Beteiligung von Mitarbeitern befürwortet, hält sie sich mit konkreten Maßnahmen zurück und überlässt es den Sozialpartnern, die Rahmenbedingungen für Mitarbeiterbeteiligungen auszuhandeln (vgl. Commission of the European Communities. Die Gewerkschaften stehen einer Kapitalbeteiligung jedoch eher ablehnend gegenüber, da sie es als ihre Aufgabe betrachten, Arbeitnehmer vor dem Risiko des Vermögensverlustes zu schützen. Allerdings könnte diese Ablehnung auch politisch motiviert sein, denn die Gewerkschaften stünden vor dem Problem, die Interessen ihrer Klientel bedienen zu müssen. Wenn Arbeitnehmer aber plötzlich auch Interessen von Eigentümern verfolgen, weil sie kapitalmäßig mit dem Unternehmen verbunden sind, wird eine genaue Abgrenzung der Interessenlage erschwert.
Zudem ist der Einfluss der Gewerkschaften rückläufig. Als die Position der Gewerkschaften in Frankreich und in Großbritannien schwächer wurde, stieg die Quote der Betriebe mit einer finanziellen Mitarbeiterbeteiligung stark an. Daher könnte angesichts der relativ niedrigen Soll-Werte bei der Unsicherheitsvermeidung West- und auch Ostdeutschlands eine ähnliche Entwicklung zu erwarten sein.
Etwas Ähnliches ist in den Niederlanden geschehen. Während etwas ältere Studien wie EPOC von 1996 eine relativ geringe Mitarbeiterbeteiligung von 16 % ermittelten, stellte die neuere Carnet-Studie einen starken Anstieg auf fast 60 % fest. Auch die anderen Studien weisen eine wachsende Tendenz auf. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Der erste PEPPER-Bericht stellte 1991 noch fest, dass die niederländische Regierung zwar die Vorteile erkannte, jedoch keine politischen Maßnahmen zur aktiven Unterstützung einer größeren Verbreitung von Mitarbeiterbeteiligung unternahm. Auch die holländischen Gewerkschaften sprachen sich wie ihre deutschen Kollegen gegen eine finanzielle Beteiligung aus.
Ende der neunziger Jahre kam es jedoch zu einem fundamentalen Wandel. Die niederländische Regierung begann, die finanzielle Beteiligung von Mitarbeitern massiv zu fördern. Allerdings stand weniger der betriebswirtschaftliche Motivationsgedanke dahinter. Vielmehr sollte bei kollektiven Lohnverhandlungen angesichts des globalen Wettbewerbs nachteilige und zu teure Einkommenserhöhungen gedämpft werden. Durch Erfolgsbeteiligungen konnten die Fixlöhne konstant gehalten werden. Zusätzlich hatte sich auch die Gewerkschaftsposition geändert. Um eine zu großzügige Gewinnbeteiligung von Topmanagern zu verhindern, stimmten sie einer breiten Beteiligung aller Arbeitnehmer zu.
In Österreich und in der Schweiz lässt sich die relativ geringe Verbreitung von materieller Mitarbeiterbeteiligung auf die Größenstruktur der Unternehmen zurückführen. Auch wenn in der Schweiz global agierende Unternehmen wie z. B. Nestlé, UBS oder Novartis vertreten sind, so haben die meisten österreichischen und Schweizer Unternehmen eine kleine bis mittlere Unternehmensgröße. Die Regelungen einer finanziellen Mitarbeiterbeteiligung für kleine und mittelständische Unternehmen sind meist kompliziert, so dass der Rechtsrahmen beider Länder eher anreizhemmend wirkt, eine Mitarbeiterbeteiligung einzuführen.
Wird das Germanic Europe Cluster mit der Fragestellung dieser Studie untersucht, so lässt sich feststellen, dass die Ist-Praktiken in diesen Ländern sehr risikoavers angelegt sind. Allerdings legen die relativ niedrigen Soll-Werte den Wunsch nach etwas mehr Risiko und damit mehr Flexibilität nahe. Daher könnte eine Ausweitung der Mitarbeiterbeteiligung für die Agenten des Germanic Europe Clusters durchaus motivationsfördernd sein. Hierfür müssten allerdings bestehende bürokratische Hürden, die ursprünglich zur Unsicherheitsvermeidung errichtet wurden, wieder abgebaut werden. Die Niederlande sind Vorreiter für diese Entwicklung. Ihr Ist-Wert von 4,70 ist bereits der niedrigste des gesamten Clusters, mit weiterhin fallender Tendenz. Die niederländische Entwicklung hat gezeigt, dass vor allem auch die politische Unterstützung von Regierung und Gewerkschaften eine große Bedeutung für die Diffusion von materieller Mitarbeiterbeteiligung haben."