1. »Wo ich bin, ist Freiheit!«
Leben und Werk einer
weltberühmten Pädagogin
Dass sie eine der bedeutendsten Pädagoginnen des 20. Jahrhunderts werden würde, war Maria Montessori keineswegs in die Wiege gelegt. Bereits ihr Weg zum Medizinstudium und zur Promotion war damals für eine Frau alles andere als selbstverständlich. Und später sind es dann immer wieder wegweisende Erfahrungen, die allmählich Montessoris pädagogische Konzeption formen. Diesen Weg zeichnet dieses erste Kapitel nach – bis zur weltweiten Verbreitung der Montessori-Pädagogik.
Maria Montessori (1870–1952) zählt bis heute zu den berühmtesten Persönlichkeiten in der Geschichte der Pädagogik. Kinderhäuser und Schulen, die ihren Namen tragen und nach ihrem Konzept arbeiten, sind weltweit etabliert. Sie stehen für ein Bildungssystem, das den Bedürfnissen des Kindes gerecht werden will und diese konsequent in den Mittelpunkt ihrer pädagogischen Bemühungen stellt. Doch wer war diese Frau? Wie ist sie aufgewachsen? Wodurch ist es ihr gelungen, ein so weltweit anerkanntes pädagogisches Konzept zu entwickeln? Was hat sie in ihrem Leben angetrieben, für die internationale Verbreitung ihres pädagogischen Ansatzes zu wirken?
Maria Montessori kommt am 31. 8. 1870 in Chiaravalle, einer kleinen Stadt in der italienischen Provinz Ancona, als einziges Kind von Renilde, geborene Stoppani (1840–1912), und Alessandro Montessori (1832–1915) zur Welt.
Berufsbedingt muss die Familie zweimal umziehen, als Maria Montessori noch sehr jung war – zunächst 1873 von Chiaravalle nach Florenz und zwei Jahre später nach Rom.
Die Eltern streben an, ihrem einzigen Kind eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Doch die Vorstellungen, wie dies zu realisieren sei, decken sich nicht unbedingt mit den strukturellen Gegebenheiten: Die italienische Grundschule an der Via di San Nicola da Tolentino ist zur Zeit der Einschulung Maria Montessoris noch restriktiv-autoritären Erziehungsmustern verpflichtet. Heute bezeichnet man die Schulen jener Zeit als Pauk- und Drillschulen. Die dort vorherrschende Art des Unterrichts widerstrebt Renilde Montessori, da sie liberale Erziehungsvorstellungen pflegt. Sie wünscht sich für ihre Tochter eine Erziehung, die Bildung nicht mehr als eine Männerdomäne versteht. Diese Idee entspricht dem modernen Geist der Zeit. Die Rolle der Frau in der Gesellschaft befindet sich im Umbruch.
Aus der Kindheit der später großen Pädagogin ist vergleichsweise wenig bekannt. Maria Montessori ist bis zu ihrem zehnten Lebensjahr eine eher schlechte Schülerin, die sich den schulischen Verhältnissen nicht anpassen will, vielleicht auch nicht kann, und es vorzieht, ihre Arbeit zu Hause zu erledigen.
Maria Montessori 1880 im Alter von 10 Jahren
Es lässt sich vermuten: Montessoris spätere Kritik an Unterrichtsmethoden ist biographisch begründet und durch die Karriere ihrer Mutter beeinflusst. Montessori will etwas verändern an einem Bildungssystem, das starr und unbeweglich ist, autoritär und rigide. Mit anderen Worten: Sie hat die Vision einer Pädagogik entwickelt, die das einzelne Kind mit seinen Fähigkeiten ernst nimmt und entsprechend fördert.
1.1 Montessoris Ausbildungsjahre
Von 1883 bis 1896 besucht Maria Montessori die ›Regia Scuola Tecnica Michelangelo Buonarotti‹ sowie bis 1890 das ›Regio Istituto Tecnico Leonardo da Vinci‹. Sie genießt durch den Besuch beider Schulen sowohl eine naturwissenschaftlich-technische als auch eine literatur- und sprachwissenschaftliche Ausbildung.
Montessori pflegt ihre Neigung zur Mathematik und möchte zunächst Ingenieurin werden. Doch das Interesse an medizinischen Themen ist so groß, dass sie sich den Weg in diese Wissenschaftsgebiete nicht verwehren möchte. Sie entscheidet sich, nicht nur einen intellektuell anspruchsvollen Weg einzuschlagen, sondern zeigt auch Mut und Reformgeist, der besonders seitens ihrer Mutter unermüdlich unterstützt wird. Um die Wende zum 20. Jahrhundert sind wissenschaftlich interessierten Frauen allenfalls die Berufe der Lehrerin oder Erzieherin vorbehalten. Trotz aller Hürden schreibt Montessori sich 1890 an der Universität in Rom für die Bereiche Mathematik, Physik und Naturwissenschaften ein und erhält 1892 ihr ›Diploma di licenza‹, das für das Medizinstudium die Vorbedingung war. Im Studium ist Montessori in ihrem Fachbereich die einzige Studentin. Dieser Umstand zieht nach sich, dass sie sich als Frau zwischen den anderen Studenten behaupten, gegen Vorurteile angehen und durch besondere Leistungen überzeugen muss. Scheinbar ganz nebenbei engagiert sie sich für Kinder mit schulischen Problemen, indem sie ihnen Nachhilfestunden erteilt. Darüber hinaus arbeitet sie aktiv in der auflebenden Frauenbewegung des patriarchalischen Italiens.
