Musik und Kirche
Musik hat in der Kirche einen sehr hohen Stellenwert. Schon Luther beschrieb sie nach der Predigt als das wichtigste Kommunikationsmittel. In ihrer Geschichte hat die Kirchenmusik eine große Entwicklung erlebt, die sich an unterschiedlichen Gesichtspunkten erkennen lassen kann.
Kirchenmusikalische Praxis aus musikwissenschaftlicher Perspektive
Um dem auf die Spur zu kommen, was Kirchenmusik musikalisch ausmacht, ist es notwendig, sie auch in einen historischen und soziologischen Kontext einzuordnen. Dabei steht natürlich an erster Stelle die Frage, ab wann über religiöse Musik in christlich-gemeindlichen Kontexten von Kirchenmusik gesprochen werden kann. Biblisch belegt ist ein solcher Begriff nicht. J.S. Bach forderte allerdings schon 1708 in einem Schreiben an den Rat zu Mühlhausen eine „regulierte Kirchenmusik zu Gottes Ehren“[58] und verlangte darin ein am Kirchenjahr orientiertes Repertoire an gottesdienstlichen Musikstücken. Seit dem 20. Jahrhundert ist der Begriff der Kirchenmusik als Übersetzung der aus dem katholischen Raum stammenden „musica sacra“ ein etablierter Ausdruck, der bereits ein spezifisches Berufsfeld anspricht und entsprechende Ausbildungsgänge und -inhalte bereit hält.[59] Was nun aber Kirchenmusik zu dieser macht, hängt stark von der Akzentuierung des Kirchenverständnisses ab und was mit dem jeweiligen Aspekt assoziiert wird. Kirche als Institution wird das Fach der Kirchenmusik für sich deklarieren, da sie die haupt- und nebenamtlichen Kirchenmusiker beschäftigt und dahingehend beauftragt, wie auch immer geartetes kirchliches Liedgut in (räumlich oder strukturell) kirchlich geprägten Kontexten darzubieten. Die Legitimation der Musik als Kirchenmusik fußt also auf dem Mandat des Darbietenden. Liegt der Schwerpunkt hingegen darauf, Kirche als Ereignis wahrzunehmen, nämlich als die Kommunikation des Evangeliums in jedwedem Kontext, so wird man feststellen müssen, dass die Kirchenmusik weit mehr ist, als die Angebote der Mandatsträger. Man wird somit dort von Kirchenmusik sprechen können, wo „musikalisch Handelnde und Hörende ihre Wahrnehmungen und ihr musikalisches Agieren als Teil der (auch) durch die Institution Kirche tradierte Kommunikation des Evangeliums erfahren.“[60]
Wie bereits einführend in Kapitel A.1 „Funktionen und Wirkungen von Musik“[61] aufgezeigt, ist Musik in der Lage, auf die emotionale Lage eines Menschen Einfluss zu nehmen, ihn z.B. in seiner Traurigkeit zu tragen oder aus eben dieser herauszuheben. Die Wahrnehmung der Musik setzt sich dabei in ihren Grundzügen aus Staunen und Genießen zusammen, was zur Steigerung des Lust- und Glücksempfindens führen kann. [62] Nehmen Menschen Musik, die (implizit) das Evangelium in sich trägt, als gelungenes kreatives – und bestenfalls begeisterndes – Erlebnis wahr und genießen sie also, können sie darin die schöpferische Kraft Gottes erkennen und darüber staunen. Die Annahme, dass sich Kirchenmusik nun dadurch auszeichnet, dass sie eine intrinsische Wirkung mit sich bringt – nämlich die Schöpferkraft Gottes in Form des kommunizierten Evangeliums – und nicht ausschließlich auf die Darbietung durch Haupt- oder Nebenamtliche angewiesen ist, stellt die Frage nach der Sozialisation der Hörenden mit Musik. So zeichnen sich in der geistlichen Musik heute im Großen und Ganzen zwei verschiedene Stoßrichtungen ab, die unter musikwissenschaftlichen Aspekten zu deuten sind.
Auf der einen Seite stehen die Vertreter der traditionellen, etwa seit der Reformation gängigen und an vielen Hochschulen gelehrten „klassischen“ Kirchenmusik, die sich hauptsächlich durch Orgelmusik und scholastischen Chorgesang auszeichnet. Martin Luther gilt hier als eine der einflussreichsten und meistrezipierten Personen, die einen Grundstein für die europäische Kirchenmusik gelegt haben. Er verband säkulare Volkslieder mit geistlichen Texten und ließ die Gemeinde so durch den gemeinsamen Gesang am Gottesdienstgeschehen aktiv teilhaben. Die Verbindung von Wort und Musik war für Luther wichtiger Träger für die Verkündigung, also für die Kommunikation des Evangeliums.[63] Er war der Ansicht, dass das Wort nur auf Verstandesebene bedacht werden kann, aber durch den Gesang affektiv und somit die Verkündigung ganzheitlich wird.[64] In dieser Tradition stand auch J.S. Bach einige Zeit später. Für seine Kantaten verwendete er regelmäßig bekannte Melodien, die er volkstümlichem Liedgut entlehnte und setzte sie mit geistlichem Text neu um. Um die Theologie in seiner Musik zu untermauern, galt für J.S. Bach der Generalbass als vollkommenstes Fundament der Musik, womit er sich auf den Musiktheoretiker Andreas Werckmeister (1645-1706) berief, der die trias harmonica perfecta (Dur- und Moll-Dreiklang) trinitarisch deutete und darin die göttliche Schöpfungsordnung erkannte.[65]
Auf der anderen Seite, oft undifferenziert als „neue geistliche Musik“ zusammengefasste Strömung, finden sich Musiker, die sich (mehr oder weniger) aktueller Musik und Instrumente bedienen und so Rock- und Popmusik aus (afro-) amerikanischen und afrikanischen Traditionen in die Kirchen bringen. In der Rock- und Popmusik stehen der Rhythmus und die damit verbundene Wirkung im Mittelpunkt. Sie knüpft an biologisch vorgegebene Rhythmen an und zielt so auf die Stimulierung rhythmischer Körperbewegungen.[66] Daraus folgt eine ekstatisierende Wirkung auf den Körper, die das Hören zu einer ganzheitlichen Erfahrung erhebt. Harmonisch bedient sich die Rockmusik der klassischen aus dem Blues oder afrikanischen stammenden Mittel.[67] Das Bluesschema bildet dabei nach wie vor einen wichtigen Rahmen. Die melodischen Strukturen bauen dabei häufig auf ein wiederholendes Moment, das in seiner Einfachheit eine potentiell ekstatische Wirkung aufweist.[68] Instrumentell bewegt sich die „neue geistliche Musik“ häufig im elektrisch verstärkten Spektrum, besonders die Gitarre ist kaum mehr wegzudenken. Auf die religiösen Elemente in der Popmusik nun soll im Folgenden eingegangen werden.
