I. Die Grundlagen meiner Methode
Nach vielen außergewöhnlichen Erfolgen, die ich mit meinen Schülern erreicht habe, bin ich angeregt und gebeten worden, meine Ansichten über modernes Klavierspiel schriftlich festzulegen und die Wege anzugeben, die ich meine Schüler einschlagen lasse, um diese Erfolge zu erzielen. Die folgenden Aufzeichnungen machen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und sollen nur in großen Zügen die Grundlage meines Systems wiedergeben; denn den vollständigen Einblick in meine Art der Behandlung des Klavierspiels kann schließlich nur mein persönlicher Unterricht bieten.
Meine Methode hat eine Spielweise gezeitigt, die, besonders hinsichtlich des Vortrags, sich von dem üblichen Klavierspiel stark unterscheidet. Diese Methode beruht auf der sorgfältigen Beobachtung einer Reihe von nach meiner Meinung selbstverständlichen Forderungen; die Art und Weise, wie ich diese Selbstverständlichkeiten anwende und zu einem System geordnet habe, ergibt den kürzesten, wenn nicht den einzigen Weg, um die musikalische Begabung eines Schülers wirklich zur vollen Entfaltung zu bringen und ihm in seinem Spiel zur höchsten Ausdrucksmöglichkeit zu verhelfen. Gewiß wird es nur intelligenten und begabten Schülern möglich sein, die unbegrenzten Entwicklungsmöglichkeiten in Technik und Vortrag, die mein System bietet, voll zu verwerten und zu verwirklichen, aber meine Methode kann mit kleinen individuellen Abweichungen allgemein angewandt werden und wird, wenn sie richtig verstanden ist, jedem Schüler größten Nutzen bringen. Begabte Schüler erzielen sogar Leistungen, die sie selbst aufs höchste überraschen und die sie vorher nicht erhoffen konnten.
Meine Aufzeichnungen sollen keinen polemischen Charakter tragen, sondern nur dasjenige zur allgemeinen Kenntnis bringen, was ich in langjähriger praktischer Erfahrung als richtig erkannt habe. Die folgenden Anweisungen sind nicht für Anfänger bestimmt, sondern für Klavierspieler, die sich als Konzertpianisten oder Musiklehrer betätigt haben oder wenigstens weit fortgeschrittene, ernst strebende Dilettanten sind.
Trainierung des Gehörs
Der Hauptunterschied meiner Unterrichtsweise gegenüber anderen und eine der wichtigsten Grundlagen meines Systems ist die Trainierung des Ohres. Die meisten Klavierspieler hören sich selbst gar nicht richtig! Sie sind wohl daran gewöhnt, falsche Noten, gröbere Verstöße gegen Rhythmus, Tonqualität, Phrasierung usw. zu hören und auszumerzen, das ist aber keineswegs ausreichend, wenn man nach modernen Begriffen einwandfrei spielen will. Die Tonhöhe ist durch die Stimmung des Klavieres gegeben, hierbei eine Änderung vorzunehmen, ist daher nicht möglich; aber die allergrößte Sorgfalt ist der Tondauer, Tonstärke, der Tonqualität zu schenken. Der gesamte Vortrag bekommt bei der minuziösen Beobachtung dieser Toneigenschaften einen ganz bestimmten Charakter (was nur sehr wenigen bekannt ist), der sich von dem in Einzelheiten schwankenden Vortrag durch eine subtile Ausdrucksbildung stark unterscheidet, die auf Anwendung übertriebener Dynamik oder starker rhythmischer Veränderungen verzichten kann. Wie auch Gieseking im Vorwort schreibt, ist das Sichselbstzuhören einer der wichtigsten Faktoren beim gesamten Musikstudium. Man darf allerdings nicht hoffen, diese Fähigkeit von heute auf morgen zu erwerben. Die Fähigkeit, das eigene Spiel kritisch zu hören und den eigenen Anschlag immerwährend unter Kontrolle zu halten, muß systematisch mit äußerster Konzentration entwickelt werden, da diese Gehörausbildung Vorbedingung für schnellen Fortschritt ist.
Durch scheinbar pedantisches „Feilen“ an Stellen, die von vielen Lehrern kaum beachtet werden, ist eine überraschende Vervollkommnung der Ausführung einer Komposition zu erreichen, die oft erst den wahren Charakter eines Musikstückes erkennen läßt. Bei dieser Art des Selbstzuhörens erkennt der Schüler schnell die immerwährenden Verbesserungsmöglichkeiten, die auszunutzen ihm stets interessant bleiben und ihn auch bei längerem Studium desselben Stückes nicht langweilen wird. Die Aufgabe des Lehrers ist es, unermüdlich darauf hinzuweisen, daß nichts überhört wird. Ich werde auf diese Trainierung des Ohres später zurückkommen und dieselbe an Beispielen demonstrieren.
