Kapitel 2:
Rein ins Getümmel
Jochen
Geschafft: Die Rucksäcke sind gepackt. Doch statt Freiheit spüre ich bloß meinen Rücken. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich um-, aus- und neu gepackt habe. Für jedes aussortierte Teil kam ein anderes hinzu. Der Reiserucksack ist voll, der Tagesrucksack auch. Da passt nicht mal mehr eine Postkarte rein.
Doch das kümmert mich nicht mehr, denn wir sind endlich in Bewegung! Der Berlin-Warschau-Express zuckelt durch die Uckermark, die mir ebenso fremdartig vorkommt wie meine Vorstellung von Asien oder Südamerika. Nicht mal das gutturale Meckern des Schaffners kann mich stören, weder die ausgeleierten und unbequemen Sitze im Design der späten Achtziger noch der darin festhängende Moschusduft. Nicht heute. Nur mit Mühe unterdrücke ich den Drang, die Mitreisenden anzusprechen: »Guten Tag, Müller mein Name, ich bin auf Weltreise. Und selbst?« Dazu ein Zwinkern und die Finger zur Pistole geformt. Es ist der erste Tag, schon klar, dass da noch Luft nach oben ist. Doch das Potenzial ist unendlich, vor uns liegt die weite Welt.
Nachdem wir in Warschau angekommen sind, beziehen wir ein Doppelzimmer am Rande der Altstadt. Zwar frisst das beinahe unser gesamtes Tagesbudget, dafür haben wir ein eigenes Bad und einen Südbalkon. Die mittelalterlichen Gassen der Altstadt genießen wir gemeinsam mit vielen anderen Touristen im Sonnenschein. Doch etwas drängt uns. Wir wollen Polen und dem Baltikum keine allzu große Aufmerksamkeit schenken. Wer will schon seine Weltreise in der Nachbarschaft beginnen? Da kann die Gegend noch so schön sein, sie ist nicht unser Traumziel. Wir wollen weg von allem, was an daheim erinnert. Außerdem hoffen wir, dass das Leben außerhalb Europas günstiger wird.
Also weiter. Am Schalter der Station Zachodnia erträgt ein Mann meine Frage nach dem nächsten Bus nach Vilnius genervt. Stumm bearbeitet er seine Tastatur, bevor ein polnischer Wortschwall aus ihm hervorbricht. Ich schalte auf internationale Standardsprache um und kontere: »Hä?« Seine Augen funkeln gereizt, als er mich anbellt: »When?« – »Morgen, äh, tomorrow.« Wieder malträtiert er die Tastatur. Auf seine erneute polnische Ansprache zucke ich nur mit den Achseln. Er schreibt eine Zahl auf einen Zettel, ich gebe ihm die entsprechende Summe und erhalte die Tickets. Klasse. »Und?«, fragt Peer, der in der Zwischenzeit Zigaretten besorgt hat. »Jackpot«, grinse ich. »Der Verkäufer sagt schönen Gruß und wünscht gute Fahrt.« – »Nette Leute, die Polen. Die Zigarettenverkäuferin würde ich vom Fleck weg heiraten.« Aus dem Kiosk winkt uns eine bildhübsche Blondine lächelnd zu. »Das nächste Mal kaufe ich Kippen und du die Tickets.« Jetzt grinsen wir beide.
»Morgenstund hat Gold im Mund«, säusele ich, als wir am frühen Morgen in Vilnius ankommen. Peer brabbelt irgendetwas vor sich hin. Meine Wachheit ist auch nur vorgetäuscht. Das Schlafen in Reisebussen ist eine Fähigkeit, die keiner von uns beiden besitzt. Während er sich eine Kippe ansteckt, stutze ich vor dem Geldautomaten. »Hast du eine Ahnung, wie viel die Landeswährung wert ist?« Peers Antwort kommt prompt: »Ich weiß nicht mal, wie die heißt.« Scheiße.