Religiöse Elemente in populärer Musik
Rock- und Popmusik stehen im Erbe und in der Tradition (afro-) amerikanischer Musik in Form von Spirituals und Gospels. Aus dieser Perspektive betrachtet wären sie per se religiös, was weitere Ausführungen an dieser Stelle unnötig machen würde. Dennoch ist ein genauerer Blick auf diejenigen Elemente der populären Musik angebracht, die nicht nur in dieser langen Tradition stehen, sondern – immer wieder neu besetzt – religiösen Charakter haben. Annähern möchte ich mich diesen Elementen an drei Typen[69]: 1) Künstler, die ihre eigene Musik als explizit religiös deklarieren, 2) Musikstücke, die sich aufgrund ihrer Beschaffenheit religiös wahrnehmen lassen, obwohl dies nicht primär vom Künstler intendiert war und 3) Situationen (z.B. Konzerte), die durch ihre „Inszenierung“ einen religiösen Charakter bekommen.
Es existieren mittlerweile einige Labels, die sich erklärtermaßen religiösen Künstlern annehmen, ihre Stücke produzieren und sie vermarkten.[70] Die Szene dahinter wächst zusehends und generierte in den USA schon in den 1990er Jahren einen Umsatz von 750 bis 900 Millionen Dollar.[71] Die Genrevielfalt unterscheidet sich dabei in keiner Weise vom säkularen Vorbild, jedoch lassen sich hier zwei große Stilrichtungen gegenüberstellen. Zum einen etablierte sich in der deutschen Kirche eine auf den Stilelementen der Beat- und Jazzmusik basierende Musikrichtung, in der mit jugendkulturellen Mitteln versucht wurde, das Evangelium zu verkündigen. Für diese Stilrichtung entwickelte sich der Begriff der Contemporary Christian Music (CCM, dt.: zeitgenössische christliche Musik) und sie entwickelte sich zu einer großen, doch auch größtenteils abgeschlossenen Szene mit eigenem Konzert- und Medienwesen.[72] Zum anderen entstand im volkskirchlichen Kontext der sog. Sacropop, in dem sich deutsche Songtradition und popmusikalische Stilmittel der 1960er Jahre verbinden. Obwohl der Sacropop seinen Ursprung im Kontext evangelischer Kirchentage findet, wo er potentiell von großen Menschenmengen wahrgenommen wird, wirkt seine Religiosität – im Gegensatz zur CCM – nicht vornehmlich durch eine ekstatische oder meditative Wirkkraft, sondern vielmehr durch explizit religiöse Liedtexte.[73]
Musikstücke, die keinen explizit religiösen Liedtext aufweisen und dennoch religiös verwendet, verstanden oder umgedeutet werden können, gibt es reichlich. Meist lassen sich musikalische Parameter dafür finden, die eine Verwendung in einem gottesdienstlichen Kontext oder zur persönlichen Erbauung ermöglichen. Klang, Melodie und Harmonie sowie die subjektive Wahrnehmung des Hörenden, aber auch ein nicht explizit anti-religiöser Text spielen dabei entscheidend Rollen. Bei anderen Titeln ist es eben dieser „nichtreligiöse“ Text, der zur Vertiefung anregt. Bernd Schwarze behandelt dahingehend eine nicht geringe Auswahl an Titeln detailliert und kommt zu dem Schluss, dass die vielfältigen (religiösen) Aussagen der Rock- und Popmusik die Pluralität der religiösen Lage der Gegenwart widerspiegeln.[74] Als aktuelles Beispiel sei an dieser Stelle auf Adel Tawils „Ist da jemand“ (2017) verwiesen. Augenscheinlich hat dieser Text keine christlich-religiöse Ebene, doch nimmt man den Text unter einem religiösen Gesichtspunkt in den Blick, entdeckt man eine Theologie, die besonders Jugendliche heute sehr anspricht. Sie kennen das Gefühl, nicht zu wissen, wer sie sind. Sie sind auf der Suche nach Halt und Orientierung und nicht zuletzt nach sich selbst. In diese Situation hinein...