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E-Book

Monsieur, der Hummer und ich

Geschichten vom Kochen

AutorStevan Paul
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644463912
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
«So hatte ich den Küchenchef noch nie gesehen. Seltsam verändert. Blass sah er aus. Um Jahre gealtert. Er musste Schreckliches erlebt haben. Da draußen. Hinter der Schwingtür.» Wie fühlt es sich an, für Deutschlands prominentesten Restaurantkritiker zu kochen und dabei grandios zu scheitern? Wie schmeckt Kartoffelsalat aus der Fritteuse? Und warum können die Deutschen nicht grillen? Von verzweifelten Köchen, unberechenbaren Lebensmitteln, Kellnern mit Schwimmflügeln, dem Hummerflüsterer und dem Siegeszug der gesamtdeutschen Bratwurstpalme erzählt dieses appetitanregende Buch. «Das ist lecker, Nachschlag erwünscht!» (Hamburger Abendblatt) «Unter den schreibenden Köchen ist er ein Poet, ein Tänzer.» (Stuttgarter Nachrichten)

Stevan Paul, gelernter Koch und Foodautor, schreibt kulinarische Texte, Kolumnen und Reisereportagen für Zeitschriften, Magazine und Tageszeitungen, u.a. regelmäßige Kolumnen für die Magazine Effilee, Lufthansa exclusive, Apéro und Mixology.

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Leseprobe

Ich bin der Fischmensch


Alles muss an seinem Platz stehen, wenn die Gäste kommen, und das ist viel Arbeit. Das Restaurant hat über vierzig Sitzplätze. Oft werden Tische doppelt belegt, die ersten Gäste kommen um acht, die zweite Runde geht dann ab zehn Uhr über die Bühne. Nachts um eins, halb zwei ist meistens Feierabend, und dann haben meine zehn Kollegen und ich ungefähr sechzig Gäste satt gemacht. Jeder hat seine Aufgabe, seinen Platz, seine Verantwortung. Wir haben Köche für die Vorspeisen, Köche für Gemüse und Beilagen, einer brät das Fleisch, ein anderer bringt die Saucen, zwei arbeiten in der Patisserie. Ich bin Poissonnier. Ich bin der Fischmensch. Wenn draußen im Restaurant jemand Fisch bestellt, dann ist es meine Aufgabe, ihn zuzubereiten. Ich brate zarte Bachforellenfilets in schaumiger Butter, gare Steinbutt langsam in würziger Fischbouillon, packe ganze Zander in Salzkruste, rolle Seezungenfilets zu Seezungenröllchen, töte Hummer, breche scharfkantige Austern auf, schwarze Muscheln öffnen sich lautlos im kochenden Weinsud. Ich nicke dem Saucenmenschen zu und dem Gemüsemenschen, sie nicken stumm zurück und wissen, was zu tun ist. Vorne brüllt der Küchenchef Tischnummern über das Topfgeklapper, wir geben ihm, was er braucht, und er fügt alles zusammen, dann verschwindet das Gesamtkunstwerk in den Gastraum, und eine neue Tischnummer hat Hunger.

Alles muss an seinem Platz stehen, wenn die Gäste kommen, und mein Arbeitstag beginnt schon am frühen Morgen. Aus aller Welt werden große Styroporboxen mit ganzen Fischen auf Eis angeliefert. Silberglänzende Lachse aus Norwegen, regenbogenbunte Mahi-Mahi-Fische aus der Karibik, rostfarbene Rotbarben, lebende Aale aus Schleswig-Holstein, manchmal ein ganzer Hai. Ich stehe den ganzen Tag hinter den Styroporboxenbergen, schuppe, zerlege, filetiere die Fische, schneide ihnen mit scharfen Messern die Bäuche auf, die braungelben Innereien ergießen sich auf mein Arbeitsbrett. In großen Fischen finde ich manchmal kleine Fische oder Krebse, noch unverdaut liegen sie in der stinkenden Magenflüssigkeit. Die Aale sterben nebenbei in einer Plastikwanne mit Salz. Das Salz reibt ihnen den schützenden Schleim von den Körpern, dringt in die schwarzen Schlangen ein, brennt, trocknet die Aale aus, zieht Wasser, Schleim und Leben aus den Fischen, die Bewegungen in der Kiste werden langsamer, irgendwann ist Ruhe. Abends, wenn die Gäste kommen, sind die Styroporboxen verschwunden, das Eis geschmolzen, die Tiere liegen sauber portioniert, ausgenommen, in Filets und Medaillons geschnitten auf frischem Eis in meinem Kühlschrank und warten auf gebrüllte Tischnummern. Das Leben und der ganze Schleim sind im Ausguss verschwunden. Die weißen Kacheln strahlen, die stählernen Waschbecken und Arbeitsflächen schimmern in matter Sauberkeit. In meinen Haaren funkeln silberne Fischschuppen, meine Hände sind rau und gerötet und riechen nach Zitronensaft. Mein linker Daumen brennt.

