1. KAPITEL
DIE ERSTEN
MOTORBOOTSFAHRTEN
Die 300 Einwohner der Kolonie Holstensborg waren in heller Aufregung; zwischen den bunten Holzhäuschen, die wie Spielzeug über die kahlen runden Gneisklippen verstreut lagen, wimmelte es wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Das schönste und größte Schiff des Königlich Grönländischen Handels, die »Disko«, lag gerade vor der Kolonie und schickte sich an, den Jahresbedarf der Ansiedlung an Kohlen, Lebensmitteln u.a. in die bereitstehenden Leichter auszulanden. Aber zuvor musste das Motorboot zu Wasser gebracht werden, das auf Deck stand und die Luke versperrte. Unser Motorboot! Die »Krabbe«! Wie oft hatte ich sie mit meinen drei Kameraden auf der langen Fahrt über den Ozean voller Erwartungen betrachtet. Sie sollte ein halbes Jahr unser Heim sein. Nun begann unser Abenteuer, die »Krabbe« sollte ins Wasser!
Das Boot war neu gebaut, 30 Fuß lang, aber schmaler, als die in Grönland üblichen Motorboote dieser Länge zu sein pflegen, sodass es mit seinem 8-PS-Glühkopf-Motor fast sechs Knoten lief. Es wog seine acht Tonnen; die Ladebäume der »Disko« knarrten und ächzten, als die Winde anzog und das Boot sich langsam aus seiner Holzunterlage erhob.
Da beginnt plötzlich das schwere Boot über das Deck fortzuscheren und endet mit einem Krach, der mir Stechen in der Herzgegend verursacht, an der Winde. Eine Planke ist zerschmettert, ein klaffendes Leck ist gerade unter der Wasserlinie entstanden!
Der Offizier, der die Arbeit leitet, hat einen roten Kopf bekommen. »Die verdammte Schlagseite ist schuld daran, da kann kein Mensch berechnen, wo so ein Satan hingeht!«
Er hatte wohl recht, auch ich hatte diese Bewegung nicht vorausgesehen. Na, meine Expedition fing ja gut an! Das Boot leck, noch ehe es im Wasser war!
Aber schließlich – gerade bei den schönsten Expeditionen ist zuerst immer alles schief gegangen, also Kopf hoch! Zimmermann, hier gibt es Arbeit! Und nach zwei Stunden war das beschädigte Holz herausgestemmt, ein neues Stück eingesetzt, alles mit Bleiweiß gedichtet, eine Bleiplatte darübergenagelt und das Boot zu Wasser gebracht. Eine Narbe und ein Pflaster hatte ja nun unsere »Krabbe«. Aber uns hatte das Leben ja auch schon einige Narben beigebracht, und so passten wir wohl noch besser zusammen!
Das faule Leben, das wir auf der »Disko« geführt hatten, war nun zu Ende, Gott sei Dank! Am Land lagen schon die Petroleumtonnen, die wir in die beiden Tanke überfüllen sollten, die Proviantkisten, die durch die enge Luke in den Vorderraum hinabzuzwängen waren, eine Menge Kisten, die ausgepackt und deren Inhalt in die Kojen, in den Küchenschrank, in die Kleiderfächer wandern sollte. Und dann sollte die Dunkelkammer eingerichtet, der Süßwassertank gefüllt, und das Boot aufgetakelt werden. Das war kein geringes Arbeitsprogramm für vier Männer der Wissenschaft, die aus ihrer friedlichen Schreibtischarbeit herausgerissen waren und deren Hände noch nicht die Schwielen besaßen, die für ein Hantieren mit 50 kg schweren Kisten wünschenswert sind. Aber wer damals meine Kameraden an der Arbeit gesehen hat, wird bezeugen, dass man Wissenschaftler sein und doch derbe Fäuste haben kann. Wir machten alles selbst. Nur beim Auftakeln und Beschlagen der Segel half uns auf meine Bitte der Leiter der Fischkonserven-Fabrik, Martin Hansen, der Bruder meines verstorbenen Kameraden von der Danmark-Expedition Peter Hansen.
Ich bekam bald die Sorgen des Expeditionsleiters zu spüren. Von Hause aus war dem Boot ein 28 kg schwerer Anker und zwei »Vertäuungsleinen«, jede fingerdick und nur 10 m lang, mitgegeben worden. Schon auf der Fahrt nach Grönland hatte ich mir gesagt, dass wir mit diesem Vertäuungsmaterial auf keinen Fall auskommen könnten, und hatte durch die Freundlichkeit unseres Kapitäns Hansen eine ausrangierte 100 m lange zolldicke Trosse erhalten.
Auf den Anker glaubte ich, mich aber verlassen zu können. Petrus, der Wettermacher, war so freundlich, uns gleich im Hafen von Holstensborg vorzuführen, dass unser Anker für Grönland nicht ausreichte: Am Abend des 23. April brach ein kurzdauernder, aber heftiger Südweststurm los, und die »Krabbe« ging mit ihrem Anker spazieren!
Wir wohnten noch auf der »Disko«, sahen es aber und beeilten uns, hinüberzukommen und die »Krabbe« mit Hilfe von Grönländern und eines anderen Motorboots in den inneren Hafen zu schleppen, wo wir sie mit der Trosse am Land vertäuten.
