Musik und Zeitempfinden – historische, akustische und psychologische Aspekte
Wolfgang Auhagen
Zusammenfassung
Die Theorie der „metrischen“ Interpretation von Tempoangaben mittels Pendel oder Metronom von Willem Retze Talsma (1980), die eine sozusagen flächendeckende Fehldeutung von Tempoangaben aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert postuliert und dies mit einem Wandel des Zeiterlebens infolge der Industrialisierung begründet, wirft eine ganze Reihe von Fragen auf. Diese betreffen beispielsweise die Physikgeschichte (Schwingungsbegriff), die Raumakustik (historische Konzertsäle), die Interpretationsforschung und die Musikpsychologie. Diesen Fragen wird anhand von überlieferten Aufführungsdauern, von raumakustischen Daten historischer Konzertsäle und von Vergleichen historischer und heutiger Aufführungstempi nachgegangen. Im zweiten Teil des Beitrags werden Zeitwahrnehmungstheorien behandelt. Experimentell gewonnene Daten zeigen, dass das mehrfache Hören von (bis dahin) einem Hörer unbekannter Musik, ja selbst das innere Vorstellen von Musik, zu sehr genauen Vorstellungen über das optimale Aufführungstempo führen können. Solchen vergleichsweise eng begrenzten Tempopräferenzen von Hörern und einer hohen beobachtbaren Konstanz in der Wahl von Aufführungstempi bei Interpreten steht eine starke Kontextabhängigkeit des Dauernerlebnisses sowohl im Kurzzeitbereich (Rhythmus), als auch im Langzeitbereich gegenüber. Zudem gibt es akustische Täuschungen in der Wahrnehmung von Rhythmus, die auch mit Wissen um das Prinzip der Täuschung wirksam sind. Dies deutet auf unterschiedliche Verarbeitungsprozesse von zeitlichen Vorgängen im menschlichen Gehirn hin. Ältere Modelle eines inneren Zeitgebers („Uhr“) können die verschiedenen beobachtbaren Phänomene nicht hinreichend erklären. Hingegen scheint der Bezug der Zeitwahrnehmung zur Handlungsplanung und zur Körperwahrnehmung (Interozeption) neueren Untersuchungsergebnissen zufolge stärker zu sein als bislang angenommen.
|8|Abstract
Willem Retze Talsma’s theory of a “metric” interpretation of historical metronome marks (1980) postulates that today’s performances of compositions from the late 18th and early 19th century are wrong: fast movements are performed twice as fast as they were intended, because of a rapid change of time perception in the 19th century as a consequence of industrialization. This theory raises a lot of questions concerning the history of physics (meaning of the term “vibration”), room acoustics (historic concert rooms), performance research, and music psychology. These questions will be dealt with in the first part of the paper on the basis of historic durations of performances, data on old concert rooms, and comparisons of historic and actual performance tempi. The second part of the paper deals with experiments and theories on (musical) time perception. Not only conductors and performers of music can develop precise ideas of performance tempi and keep them in mind but also listeners, even if the music is unfamiliar to them. Contrary to such precise tempo preferences in the performance and perception of music are results of experiments on perception of duration, short term (rhythm) as well as long term, which show strong contextual influences on perception. In addition, there are time specific auditory illusions that work even if one is aware of the illusion’s technical explanation. So, different processes seem to be involved in processing musical time in the human brain. Theories of an internal “clock” cannot explain these phenomena adequately. There seems to be a stronger link to the faculty of bodily perception (interoception) than previously assumed.