 

Ich hatte vor zwei Tagen einen Unfall. Dabei verlor ich meine linke Daumenkuppe und einen Großteil des Daumennagels. Mit einem großen Schlagmesser habe ich einen Hummer halbiert, habe das Messer senkrecht in den Hummerkopf gestoßen, bin abgerutscht an Hirn und Panzer und habe Daumenkuppe und Daumennagel abgetrennt von mir. Ich bin nicht ins Krankenhaus gefahren, ich werde hier gebraucht, ich bin der Fischmensch, ich habe hier eine Verantwortung. Als ich vom Verbandskasten zurückkam, war die Daumenkuppe verschwunden. Seit zwei Tagen suche ich meine Daumenkuppe. Ich könnte sie auf frisches Eis legen und nach der Arbeit mit ihr zur Notaufnahme fahren und fragen, ob man sie mir wieder annähen kann. Ich kann sie aber nicht finden. Der übrige Daumen ist mit Pflastern umhüllt, aber das nützt nicht viel. Die Pflaster sogen sich am ersten Tag im Minutentakt mit Blut voll und fielen ab. Am zweiten Tag blutete es nicht mehr so sehr, die Pflaster lösten sich aber immer wieder, im salzigen Eisbad, im trüben Spülwasser, im beißenden Fischschleim. Heute brennt die Wunde sehr stark. Wenn ich in die geöffneten Fischleiber greife, muss ich die Zähne zusammenbeißen, Tränen schießen mir in die Augen. Die Wunde brennt auch unter dem kalten, klaren Leitungswasser, das ich immer wieder über die rosafarbene Stelle fließen lasse. Es bildet sich kein Schorf, es ist ja immer nass, aber das ist sicher ein Vorteil. Wenn ich die Daumenkuppe endlich finde, wächst sie bestimmt wieder mit dem feuchten Gewebe zusammen. Seit gestern reden die Kollegen nicht mehr mit mir. Immer wieder habe ich meine Kollegen gebeten, mir bei der Suche nach meiner Fingerkuppe behilflich zu sein, jetzt reden sie nicht mehr mit mir, sind genervt, ich störe den Ablauf, ich jammere zu viel, ich verstehe das schon. Aber es geht mir wirklich nicht gut. Mir ist heiß. Ich bin so müde. Zweimal schon habe ich mich heute in das große Kühlhaus gelegt und kurz die Augen geschlossen. Im Kühlhaus ist es auszuhalten. Meine Kollegen stört es nicht, wenn ich mich im Kühlhaus hinlege. Ich liege mit dem Kopf auf einem kalten Kissen aus Kopfsalaten und betrachte meinen linken Unterarm. Ich bin nicht tätowiert, weil ich glaube, dass es sehr aufregend sein wird, in zwanzig Jahren nackt über einen Strand zu laufen und die jungen Leute rufen zu hören: «Guck mal da, der Alte, der ist nicht tätowiert, sieht toll aus, oder?» An meinem Unterarm wächst irgendwas, ein schwarzer Strich, ein Tribal, wächst und wächst, immer an den Adern entlang Richtung Armbeuge.

Durch die schwere Stahltür des Kühlhauses dringt nur leise die Stimme meines Chefs zu mir, ich springe auf, gehe hinaus, kehre zurück in den Lärm und die Hitze und höre gerade noch die Bestellung für Tisch fünf. «Der ganze Steinbutt im Sud für Tisch fünf kann.» Ich bin der Fischmensch und komme gerade noch rechtzeitig. Ich bin froh, wo doch die Kollegen sowieso schon nicht gut auf mich zu sprechen sind, dass ich wenigstens zur rechten Zeit an meinem Posten stehe. Der Steinbutt ist groß, wiegt ein gutes Kilo, das ist ein ganzer Steinbutt für zwei Personen. Ich überprüfe noch mal, ob ich die roten Kiemen rückstandsfrei entfernt habe, auf dem Herd kocht die klare Fischbouillon. Der Steinbutt beobachtet mich mit seinen winzigen, schwarzgelben Augen, die eng nebeneinanderliegen. Er folgt meinen Bewegungen, sieht zu, wie ich die schwere Kasserolle aus dem Metallregal ziehe. Die Kasserolle habe ich mit Butter ausgestrichen, da lege ich den Fisch hinein.