Nach dieser wirkungsvollen Vorführung sah ich mich nach einem zweiten Anker um und erhielt schließlich durch das Entgegenkommen des Kolonieleiters Rasmussen einen alten, von Fischereimeister Havmöller irgendeinmal gefundenen Anker von gerade passender Größe, 30 kg schwer, als Geschenk der Kolonie. Selten hat sich wohl ein Geschenk so nützlich erwiesen wie dieser Anker. Er hat sicher die Expedition einige Dutzend Male gerettet, so verrostet er auch war.
Nun hatten wir also zwei Anker und eine gute Trosse. Nun konnte es nur noch von uns selbst abhängen, ob wir allen Lagen gewachsen waren.
Ein heikler Punkt war der Motor. Unsere Kenntnis von ihm beschränkte sich im Wesentlichen darauf, dass man bei seiner Bedienung gut tut, einen Maschinistenanzug anzuhaben, und den hatten wir also mitgebracht. Außerdem hatten wir eine sehr kurze schriftliche Gebrauchsanweisung der Fabrik in der Tasche, und Dr. Loewe und ich hatten seinerzeit – wie lange war das jetzt her! – bei einer kleinen Probefahrt im Hafen von Kopenhagen den uns schwer verständlichen mündlichen Erläuterungen eines Monteurs der Fabrik gelauscht. Nun musste sich also zeigen, ob vier Naturforscher imstande waren, das Wesen eines Dan-Motors zu ergründen.
Aber das war etwas für Dr. Georgi. Bei der Verteilung der Chargen in unserem Schiff war ihm nicht durch bloßen Zufall die Rolle des Chefingenieurs zugesprochen worden. Er war zwar weder Ingenieur noch überhaupt Techniker, sondern in seinem Zivilleben Dr. phil., Regierungsrat und Meteorologe an der Deutschen Seewarte in Hamburg – alles Dinge, die wenig helfen, wenn man einen Dan-Motor in Gang setzen soll. Aber daneben verfügte er sozusagen außerdienstlich über Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihn für unsere Unternehmung oft zum rettenden Engel machten. Alles, was Maschine hieß, übte stets auf ihn eine magische Anziehung aus, und er fand sich erstaunlich schnell damit zurecht.
Er stand einige Tage in unseren Maschinistenanzug gekleidet im Maschinenraum auf dem Kopf, wurde schwarz und riss sich die Hände blutig und dann – wahrhaftig! – dann lief der Motor! Wir kamen gerade zurecht damit, um der abfahrenden »Disko« mit wehender Flagge das Ehrengeleit bis aufs Meer hinaus zu geben. Ich muss gestehen, dass ich unseren Motorbootfahrten mit etwas gemischten Gefühlen entgegensah. Daheim hatte man es nicht an erstaunten Fragen und Warnungen fehlen lassen, wenn man hörte, dass der Kapitän dieses Fahrzeugs ein Universitätsprofessor, der Maschinist ein Regierungsrat und die Matrosen ein Dr. phil. und ein Studienrat sein sollten. Wir hätten noch viel mehr zu hören bekommen, wenn die lieben Leute zu Haufe nicht völlige Landratten gewesen wären und eine Ahnung von den wirklichen Schwierigkeiten besessen hätten, die uns »Seeleute« erwarteten.
Schon die Gezeiten!
Man kommt in den Hafen, legt das Boot auf passender Wassertiefe vor Anker und geht mit der Jolle oder dem »Moses«, wie die Seeleute sie nennen, an die Landungsbrücke und macht Besuche. Kommt man zurück, so ist das Wasser anderthalb Meter gefallen, der »Moses« hängt an der Fangleine in der Luft und das Motorboot sitzt auf dem Grund! Freilich passiert das nur dem Anfänger, denn es ist meist nicht schwer, durch einen Blick auf den Tangrand an den Uferklippen festzustellen, ob gerade Hoch- oder Niedrigwasser herrscht, und sich dementsprechend einzurichten.
Schlimmer sind die blinden Schären. Sie geben selbst mitten im Hafen dem Boot Gelegenheit aufzulaufen, wenn man ohne Lotsen fährt. Am sichersten fühlt man sich deshalb immer bei großer Dünung, weil sich dann alle blinden Schären, die gefährlich werden könnten, durch Brandung verraten. Das war die Methode der alten Wikinger, und sie ist noch heute in Grönland die wichtigste, denn Seezeichen gibt es hier natürlich nicht, und die Karte ist überall da, wo es darauf ankommt, verkehrt.
Schließlich das Eis! So schön die Eisberge auch aussehen, so unbequem können sie als Nachbarn im Hafen oder auf der Fahrt werden. Sie kommen und gehen, und man kann froh sein, wenn sie einem nicht noch schnell einen Anker zerdrücken, wie es uns in Umanak geschah, die Trosse zerreißen oder sonst einen Schabernack spielen. Von besonderen Rüpeleien, wenn sie kalben oder sich wälzen, ganz abgesehen.
Wir brauchten noch mehrere Tage, um »klar« zu werden, und genossen unterdessen die herzliche Gastfreundschaft des Kolonieleiters Rasmussen und seiner...