Wir haben uns vor der Reise auf eine gemeinsame Kasse geeinigt, weil wir ohnehin alles zusammen machen, und so müssen wir nicht regelmäßig abrechnen. Und da ich mit meiner Kreditkarte weltweit gebührenfrei abheben kann, ist die Devisenbeschaffung meine Aufgabe. Ich nehme mir vor, künftig den Wechselkurs der jeweils nächsten Landeswährung genau zu studieren. »Es geht doch nichts über gute Vorbereitung«, sage ich zu mir selbst, während ich per Zufallsprinzip eine der angebotenen Summen abhebe.
Die tristen Häuser vor dem Busbahnhof passen zum grauen Himmel. Nieselregen schlägt uns ins Gesicht, und ein frischer Wind raubt unseren übermüdeten Leibern die letzte Wärme.
Auf dem Weg zur Innenstadt lobe ich unsere Weitsicht, schon im Vorfeld eine Bleibe gebucht zu haben. Doch als wir die Adresse finden und klingeln, kommt keine Reaktion. Wir warten vier geschlagene Stunden, bis wir endlich eingelassen werden. Der Anblick unseres feudal eingerichteten Zimmers vertreibt schnell alle düsteren Gedanken. Wir lassen uns in das weiche Doppelbett des »roten Salons« fallen und schlafen sofort ein. Das Bild auf der Internetseite der Pension hat nicht zu viel versprochen, die Mottozimmer sind ein Blickfang. Überzeugender war jedoch etwas anderes: Hier wird das Frühstück ans Bett gebracht! »So lass ich mir das Backpacker-Leben gefallen«, meint Peer am folgenden Tag, als wir bei Kaffee und frischen Brötchen im Satellitenfernsehen die Nachrichten anschauen. »Du hörst keinen Widerspruch.«
Nach dem letzten Frühstück im Bett genießen wir die Busfahrt Richtung Lettland. Tagsüber zu fahren hat Vorteile. Die Rechnung, dass Nachtbusfahrten uns eine Übernachtung sparen, geht nicht auf, wenn wir im Bus nicht schlafen können und nach der Ankunft den halben Tag verpennen. Außerdem bekommen wir so einen Eindruck von der Umgebung.
In Riga raten wir erneut, wie viel die Landeswährung wert sein könnte, verschätzen uns prompt und heben viel zu viel ab. Wir lösen das Problem, indem wir zwei Tage länger bleiben. Das Hostel »Cinnamon Sally« war der Tipp eines jungen Mannes, den wir bei einer kostenlosen Stadtführung kennengelernt haben. Hier ist es wie in einer großen Wohngemeinschaft. Die Sofas und Sitzkissen im zentralen Aufenthaltsraum der riesigen Altbauwohnung sind von jungen Leuten bevölkert, und in der offenen Kochnische brutzelt immer irgendjemand irgendwas. Sally, die Besitzerin, begrüßt uns, als habe sie nur auf uns gewartet. Wie unser spanischer Zimmergenosse, der eine ähnliche Reiseroute hat wie wir. Doch als wir ihn fragen, ob wir gemeinsam essen gehen, lehnt er ab. »Ich reise mit extrem schmalem Budget. Restaurants in Europa sind einfach nicht drin. Wie wäre es, wenn wir zusammen kochen?« Das sitzt. Uns wird bewusst, dass wir das Geld mit vollen Händen ausgeben und langsam gut daran täten, den Gürtel enger zu schnallen.
Wenig später sitzen wir gesättigt zusammen und erzählen von den bisherigen Reiseerlebnissen. Wir bleiben nicht lang allein. Eine Amerikanerin setzt sich zu uns und empfiehlt uns eine außergewöhnliche Unterkunft in ihrer Wahlheimat St. Petersburg. Es ist das erste Mal, dass wir mit anderen Reisenden in Kontakt kommen, und alles, was ich fühle, ist Ungeduld.