1 Einführung
Im Jahre 1980 stellte der Organist Willem Retze Talsma seine Theorie zur Lesart historischer Pendel- und Metronomangaben aus dem späten 18. bis mittleren 19. Jahrhundert vor (Talsma, 1980). Dieser Theorie zufolge werden Metronomangaben heutzutage speziell bei schnellen Sätzen mit Bezeichnungen wie „Allegro“ oder „Presto“ falsch interpretiert: Das Metronom sei ursprünglich – ähnlich wie das einfache Pendel – so abgelesen worden, dass eine Hin- und Herbewegung als ein Schlag gezählt wurde, nicht eine einzelne Bewegung. Die Angabe Halbenote = 120 M. M. bedeute beispielsweise also nicht, dass 120 Halbenoten in einer Minute zu musizieren sind, sondern 60, da sich 60 Hin- und Herbewegungen, also 60 Schläge ergeben. Die heutige Lesart führe dementsprechend zu doppelt so hohen Tempi, als sie ursprünglich intendiert waren. Talsma begründet diese Deutung der Metronom- und Pendelangaben zu musikalischen Tempi damit, dass der alte Tactus der Musik des 16. Jahrhunderts ebenfalls zwei Bewegungen umfasst habe: das Senken und Heben der Hand; ferner sei die Pendelschwingung mit der Saitenschwingung verglichen worden und bei dieser sei immer ein Hin- und Herschwingen als eine Periode gezählt worden. Als Belege für seine Theorie zieht Talsma Musiklehren und Beschreibungen von Pendelvorrichtungen des 17. und 18. Jahrhunderts heran, beispielsweise dieje|9|nige von Louis-Léon Pajot (1735), die der Forschung zwar schon seit langem bekannt sind, die Talsma aber neu interpretiert (Auhagen, 1987). Mit dieser „Wiederentdeckung“ der vermeintlich authentischen Lesart von Metronom- und Pendelangaben zu musikalischen Tempi meinte Talsma, das Problem einer ganzen Reihe von unspielbar schnellen Tempoangaben aus dem frühen 19. Jahrhundert gleich mit lösen zu können. Talsmas Ideen wurden damals in vielen Vorträgen von der Musikwissenschaftlerin Grete Wehmeyer bekannt gemacht (siehe auch Wehmeyer, 1989) und unter anderem auf dem Flandern Festival in Gent im Jahre 1987 in die Praxis umgesetzt, auf dem das Orchester „Sinfonia“ unter Dirk Vermeulen die 1. Symphonie von Ludwig van Beethoven am 30. September gemäß Talsmas Theorie aufführte. Diese Theorie wirft eine ganze Reihe von Fragen auf, die teils musikhistorische, teils akustische, teils musikpsychologische Aspekte betreffen:
Ist es richtig, dass die Metronombewegung, ähnlich wie die Pendelbewegung, als Schwingung aufgefasst wurde und dass bereits im 19. Jahrhundert eine Hin- und Herbewegung als eine Periode aufgefasst wurde?
Gibt es andere Hinweise auf das Tempo von Musikaufführungen im 18. und 19. Jahrhundert, die Talsmas Theorie stützen?
Wie sind „unspielbar“ schnelle Tempoangaben zu erklären?
Welche Aufführungsbedingungen boten Konzertsäle im 18. und 19. Jahrhundert für die Realisierung schneller Tempi?
Änderte sich das Tempoempfinden vom 19. zum 20. Jahrhundert tatsächlich derartig, dass sich eine falsche Lesart von Metronomangaben schneller Sätze ohne Widerspruch durchsetzen konnte?
Es gibt, abgesehen von allgemeinen Äußerungen über zu schnelles Spiel einzelner Interpreten, in zeitgenössischen Quellen keine Debatte über doppelt so schnell gespielte Kompositionen (Auhagen, 1989). Die Fragen (1) bis (3) betreffen also die historischen Quellen zu Tempoangaben, Frage (4) raumakustische Aspekte des Aufführungstempos und Frage (5) psychologische Aspekte des Tempoempfindens. Im Folgenden soll auf diese Fragen näher eingegangen werden.
2 Zur Deutung historischer Pendel- und Metronomangaben
Zu Frage (1): Metronombewegung als Schwingung
Vor dem uns bekannten Metronom, das der niederländische Mechaniker Dietrich Nikolaus Winkel erfand, Johann Nepomuk Mälzel bei einem Besuch kennenlernte und sich 1815 in Paris und London patentieren ließ (Auhagen, 1997), gab es andere Zeitgeber, die keine Ähnlichkeit mit einem Pendel hatten, sondern beispielsweise über ein Räderwerk Hämmer gegen Glöckchen schlagen ließen (Anonym, 1813; Martin, 1988). Bei Mälzels bzw. Winkels Metronom war eine Analogie zum Pendel gegeben. Mälzels einige Jahre nach der Patenterteilung erschienene Erklärung des Metronoms macht eindeutig klar, dass die Zahlen der |10|Skala auf Zählzeiten pro Minute zu beziehen sind, also jede einzelne Bewegung, verbunden mit entsprechenden Klicks, als Zeitmarke zu interpretieren ist:
„Ich nehme die Zahl 80 als Mittelpunkt an, weil in dieser Zahl sich die drey Grundbewegungen vereinigen, je nachdem man entweder eine 8tel Note, eine 4tel oder halbe Note mit derselben bezeichnen will. Achtzig Achtelnoten in einer Minute ist langsam, Achtzig Viertelnoten mässig, und Achtzig halbe Noten geschwind.“...