«Mir ist kalt», sagt der Steinbutt.

«Das kommt vom Eis», erkläre ich, «gleich wird dir warm.» Ich übergieße den Steinbutt mit dem kochenden Sud und schiebe die Kasserolle in den Ofen. Der Butt brüllt, ich kann es durch die geschlossene Ofenklappe hören. Ich halte mir die Ohren zu, gleich wird er ruhig sein. «Tisch fünf in zwölf Minuten», rufe ich dem Küchenchef zu.

 

Meine Mutter steht neben mir, greift nach meinem linken Arm. «Das ist keine Tätowierung», sage ich. Meine Mutter lebt in der ständigen Sorge, ich könnte mich tätowieren lassen, dabei habe ich ihr vom geplanten Strandspaziergang in zwanzig Jahren erzählt. Sie glaubt mir nicht; ich sei ein Berufsjugendlicher, und einen Ohrring trüge ich ja schon. Da sei es nur ein kurzer Weg bis zur Tätowierung. Mutter nervt mit ihrem Unglauben an meine Vernunft, nervig auch, dass sie jetzt hier in der Küche herumsteht. Es ist wichtig, ihr zu sagen, dass der Streifen auf meinem Unterarm keine Tätowierung ist. Sie regt sich immer so schnell auf. «Das ist wirklich keine Tätowierung», sage ich noch einmal. Meine Mutter hat Tränen in den Augen.

«Du musst doch ins Krankenhaus, Junge.»

Es ist mir sehr peinlich vor meinen Kollegen, meine weinende Mutter in der Küche. «Das geht schon, ich bin der Fischmensch, ich werde hier gebraucht, außerdem habe ich meine Daumenkuppe noch nicht gefunden.» Meine Mutter weint und weint, das hier ist nichts für sie, die ganze Hitze und der Stress. Ich bringe sie ins Kühlhaus, dort wird es ihr besser gehen.

Alle Tische hungern plötzlich gleichzeitig, und ich habe viel zu tun. Es ist Freitag, da essen alle Fisch. Durch die Ritzen der hölzernen Schwingtür zum Restaurant leuchtet es rot, der Gastraum scheint zu glühen, und wenn die Schwingtür sich öffnet, kann ich hineinsehen. Der Service hat sich heute etwas Besonderes einfallen lassen. Alle Tische sind mit roten Grablichtern geschmückt, es gibt keine Stühle heute, die Gäste stehen dicht gedrängt, es müssen Hunderte sein, sie stehen da und schauen mich an, mit ernsten Gesichtern. Hoffentlich reicht der Fisch, denke ich. Ich bin der Fischmensch, ich bin auch verantwortlich für den Einkauf. Es darf nichts ausgehen, es darf aber auch nichts verderben. Das ist schwierig. Ich schwitze, ich bin müde, ich muss sehr viele Fische braten, es sind Hunderte da draußen. Ich bin für sie alle verantwortlich.

Musik. Musik schleicht sich in den Bratfettnebel. Es ist eine Orgel, sie steht im Kühlhaus, die Melodie ist sepiafarben. Sie erinnert mich an die Gottesdienste, die ich als Kind besuchen musste. Die Musik legt sich wie ein schwerer, nasser Mantel auf mich, drückt mir auf die Schultern, ich bin so müde. Ich lasse die Pfannen los, die Fische krümmen sich in der Hitze, schrumpfen, verbrennen im heißen Öl, schwarzer Rauch wirbelt in Spiralen hinauf und verschwindet in der Dunstabzugshaube. Ich öffne die Tür zum Kühlhaus, drehe mich noch einmal um, sage dem Küchenchef: «Es geht nicht mehr.» Ich gehe hinein und schließe die Tür hinter mir. Es ist dunkel und kalt, eine alte Nonne trägt in ihren Händen ein Licht, das rötlich flackernd die Gemüseregale erhellt. Die Nonne erinnert mich an meine Mutter, sie hat die Augen meiner Mutter, die Nase und die geschwungenen Lippen meiner...

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