Am 10. Juli 1896 schließt Montessori ihr 1892 aufgenommenes Medizinstudium an der Universität in Rom mit einer Promotion ab. Sie hat sich in den beiden Jahren vor dem Examen auf Kinderheilkunde spezialisiert und wird Expertin für Kleinkinderkrankheiten. Ihre Dissertation liefert einen klinischen Beitrag zum Verfolgungswahn. Als erste Italienerin erlangt sie, mit einer neuropathologischen Arbeit, den Doktortitel in Medizin und Chirurgie an der Universität Rom.
Montessoris Promotionsurkunde
Später berichtet sie, der Papst habe sie in ihrem Drang zu studieren und ihren Ideen zu folgen unterstützt. Sie habe ihm vieles zu verdanken, nicht zuletzt, dass sie nun den Titel Dottoressa tragen dürfe. Ihre erworbene Qualifikation, ihr wissenschaftliches Profil ermöglicht der jungen Ärztin, sich an der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom um eine Assistentenstelle zu bewerben. Theoretisch hat sie aufgrund ihrer Ausbildung gute Chancen, in den engen Kreis der Bewerber zu gelangen. Doch Montessori weiß, dass sie als Frau in einer solchen Position wenige Chancen hat. Einfallsreich, mutig und in der ihr eigenen aufmüpfigen Art wendet sie sich in ihrem Bewerbungsschreiben an die zuständige Kommission. Sie stellt sich allerdings nicht mit ihrem Namen vor, sondern verfasst die Bewerbung unter einem männlichen Pseudonym. Die Kommission hat sich wahrscheinlich bei einem persönlichen Kennenlernen gewundert, doch: Die Zeichen der Zeit sind auf ihrer Seite. Sie bekommt die Stelle und es gelingt ihr, sich in der Kinderabteilung als Assistenzärztin zu etablieren. Sie gilt schnell als Expertin für Kinderkrankheiten. Ihre Studien erweitert sie durch die Arbeit mit geistig behinderten Kindern. Nach und nach entwickelt sie ausgehend von diesen Themen ein pädagogisches Interesse.
1.2 Von der Medizin zur Heilpädagogik
Montessori widmet sich in ihren Forschungen immer stärker der geistigen Entwicklung des Kindes, wobei sie nicht nur das organisch kranke Kind beachtet, sondern sich auch auf psychische Auffälligkeiten und deren Entstehung konzentriert.
Hauptamtlich tätig als Assistenzärztin am Krankenhaus San Giovanni, eröffnet Maria Montessori zusätzlich eine eigene Praxis für Kinderheilkunde. Sie lebt für ihr Forschungsgebiet und ist von beruflichem Ehrgeiz getrieben. 1897 übernimmt sie eine Assistentur an der Psychiatrischen Klinik der Universität Rom. Ein viel zitiertes Schlüsselerlebnis ist eine Beobachtung, die Montessoris weiteres Berufsleben prägt. Zu ihrem Berufsprofil gehört es, römische ›Irrenanstalten‹ zu besuchen, um potentielle Patienten für eine Behandlung in der Klinik zu finden. Die Kinder dort fristen ein unwürdiges Dasein. Wie Gefangene gehalten müssen sie in einem kahlen Raum ohne Anregung quasi ihre Lebenszeit absitzen. Montessori ist erschüttert über diese Beobachtungen und schaut genau hin, was die Kinder – die als schwachsinnig bezeichnet werden – den Tag über tun. Nach dem Essen werfen sie sich auf den Boden, greifen nach heruntergefallenen Essensresten, werfen mit Brot, spielen mit Brotkügelchen, die sie formen. Montessori erkennt, dass diese Kinder nicht nach dem Essen gieren, sondern ihrer Sehnsucht nach Erfahrungen, nach Spielen nachgehen. Ihre Umgebung bietet ihnen dazu nichts, aber sie schaffen sich kleine Hoffnungen im Spiel mit heruntergefallenem Brot. Sie fängt an zu fragen, ob diese Kinder sich nicht in einer anderen Umgebung besser entwickeln könnten.
Sie beschäftigt sich fortan intensiv mit den medizinisch-heilpädagogischen Schriften der beiden französischen Ärzte Jean Marc Gaspard Itard (1774–1838) sowie dessen Schüler Éduard Séguin (1812–1880) und findet hier viele Anregungen für ihre spätere pädagogische Arbeit (vgl. Kap. 9).
Ab 1900 arbeitet Montessori zudem in dem medizinisch-pädagogischen Institut zur Ausbildung von Lehrern für die Erziehung geistig behinderter Kinder (Scuola Magistrale Ortofrenica), für dessen Gründung sie sich stark gemacht hatte. Im ersten Ausbildungsjahrgang gehören der Schule 64 Schülerinnen und Schüler an. Es gibt drei Klassen. Den Kern des Lehrplans bilden wissenschaftliche Disziplinen wie allgemeine Psychologie, Physiologie und Anatomie und vor allem Beobachtungskriterien zur Diagnostik von geistigen Behinderungen bei Kindern. Diesen Fächern angeschlossen wird die Lehre von ›besonderen Unterrichtsmethoden‹. Ziel ist es, Methoden eines Sonderunterrichts und Fördermöglichkeiten für Kinder mit besonderen Bedürfnissen zu vermitteln. Die Scuola Magistrale Ortofrenica ist in der damaligen Zeit eine Ausnahme.
Maria Montessori 1913
Aus der engen beruflichen Zusammenarbeit mit ihrem...