Als wir am nächsten Tag im Bus nach Tallinn sitzen, platzt es aus mir heraus: »Ein super Abend, davon will ich mehr! Davon abgesehen, dass er der günstigste bisher war. Wir müssen umdenken, Peer. So Geschichten wie bisher können wir nicht mehr bringen!« Peer guckt mich verständnislos an. »Vorgestern saßen wir geschlagene fünf Stunden in der überteuerten Panoramabar dieses Nobelhotels, nur weil der Reiseführer meint, man müsse früh kommen, um sich gute Plätze für den Sonnenuntergang über der Altstadt zu sichern«, erkläre ich. »Das nächste Mal geht’s kurz hoch, ein Foto geschossen und tschüss.« Peer erwidert: »Ach komm, es hat geregnet, und wir waren beide froh über ein trockenes Plätzchen mit Aussicht.« – »Nee, das meine ich nicht. Wir haben ein Tagesbudget in der Bar gelassen, nur weil wir bequem waren. Hätten wir das gewollt, hätten wir uns auch ein Jahr lang eine Finca auf Malle mieten können.« Jetzt sieht Peer mich kritisch an. »Also was? Soll ich den Reiseführer wegschmeißen?« – »Man muss es ja nicht gleich übertreiben«, entgegne ich. »Aber wir sollten anfangen, auch zwischen den Zeilen zu lesen, oder uns andere Tipps einholen. Schließlich wollen wir ja nicht überall das klassische Touri-Programm abspulen.« – »Da widerspreche ich dir auch nicht, aber der gestrige Abend war ein netter Zufall, wie willst du das steuern?« Genau darüber habe ich nachgedacht. »Von wegen Zufall. Wir waren zum ersten Mal nicht in einem Doppelzimmer, sondern in einem Schlafsaal. Wir haben unser Geld nicht im Restaurant verplempert, sondern mit anderen gekocht. Und schon haben wir einen Spitzenabend, neue Bekanntschaften und Tipps für die nächsten Stationen. Scheiß auf Frühstück im Bett und Doppelzimmer mit Südbalkon, ich will mehr Backpacker-Feeling!« Mit einem »Na dann …« beendet Peer die Diskussion.
Kaum haben wir die Tür zu unserem Schlafsaal in Tallinn geöffnet, kommt Peer auf das Thema zurück: »Meintest du das hier mit Backpacker-Feeling?« Wir stehen in einem leeren Zimmer aus Holzimitat und Linoleumersatz, das einzige Fenster gibt den Blick auf eine Wand aus unverputzten Steinen frei. Die zwei Zentimeter Zwischenraum zwischen Wand und Fenster sind zur Hälfte mit Sand aufgefüllt. »Hmm«, entfährt es mir. »Heimelig. Genau das meinte ich. Fehlen nur noch die Backpacker.«
Abends landen wir im »Olde Hansa«, einem 700 Jahre alten, urigen Restaurant, das sein Geld wert ist. Der Spruch »Ab morgen wird gespart« wird langsam, aber sicher zum Running Gag. Der Abschied von Estland und der EU geht im sintflutartigen Regen unter. Es ist dunkel, als wir in einem kleinen Ort anhalten. Ein Uniformierter besteigt den Bus, sammelt die Pässe aller Insassen ein und verschwindet wortlos. Vor uns liegt Russland. »Jetzt wird’s ernst«, höre ich mich sagen.
Alles, was wir bisher erlebt haben, war die Einleitung, der Prolog. Ich habe keinerlei konkrete Vorstellung darüber, was uns erwartet, und genau deshalb bin ich so fasziniert, dass mein Herz anfängt zu hüpfen. Es ist nicht die erste Grenze mit Passkontrolle, die ich in meinem Leben passiere. Aber das hier ist Russland. Ehemaliger Erzfeind, nun lupenrein demokratischer Gaslieferant, größtes Land der Erde...