Trainierung des Gedächtnisses
Eine unerläßliche Voraussetzung für diese Schulung des Ohres ist genaueste Kenntnis des Notenbildes. Es ist daher notwendig, daß wir vor Beginn des Studiums eines Stückes das Notenmaterial vollkommen beherrschen, und dies ist nach meiner Meinung nur dann zu erreichen, wenn wir das Notenbild vollständig im Kopf haben, d. i. das betreffende Stück tadellos auswendig können. Um dies auf schnelle Weise zu erreichen, bedarf es wiederum eines speziellen Trainierens des Gedächtnisses. Ich benutze dazu die Reflexion (systematisch-logisches Nachdenken), und zwar in sehr ausgiebiger Weise. Es ist merkwürdig, daß die Reflexion durchweg nicht richtig und voll ausgenutzt wird und daß sie für alle Schüler, die bis jetzt zu mir kamen, etwas völlig Neues bedeutete; dabei hatte ich sehr intelligente und hochbegabte Schüler, die bei bekannten Musikpädagogen unterrichtet worden waren. Eine praktische Art, das Gedächnis durch Reflexion zu trainieren, werde ich ebenfalls später an Beispielen erläutern, möchte aber jetzt schon darauf hinweisen, daß Gieseking, der unter allen Pianisten vermutlich das größte Repertoire hat und besonders auch die kompliziertesten modernen Kompositionen auswendig beherrscht, alle schwierigen Werke nicht spielend (am Klavier), sondern ausschließlich lesend (also durch Reflexion) seinem von allen Musikern als phänomenal bezeichneten Gedächtnis einprägt.
Bei weiterer Vervollkommnung dieses Verfahrens ist man sogar in der Lage, auch die technische Ausführung durch Reflexion so vorzubereiten, daß ein Stück ohne jede Übung am Instrument auswendig einwandfrei vorgetragen werden kann, und zwar in verblüffend kurzer Zeit. Dies wird von vielen für unmöglich gehalten, wird aber tatsächlich nicht nur von Gieseking und einigen wenigen in ähnlicher Weise begabten und arbeitenden Pianisten ausgeführt, sondern auch von verschiedenen intelligenten Schülern meiner Meisterklasse mit erstaunlichen Resultaten angewendet. Voraussetzung für dieses Einprägen einer neuen Komposition ist neben einem guten Gedächtnis eine längere Trainierung.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerke ich, daß ich nicht jedes Stück auswendig studieren lasse, sondern ich verlange das nur von Kompositionen, die für den Konzertsaal vorbereitet werden, und von Etüden, die besonders instruktiv sind, vor allem von Bachschen Werken. Bei Musiklehrern, die möglichst große Literaturkenntnis haben müssen, ist das Auswendigspielen nicht immer durchzuführen, aber ohne Unterbrechung sollte das Gedächtnis durch die Erlernung kleiner Abschnitte trainiert werden. Von Anfängern, selbst von Kindern, ist es ratsam, zu jeder Stunde die sichere auswendige Beherrschung, wenn auch nur von ein, zwei Takten, zu verlangen. Diese Trainierung wird gute Früchte tragen! Natürlich sind auch ohne Auswendigspielen Resultate zu erzielen, doch glaube ich, daß sie denjenigen, die durch die besprochene Kopfarbeit gewonnen werden, lange nicht gleichkommen.
Entspannung der Muskeln
Um auf eine möglichst natürliche, also am wenigsten anstrengende Art Klavier zu spielen, ist es in erster Linie wichtig, die Fähigkeit zu erlernen, die Muskeln jederzeit bewußt anspannen zu können und (noch wichtiger!) bewußt erschlaffen zu lassen. Der Weg, den ich hierbei einschlage, ist wiederum von dem vieler Pädagogen verschieden. Ich versuche, das Gefühl für die Relaxation (Entspannung der Muskeln) von innen heraus zu erreichen (während dieses Ziel im allgemeinen durch die äußeren Bewegungen angestrebt wird), da ich alle überflüssigen Bewegungen für schädlich halte und danach strebe, die Tätigkeit des Klavierspielens mit dem kleinstmöglichen Aufwand an Muskelarbeit ausführen zu lassen.
Zunächst muß der Schüler die Erschlaffung (Relaxation) der Armmuskeln, wie sie beim gewöhnlichen Gehen unwillkürlich eintritt, bewußt empfinden lernen. Ich hebe zu diesem Zweck den ausgestreckten Arm des Schülers bis Schulterhöhe, ohne daß dabei die Muskeln benutzt werden; darauf ziehe ich die Handstütze weg, und der Arm muß wie tot herunterfallen. Durch solche Übungen kann das Gefühl der Muskelerschlaffung erworben werden.
Körperhaltung
Die Hand hat beim Gehen normalerweise eine leichte Krümmung, die niemals ermüdend auf die Muskeln wirkt, während das Ausstrecken oder...